Anfang 2016 wird Adolf Hitlers Mein Kampf im Rahmen einer wissenschaftlich kommentierten Edition zum ersten Mal seit Kriegsende wieder in Deutschland zu kaufen sein. Die Veröffentlichung bietet Anlass, aufs Neue den furchtbaren Erfolg der 'Bibel der Nazis' zu ergründen. Es ist nämlich keinesfalls klar, warum das politisch wirre, peinlich geifernde und eigentlich nicht ernstzunehmende Machwerk eine solche Wirkung erzielen konnte. Angesichts offensichtlicher inhaltlicher Absurditäten, die auch schon zu Zeiten der Originalveröffentlichung bemerkt wurden, nähert sich Albrecht Koschorke dem Buch mit literaturwissenschaftlichem Instrumentarium. Welche Erzählstrategien hat Hitler benutzt, welche Lesepraxis hat er angeregt? Und was hat es damit auf sich, dass das Buch trotz enormer Verbreitung, kaum gelesen wurde? Der literaturwissenschaftliche Blick enthüllt, dass es Hitler entgegen allem Anschein nicht in erster Linie um die fanatische Verbreitung einer Wahrheit ging, sondern darum, Anhänger wie Gegner zu einer Reaktion zu zwingen.
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Es ist bekannt und unlängst in der kommentierten Ausgabe von "Mein Kampf" penibel nachgewiesen worden, dass sich Adolf Hitler in der Schilderung seines Werdegangs große Freiheiten nahm. Insofern liegt es nahe, das Buch anstatt als Sachbuch voller Lügen und Fehler als Fiktion zu betrachten und zu untersuchen, mit welcher Absicht, welchen Mitteln und welcher Wirkung der Autor ans Werk ging, meint Wolfgang Schneider. In Albrecht Koschorkes Studie "Adolf Hitlers 'Mein Kampf'. Zur Poetik des Nationalsozialismus" findet er hierzu eine äußerst präzise und fruchtbare Analyse. So eröffnet ihm der Konstanzer Literaturwissenschaftler etwa neben der geifernden Propaganda eine zweite Ebene von Hitlers Text, die sich nicht an die Masse, sondern an die Elite richtete und ihr die "Arkana der Machttechnik" vor Augen führte, staunt der Rezensent, für den diese Studie ganz klar eine Forschungslücke schließt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2016Ist das der erste Liminalroman?
Ein Millionenpublikum hat "Mein Kampf" nur auszugsweise gelesen. Albrecht Koschorke wertet das Buch dennoch als "große Erzählung" - und damit als Fall für eine Literaturwissenschaft der politischen Mythen.
Von Jürgen Kaube
Der Untertitel ist missverständlich. Will Albrecht Koschorke doch nicht behaupten, der Nationalsozialismus oder Hitler hätten ästhetische Ziele verfolgt, "Mein Kampf" sei eine Dichtung. Dass alle Politik rhetorische Mittel einsetzt, liegt wiederum wohl zu sehr auf der Hand, als dass es dem Konstanzer Germanisten zur Beschreibung seiner Ansprüche genügte. Denn schon früheren seiner Arbeiten - zuletzt einer über die Geschichtsphilosophie Hegels als "Selbsterzählung" Preußens ("Hegel und wir", Suhrkamp) - lag zugrunde, dass die Literaturwissenschaft einschlägig ist, wenn irgendwo in der Gesellschaft etwas erzählt wird. Schließlich verfügt sie über ein Deutungsbesteck für literarische Formen. Insofern aber praktisch überall etwas erzählt wird und sogar angeblich "Narrative" - Erzählmuster im Unterschied zu einzelnen Geschichten - die Verarbeitung von Wirklichkeit steuern, expandiert die literaturwissenschaftliche Kompetenz ziemlich stark.
Hier folgt nun ihre Erprobung an einem Einzelfall. Er liegt günstiger als bei Hegel. Anders als dessen Vorlesungen war "Mein Kampf" nämlich als ideologischer Text gemeint. Das Buch diente der Rechtfertigung politischer Absichten. Seine Adressaten waren nicht Leute, die denken wollten, sondern Leute, die handeln sollten. "Narrativ" ist nicht mehr als ein freundlicher Ausdruck für das, was früher "Ideologie" hieß. Die Umbenennung versucht, die Analyse von Ideologien vom Gebiet der Sozial- auf das der Geisteswissenschaften zu ziehen.
Dazu passt Koschorkes Prämisse, moderne Diktaturen seien buchgläubig. Das Buch bilde die "symbolische Mitte des totalitären Systems", das "sakrale Zentrum" der Staatspropaganda. Der Autor entnimmt dies der Tatsache vieler schriftstellerisch tätiger Despoten im zwanzigsten Jahrhundert. Die Angewiesenheit moderner Politik auf Massenmedien und Parteiapparate tritt demgegenüber ebenso zurück wie die Unterschiede zwischen Tyrannen, die dichten, solchen, die ihre Politik im Rahmen einer ausgearbeiteten Lehre begründeten, und solchen, die sich einfach nur selbst lobten.
Welche Schrift Stalins beispielsweise eine religiöse Funktion gehabt haben soll, wäre schwierig zu sagen. Auch für den politischen Zeitpunkt der jeweiligen Publikation - in der Opposition, im Gefängnis, im innerparteilichen Streit oder im Vollbesitz der Macht - interessiert sich Koschorke wenig. Und erbringt wirklich ein historisches Zitat, das "Mein Kampf" als die "politische Bibel" der Nationalsozialisten etikettiert, den Nachweis seiner Funktion?
Mit religiösen Attributen ist Koschorke generell nicht sparsam. Er schlägt auch die Sperrigkeit eines Buches, das nach der Machtergreifung über allerlei Verwaltungsakte - Schenkung bei Heirat, Verbot des Sekundärhandels - auflagenstark gemacht wurde, seiner Sakralität zu. Da nur wenige es ganz lasen, sei mit ihm eine Abstufung des Eingeweihtseins einhergegangen. Hitlers abfällige Bemerkungen über die lesefaule Masse konnten dem Leser bestätigen, nicht zu ihr zu gehören.
Aber was soll das sein: ein Arkanbereich mit - bei der Niederschrift noch phantasierten - Millionen von Anwärtern, deren Zugang zu ihm allein davon abhängt, bis zum zweiten Band durchgehalten zu haben? Die bloße Tatsache, dass ein Buch nicht ganz gelesen wird, macht es noch nicht zur Bibel oder zum Mysterium. Vielleicht trägt der Gedanke, alle totalitären Systeme seien geheimbündlerisch organisiert, doch nicht weit, selbst wenn er von Hannah Arendt kommt. Koschorke notiert außerdem, dass gerade unter den NS-Eliten Distanz gegenüber den Auslassungen Hitlers keine Seltenheit war.
Daraus schließt er jedoch nicht, dass Buch und Ideologie zweierlei sind, sondern auf die besondere Pointe des Textes, nicht primär einen Inhalt mitzuteilen, vielmehr vor allem die rücksichtslose Entschlossenheit, alle Gegner durch Gewalt zu beeindrucken. Dass Hitler selbst die Rede für geeigneter als die Schrift hielt, um in diesem Sinne bebend vor Willen zu agitieren, hält Koschorke fest, macht aber zu wenig daraus. Vielleicht, weil die Wirkung des Theaters gar nicht auf der Erzählung beruht und Lektüre mithin kein ausreichender Schlüssel zu "Mein Kampf", geschweige denn zum Nationalsozialismus ist.
Das führt zur These, affekthafte Erzählungen bedürften einer Trägerschicht, um wirksam zu werden. Koschorke spricht von "Triggern", Artikulationshelfern, die im Kontakt zu kollektiven Emotionen einerseits, "zündenden Ideen" andererseits stehen. Dass Ideen in weiten Kreisen zünden, sei dabei erstaunlich, weil es sich oft um rabiate Anschauungen aus sektenhaften Kontexten handele. Als Träger radikaler Ideologien kommen für ihn zwei Gruppen in den Blick, die allerdings beide keine Schichten in irgendeinem soziologischen Sinn bilden: Mitglieder von akademischen Berufen und Bohemiens am Rande bürgerlicher Existenz.
Letzteren schreibt Koschorke eine "liminale Existenzweise" zu, ein Leben in Erregungszuständen nahe dem Wahn, das sie befähige, soziale Explosion auszulösen. Erinnert wird an das intellektuelle Prekariat vor 1789, das am Hass auf die Monarchie arbeitete, an Literaten, die im neunzehnten Jahrhundert den Nationalismus befeuerten, und an Protagonisten postkolonialer Gewaltregime.
Doch die Belege sind spärlich. Dass Akademiker und Leute mit Zugang zu Massenmedien eine Rolle spielen, wenn es um Theorien, Pamphlete und politische Reden geht, ist trivial. Wer schreiben will, muss lesen können. Dafür, dass Drop-outs eine entscheidende Rolle in totalitären Bewegungen spielen, bleibt Koschorke über anekdotische Beispiele und Hitler hinaus den Beweis schuldig. Den Priesterschüler und Journalisten Grégoire Kayibanda "einen der Hauptverantwortlichen für den Völkermord in Ruanda" zu nennen ist angesichts der Tatsache, dass er 1976 starb und der Völkermord 1994 stattfand, ebenso merkwürdig wie die Erwähnung Henri Konan Bédiés, der in der Elfenbeinküste mit dem rassistischen Konzept des "Ivorertums" Politik machte, im Kontext von erregten Skribenten: Bédié war zuvor Diplomat, Finanzminister, Parlamentspräsident.
Oder nehmen wir Stalin, Mao, Pol Pot. Keiner von ihnen war jemals Bohemien im Zustand eines "semantischen Exzesses". Und selbst für Hitler ist zu berücksichtigen, dass zwischen "Mein Kampf" und der Machtergreifung neun Jahre Parteiarbeit lagen. Begriffe wie "Trigger" und "Lunte einer zündenden Idee" suggerieren eine Plötzlichkeit, die es nicht gab.
Koschorke fängt diese Gegenevidenzen insofern ein, als er Hitler und andere Fanatiker als beides beschreibt: als paranoid und rational, hysterisch und reflexiv, überzeugt und opportunistisch, dezidiert und unbestimmt. Teils wird die Irrationalität als persönliches Merkmal behandelt, teils als Moment einer bewusst auf Empörung zielenden Strategie, die nicht zündete, sondern langsam durchdrang.
Das ist, wie viele Kommentare zu Hitlers Gedankenfiguren oder kursorische Bemerkungen zur Zusammensetzung seiner Anhängerschaft, richtig gesehen und auch bekannt. Nur entspringt es hier nicht einer Analyse des Sprachgebrauchs von "Mein Kampf", wie Koschorke versichert. Nur zwei Passagen des Buches werden überhaupt eingehender betrachtet und beide nicht "poetologisch", sondern durchaus zutreffend auf der Ebene ihrer politischen Behauptungen und Absichten. Im Grunde sammelt Koschorke selektiv ein, was die historische Forschung zu seinem Thema sagt. Die Stärken einer literaturwissenschaftlichen Herangehensweise sind so nicht erkennbar.
Na gut, mag man sagen, dann eben ohne "Poetik des Nationalsozialismus", klingt ohnehin gespreizt. Diesseits seines Anspruchs auf originelle Lektüre enthält der kurze Traktat eine Reihe von Diskussionsvorschlägen für eine Wissenssoziologie der Ideologien. Auf breiterer historischer Materialgrundlage und mit mehr Bereitschaft, den Forschungsstand anderer Disziplinen - etwa zu Charisma, Herrschaftstechnik und Organisation - zu berücksichtigen, ließen sie sich prüfen.
Albrecht Koschorke: "Adolf Hitlers ,Mein Kampf'". Zur Poetik des Nationalsozialismus.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2016. 93 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Millionenpublikum hat "Mein Kampf" nur auszugsweise gelesen. Albrecht Koschorke wertet das Buch dennoch als "große Erzählung" - und damit als Fall für eine Literaturwissenschaft der politischen Mythen.
Von Jürgen Kaube
Der Untertitel ist missverständlich. Will Albrecht Koschorke doch nicht behaupten, der Nationalsozialismus oder Hitler hätten ästhetische Ziele verfolgt, "Mein Kampf" sei eine Dichtung. Dass alle Politik rhetorische Mittel einsetzt, liegt wiederum wohl zu sehr auf der Hand, als dass es dem Konstanzer Germanisten zur Beschreibung seiner Ansprüche genügte. Denn schon früheren seiner Arbeiten - zuletzt einer über die Geschichtsphilosophie Hegels als "Selbsterzählung" Preußens ("Hegel und wir", Suhrkamp) - lag zugrunde, dass die Literaturwissenschaft einschlägig ist, wenn irgendwo in der Gesellschaft etwas erzählt wird. Schließlich verfügt sie über ein Deutungsbesteck für literarische Formen. Insofern aber praktisch überall etwas erzählt wird und sogar angeblich "Narrative" - Erzählmuster im Unterschied zu einzelnen Geschichten - die Verarbeitung von Wirklichkeit steuern, expandiert die literaturwissenschaftliche Kompetenz ziemlich stark.
Hier folgt nun ihre Erprobung an einem Einzelfall. Er liegt günstiger als bei Hegel. Anders als dessen Vorlesungen war "Mein Kampf" nämlich als ideologischer Text gemeint. Das Buch diente der Rechtfertigung politischer Absichten. Seine Adressaten waren nicht Leute, die denken wollten, sondern Leute, die handeln sollten. "Narrativ" ist nicht mehr als ein freundlicher Ausdruck für das, was früher "Ideologie" hieß. Die Umbenennung versucht, die Analyse von Ideologien vom Gebiet der Sozial- auf das der Geisteswissenschaften zu ziehen.
Dazu passt Koschorkes Prämisse, moderne Diktaturen seien buchgläubig. Das Buch bilde die "symbolische Mitte des totalitären Systems", das "sakrale Zentrum" der Staatspropaganda. Der Autor entnimmt dies der Tatsache vieler schriftstellerisch tätiger Despoten im zwanzigsten Jahrhundert. Die Angewiesenheit moderner Politik auf Massenmedien und Parteiapparate tritt demgegenüber ebenso zurück wie die Unterschiede zwischen Tyrannen, die dichten, solchen, die ihre Politik im Rahmen einer ausgearbeiteten Lehre begründeten, und solchen, die sich einfach nur selbst lobten.
Welche Schrift Stalins beispielsweise eine religiöse Funktion gehabt haben soll, wäre schwierig zu sagen. Auch für den politischen Zeitpunkt der jeweiligen Publikation - in der Opposition, im Gefängnis, im innerparteilichen Streit oder im Vollbesitz der Macht - interessiert sich Koschorke wenig. Und erbringt wirklich ein historisches Zitat, das "Mein Kampf" als die "politische Bibel" der Nationalsozialisten etikettiert, den Nachweis seiner Funktion?
Mit religiösen Attributen ist Koschorke generell nicht sparsam. Er schlägt auch die Sperrigkeit eines Buches, das nach der Machtergreifung über allerlei Verwaltungsakte - Schenkung bei Heirat, Verbot des Sekundärhandels - auflagenstark gemacht wurde, seiner Sakralität zu. Da nur wenige es ganz lasen, sei mit ihm eine Abstufung des Eingeweihtseins einhergegangen. Hitlers abfällige Bemerkungen über die lesefaule Masse konnten dem Leser bestätigen, nicht zu ihr zu gehören.
Aber was soll das sein: ein Arkanbereich mit - bei der Niederschrift noch phantasierten - Millionen von Anwärtern, deren Zugang zu ihm allein davon abhängt, bis zum zweiten Band durchgehalten zu haben? Die bloße Tatsache, dass ein Buch nicht ganz gelesen wird, macht es noch nicht zur Bibel oder zum Mysterium. Vielleicht trägt der Gedanke, alle totalitären Systeme seien geheimbündlerisch organisiert, doch nicht weit, selbst wenn er von Hannah Arendt kommt. Koschorke notiert außerdem, dass gerade unter den NS-Eliten Distanz gegenüber den Auslassungen Hitlers keine Seltenheit war.
Daraus schließt er jedoch nicht, dass Buch und Ideologie zweierlei sind, sondern auf die besondere Pointe des Textes, nicht primär einen Inhalt mitzuteilen, vielmehr vor allem die rücksichtslose Entschlossenheit, alle Gegner durch Gewalt zu beeindrucken. Dass Hitler selbst die Rede für geeigneter als die Schrift hielt, um in diesem Sinne bebend vor Willen zu agitieren, hält Koschorke fest, macht aber zu wenig daraus. Vielleicht, weil die Wirkung des Theaters gar nicht auf der Erzählung beruht und Lektüre mithin kein ausreichender Schlüssel zu "Mein Kampf", geschweige denn zum Nationalsozialismus ist.
Das führt zur These, affekthafte Erzählungen bedürften einer Trägerschicht, um wirksam zu werden. Koschorke spricht von "Triggern", Artikulationshelfern, die im Kontakt zu kollektiven Emotionen einerseits, "zündenden Ideen" andererseits stehen. Dass Ideen in weiten Kreisen zünden, sei dabei erstaunlich, weil es sich oft um rabiate Anschauungen aus sektenhaften Kontexten handele. Als Träger radikaler Ideologien kommen für ihn zwei Gruppen in den Blick, die allerdings beide keine Schichten in irgendeinem soziologischen Sinn bilden: Mitglieder von akademischen Berufen und Bohemiens am Rande bürgerlicher Existenz.
Letzteren schreibt Koschorke eine "liminale Existenzweise" zu, ein Leben in Erregungszuständen nahe dem Wahn, das sie befähige, soziale Explosion auszulösen. Erinnert wird an das intellektuelle Prekariat vor 1789, das am Hass auf die Monarchie arbeitete, an Literaten, die im neunzehnten Jahrhundert den Nationalismus befeuerten, und an Protagonisten postkolonialer Gewaltregime.
Doch die Belege sind spärlich. Dass Akademiker und Leute mit Zugang zu Massenmedien eine Rolle spielen, wenn es um Theorien, Pamphlete und politische Reden geht, ist trivial. Wer schreiben will, muss lesen können. Dafür, dass Drop-outs eine entscheidende Rolle in totalitären Bewegungen spielen, bleibt Koschorke über anekdotische Beispiele und Hitler hinaus den Beweis schuldig. Den Priesterschüler und Journalisten Grégoire Kayibanda "einen der Hauptverantwortlichen für den Völkermord in Ruanda" zu nennen ist angesichts der Tatsache, dass er 1976 starb und der Völkermord 1994 stattfand, ebenso merkwürdig wie die Erwähnung Henri Konan Bédiés, der in der Elfenbeinküste mit dem rassistischen Konzept des "Ivorertums" Politik machte, im Kontext von erregten Skribenten: Bédié war zuvor Diplomat, Finanzminister, Parlamentspräsident.
Oder nehmen wir Stalin, Mao, Pol Pot. Keiner von ihnen war jemals Bohemien im Zustand eines "semantischen Exzesses". Und selbst für Hitler ist zu berücksichtigen, dass zwischen "Mein Kampf" und der Machtergreifung neun Jahre Parteiarbeit lagen. Begriffe wie "Trigger" und "Lunte einer zündenden Idee" suggerieren eine Plötzlichkeit, die es nicht gab.
Koschorke fängt diese Gegenevidenzen insofern ein, als er Hitler und andere Fanatiker als beides beschreibt: als paranoid und rational, hysterisch und reflexiv, überzeugt und opportunistisch, dezidiert und unbestimmt. Teils wird die Irrationalität als persönliches Merkmal behandelt, teils als Moment einer bewusst auf Empörung zielenden Strategie, die nicht zündete, sondern langsam durchdrang.
Das ist, wie viele Kommentare zu Hitlers Gedankenfiguren oder kursorische Bemerkungen zur Zusammensetzung seiner Anhängerschaft, richtig gesehen und auch bekannt. Nur entspringt es hier nicht einer Analyse des Sprachgebrauchs von "Mein Kampf", wie Koschorke versichert. Nur zwei Passagen des Buches werden überhaupt eingehender betrachtet und beide nicht "poetologisch", sondern durchaus zutreffend auf der Ebene ihrer politischen Behauptungen und Absichten. Im Grunde sammelt Koschorke selektiv ein, was die historische Forschung zu seinem Thema sagt. Die Stärken einer literaturwissenschaftlichen Herangehensweise sind so nicht erkennbar.
Na gut, mag man sagen, dann eben ohne "Poetik des Nationalsozialismus", klingt ohnehin gespreizt. Diesseits seines Anspruchs auf originelle Lektüre enthält der kurze Traktat eine Reihe von Diskussionsvorschlägen für eine Wissenssoziologie der Ideologien. Auf breiterer historischer Materialgrundlage und mit mehr Bereitschaft, den Forschungsstand anderer Disziplinen - etwa zu Charisma, Herrschaftstechnik und Organisation - zu berücksichtigen, ließen sie sich prüfen.
Albrecht Koschorke: "Adolf Hitlers ,Mein Kampf'". Zur Poetik des Nationalsozialismus.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2016. 93 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Albrecht Koschorkes Rhetorik-Analyse von Hitlers "Mein Kampf" füllt eine Forschungslücke. « - Wolfgang Schnider, Die Welt, März 2016 Wolfgang Schneider Die WELT 20160312