Adolph Menzel gilt als der wichtigste realistische Künstler des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Gleich nach seinem Tod wußte man seine Ölskizzen aus der Sicht des Impressionismus zu schätzen. Heute beginnen wir gerade in seinen akribisch studierten graphischen Arbeiten und Historienbildern Menzels besonderes Talent zu entdecken. Das vorliegende Buch zeigt, dass Menzel von Anfang an ein hochbegabter Zeichner war, der sich Bereiche der Wirklichkeit aneignete, die zuvor nicht bildwürdig waren. Menzel beobachtet und zeichnet alles, gleichgültig, wie wichtig oder banal es ist. Alle Bereiche dieses an Besessenheit grenzenden Wirklichkeitszugriffs werden hier exemplarisch vorgestellt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2015Die Ordnung hinter den Wimmelbildern
Dieser Maler beobachtet die Welt von außen und steckt zugleich mitten drin: Werner Busch hat Adolph Menzel eine exzellente Interpretation gewidmet.
Die Kunst Adolph Menzels steht quer zu den Schulbildungen, Stilströmungen und Fortschrittsetappen des 19. Jahrhunderts. Menzel, der im Dezember vor zweihundert Jahren geboren wurde und 1905 im biblischen Alter starb, ist anfangs noch Romantiker und Historist, dann vor allem Realist, später auch Impressionist und gegen Ende in manchen Zügen Symbolist. Aber alle Etiketten verfehlen seinen eigenwilligen und vielschichtigen Charakter. Fontane hat den siebzigjährigen Menzel in einem Widmungsgedicht als den gefeiert, der "sehr viel ist, um nicht zu sagen, alles; zumindest ist er die ganze Arche Noah".
Das soll heißen, dass dieser "Hundertäugige", wie ihn der holländische Maler Jan Veth 1904 nennt, sein Jahrhundert in allen Dimensionen, im Kleinen und Großen, im Einfachen und Komplizierten, im biedermeierlichen Interieur und im urbanen, modernen Außen, im Nahen und Ferneren, in Gegenwart und Geschichte, in allen gesellschaftlichen Rängen und Klassen, in der Idylle wie im Krieg, im Landschaftlichen wie im Industriellen erkundet, registriert und mit wechselndem Glück gemeistert hat. Der Maler verbindet und repräsentiert auf fast verwirrende Weise die kontroversen Seiten seines Jahrhunderts: Salon und Avantgarde, Anpassung und Widerspruch, angestrengte, manchmal scheiternde Auftragskunst und verqueres Einzelgängertum. Auch im offiziellen Bereich seines Werks produzierte Menzel nicht immer konsensfähige Bilder.
Werner Busch, Emeritus der Berliner Humboldt-Universität, hat jetzt Menzel einer zeitgenössischen Überprüfung unterzogen. Seine Analysen liest man ohne Beschwernis, ja mit Vergnügen. Sie sind nicht, wie heute so oft, mit forcierten Theorien und Methoden belastet. Busch benutzt Menzel nicht als Steinbruch, um die Fortschrittsmythen der Moderne zu feiern: Er preist nicht einseitig den "progressiven", sprühenden und leuchtenden, sensualistischen jüngeren Maler und schiebt dann den späteren, angeblich reaktionären Künstler beiseite.
Ohne Zweifel hat man heute noch immer (oder gerade wieder) seine Schwierigkeiten mit Menzels früher Auftragsarbeit, mit den 400 Illustrationsentwürfen zu Franz Kuglers "Geschichte Friedrichs des Großen" (1839-42), mit den großen Schlachtenbildern des Preußenkönigs, aber auch dem höfischen Neo-Rokoko der Tafelrunde und des Flötenkonzerts.
Mit aufklärerischer Insistenz nimmt sich Busch eingangs der etwas kruden Gelegenheitsproduktion des debütierenden Graphikers an, der vielfach verschnörkelten Einladungs-, Speise- und Neujahrskarten, der Briefköpfe, Diplome, Frontispizen oder Kunstvereinsaktien, und weist minutiös nach, dass hier schon fast alles enthalten ist, was der Künstler später in seinen großen Bildern entfaltet. Busch stellt klar, dass Menzels preußische Programmatik, die großen Historienbilder, meist im eigenen Auftrag entstanden, dass der Künstler sich damit keineswegs anbiederte und einhellig bejubelt wurde. Die Bilder waren oft schwer zu verkaufen. Der König verschmähte sie zunächst oder bestand auf Änderungen. Bei der "Krönung Wilhelms I. in Königsberg" lenkte Menzel ein, bei dem pathetischen Fragment der Szene mit der Ansprache Friedrichs vor der Schlacht bei Leuthen überkamen ihn selbst Skrupel: Selbstkritisch verweigerte er später die Vollendung des Bildes.
Busch legt einen Schwerpunkt seiner Aufmerksamkeit auf die Interaktion von Druckgraphik, Zeichnung und Malerei. Vorsichtig untersucht er den vielberedeten Einfluss von Menzels körperlicher und psychischer Konstitution auf das Werk. Aufgrund seiner Kleinwüchsigkeit, die ihn mit der Hofnarren-Freiheit sympathisieren ließ, blieb Menzel zeitlebens Außenseiter, der nur eingeschränkt am Leben teilhaben konnte, vor allem auf Erotik verzichten musste.
Menzel war ein Fremder in der Gesellschaft, hatte Sehnsucht nach Zuwendung, ohne sie zu erleben. So sah er sich permanent zur Selbstbehauptung herausgefordert und entwickelte eine besondere Sensibilität für Labilitäten und Ambivalenzen, für Randphänomene und Verunsicherungen. Er hatte Scheu vor der modernen "Masse Mensch", die ihn gleichzeitig faszinierte und erschreckte. Er rang um die kompositorische Bewältigung solcher Ballungen, ob im Krieg, in Straßenszenen, bei Hoffesten, Ballsoupers oder in der Feuerhölle einer Eisenhütte. Der gewissenhafte Realist verbat sich rein ästhetische Choreographien.
Auffällig ist ferner Menzels Interesse für Hinterhöfe und Müllplätze, für Bauplätze, Bretterverschläge, schräge und wacklige Gerüste, aber auch für Gerümpel und Umzüge. Menzel setzt seine ganze, vor allem in der Zeichnung oft abenteuerliche Virtuosität ein, um die Gleichgewichtsstörungen und Schwankungen durch gewagte Kompositionen, durch Aufsichten, Kipplagen, riskante Perspektiven und Bildschnitte zu steigern.
Drei Paris-Reisen (1855, 1867 und 1868) verändern gründlich sein Weltbild, sie konfrontieren ihn mit einer brodelnden Metropole und stürzen ihn ins "moderne Leben". Menzel erlebt den durchgreifenden Umbau der Stadt, den Abbruch des alten Paris. Werner Busch weist detailliert den Einfluss und die Verarbeitung französischer Druckgraphik nach und zeigt, wie Menzel Themen und Motive populärer Blätter auf die Hochkunst-Ebene der Ölmalerei hebt. Auch für das berühmte "Eisenwalzwerk" (1872 -75), das erste monumentale Industriebild, hat Busch eine graphische Vorlage aufgetan. Menzel lernt aber auch Courbets Spachteltechnik kennen, bewundert sie und zieht sie fortan der Feinmalerei des Pinsels vor.
In Werner Buschs Buch wird Menzels "Realismus" flexibel diskutiert und offengehalten. Der Künstler hatte früh mit dem romantischen Idealismus gebrochen. Er verschreibt sich kühler, distanzierter Sachlichkeit und entwickelt eine perspektivisch wie hierarchisch ungebundene, gleichsam vagabundierende Sehweise, die fast alles egalisiert, aber auch alles erprobt und sich dem Panorama wie dem beiläufigen Detail verpflichtet fühlt. Für den vitalen, fast barock inspirierten Zeichner mit seiner mobilen wie vielseitigen Optik steckt in Detail und Ausschnitt noch das Ganze.
Dem Maler stellt sich dagegen das Ganze als Summe dieses Einzelnen dar. Er versagt sich den auktorialen Zugriff, die durchgreifende Regie und Deutung. Menzels Dilemma offenbart sich im Gegensatz zwischen seiner spontanen, kraftvoll aufgeladenen Zeichnung, die sich in den Gegenstand förmlich einwühlt, und den aus Einzelmotiven kompilierten Kaleidoskopen seiner späten Wimmelbilder.
Busch sieht im Untertitel seines Buches Menzel "Auf der Suche nach der Wirklichkeit". Richtiger wäre es, ihn zunehmend in die Wirklichkeit verirrt und verstrickt zu sehen. In einem Bild wie dem "Markt in Verona" von 1882/84 ("Piazza d'Erbe"), einem keineswegs südländisch heiteren, sondern durchaus dämonischen Panik-Bild, fühlt sich der Maler der Masse ausgeliefert. Das Leben stürmt auf ihn ein und bedrängt ihn. Menzel ringt um einen Überblick und Zusammenhalt.
In der "Prozession in Bad Gastein" (1880), einem Bild, das Busch leider nicht bespricht, geht es ordentlicher zu. Hier gibt Menzel in der Auffächerung aller möglichen Standpunkte und Reaktionen auf das sakrale Geschehen eine soziale Analyse: auf der einen Seite die gläubigen Einheimischen, auf der anderen schaulustige Großstädter, Neugierige, Gelangweilte, Skeptiker, Erheiterte und mittendrin, ein gern übersehenes Schlüsselmotiv, Menzel selbst, versteckt in der Masse, verschanzt hinter seinem Zeichenblock.
In seinen großen Kompositionen versucht Menzel durch Kippen des Bildes und Draufsicht sich Überblick zu verschaffen und Ordnung ins Bild zu bringen. Aber er erlaubt sich keinen olympischen Blickpunkt, keine Umschichtung und Dressur der Wirklichkeit. Er nimmt sich nicht die Freiheit der französischen Impressionisten, überträgt nicht den spontanen Impuls der Zeichnung auf die Malerei, hat nicht den Mut, das wimmelnde Leben subjektiv und mutwillig zu inszenieren. Menzel scheut im Bild Auslassungen, wagt, anders als in der Zeichnung, keine Fragmentierungen, Schnitte, Abkürzungen oder Pointierungen.
Er beobachtet die Welt von außen und steckt zugleich mittendrin. Das Weltbild zerfällt für den Realisten - darin kann man ein bürgerlich-positivistisches wie ein skeptisch-relativistisches Bewusstsein sehen - in eine Fülle unfassbarer, gleichwertiger, sich gegenseitig relativierender Phänomene. So tüftelt er am Ende Farbteppiche und versucht darin jedem Detail malerisch gerecht zu werden. Zusammenhalt gewährleistet am Ende nur die Malerei selbst. Verborgene, kompositorische Gerüste, die ihm bei der Bewältigung der Wirklichkeitsfülle helfen, sind der Goldene Schnitt und die Achsenbildungen, nach denen Menzel seine großen Bilder anlegt. Die Aufdeckung dieser Ordnungsprinzipien hinter manchmal überwältigender Unordnung gehört zu Werner Buschs wichtigsten Ergebnissen.
Zu den eindringlichsten Passagen des Buches gehört die Analyse von Menzels Kriegsdarstellungen. Der Historist hatte die Schlachten Friedrichs des Großen nicht verklärt, sie aber doch pathetisch inszeniert. Der Preußisch-Österreichische Krieg forderte den Zeitgenossen heraus. Aus "Pflichtgefühl", so schreibt er, reist er im Sommer 1866 in die Nähe von Königgrätz und setzt sich extremen Erfahrungen aus. Menzel zeichnet und aquarelliert in Lazaretten, Leichenhäusern und Scheunen, in die man die Verletzten und Toten geschafft hat.
Menzel schildert die Todeskämpfe und Entstellungen mit einer kaum erträglichen Intensität, die Goya und Dix übertrifft. Menzel war kuriert, er lehnte fortan Kriegsbilder ab, schämte sich im Brief ausdrücklich seines "Hochkirch"-Bildes von 1856 und ließ das "Leuthen"-Bild von 1859/61 unvollendet. Die Realität verscheuchte den Historismus.
Zu bedauern ist, dass der Berliner Kunsthistoriker in einem etwas bizarren Vorwort Menzel in Exkursen zu Walter de Maria, Richard Long und Harald Szeemann umkreist - wohl um die Flagge des Fortschritts zu schwenken -, aber das nächste Umfeld der Menzel-Nachfolge übersieht. Aus den Dresdner, Leipziger und Berliner Ateliers der Nachkriegszeit ist Menzel nie verschwunden. Der West-Berliner Johannes Grützke ist sein brillanter Urenkel. Und der Leipziger Maler Bernhard Heisig nahm sogar die Auseinandersetzung mit Friedrich dem Großen wieder auf und versuchte seine Mentalität zwischen Sensibilität und Brutalität zu ergründen.
EDUARD BEAUCAMP.
Werner Busch: "Adolph Menzel". Auf der Suche nach der Wirklichkeit.
Verlag C. H. Beck, München 2015. 304 S., Abb., geb., 58,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieser Maler beobachtet die Welt von außen und steckt zugleich mitten drin: Werner Busch hat Adolph Menzel eine exzellente Interpretation gewidmet.
Die Kunst Adolph Menzels steht quer zu den Schulbildungen, Stilströmungen und Fortschrittsetappen des 19. Jahrhunderts. Menzel, der im Dezember vor zweihundert Jahren geboren wurde und 1905 im biblischen Alter starb, ist anfangs noch Romantiker und Historist, dann vor allem Realist, später auch Impressionist und gegen Ende in manchen Zügen Symbolist. Aber alle Etiketten verfehlen seinen eigenwilligen und vielschichtigen Charakter. Fontane hat den siebzigjährigen Menzel in einem Widmungsgedicht als den gefeiert, der "sehr viel ist, um nicht zu sagen, alles; zumindest ist er die ganze Arche Noah".
Das soll heißen, dass dieser "Hundertäugige", wie ihn der holländische Maler Jan Veth 1904 nennt, sein Jahrhundert in allen Dimensionen, im Kleinen und Großen, im Einfachen und Komplizierten, im biedermeierlichen Interieur und im urbanen, modernen Außen, im Nahen und Ferneren, in Gegenwart und Geschichte, in allen gesellschaftlichen Rängen und Klassen, in der Idylle wie im Krieg, im Landschaftlichen wie im Industriellen erkundet, registriert und mit wechselndem Glück gemeistert hat. Der Maler verbindet und repräsentiert auf fast verwirrende Weise die kontroversen Seiten seines Jahrhunderts: Salon und Avantgarde, Anpassung und Widerspruch, angestrengte, manchmal scheiternde Auftragskunst und verqueres Einzelgängertum. Auch im offiziellen Bereich seines Werks produzierte Menzel nicht immer konsensfähige Bilder.
Werner Busch, Emeritus der Berliner Humboldt-Universität, hat jetzt Menzel einer zeitgenössischen Überprüfung unterzogen. Seine Analysen liest man ohne Beschwernis, ja mit Vergnügen. Sie sind nicht, wie heute so oft, mit forcierten Theorien und Methoden belastet. Busch benutzt Menzel nicht als Steinbruch, um die Fortschrittsmythen der Moderne zu feiern: Er preist nicht einseitig den "progressiven", sprühenden und leuchtenden, sensualistischen jüngeren Maler und schiebt dann den späteren, angeblich reaktionären Künstler beiseite.
Ohne Zweifel hat man heute noch immer (oder gerade wieder) seine Schwierigkeiten mit Menzels früher Auftragsarbeit, mit den 400 Illustrationsentwürfen zu Franz Kuglers "Geschichte Friedrichs des Großen" (1839-42), mit den großen Schlachtenbildern des Preußenkönigs, aber auch dem höfischen Neo-Rokoko der Tafelrunde und des Flötenkonzerts.
Mit aufklärerischer Insistenz nimmt sich Busch eingangs der etwas kruden Gelegenheitsproduktion des debütierenden Graphikers an, der vielfach verschnörkelten Einladungs-, Speise- und Neujahrskarten, der Briefköpfe, Diplome, Frontispizen oder Kunstvereinsaktien, und weist minutiös nach, dass hier schon fast alles enthalten ist, was der Künstler später in seinen großen Bildern entfaltet. Busch stellt klar, dass Menzels preußische Programmatik, die großen Historienbilder, meist im eigenen Auftrag entstanden, dass der Künstler sich damit keineswegs anbiederte und einhellig bejubelt wurde. Die Bilder waren oft schwer zu verkaufen. Der König verschmähte sie zunächst oder bestand auf Änderungen. Bei der "Krönung Wilhelms I. in Königsberg" lenkte Menzel ein, bei dem pathetischen Fragment der Szene mit der Ansprache Friedrichs vor der Schlacht bei Leuthen überkamen ihn selbst Skrupel: Selbstkritisch verweigerte er später die Vollendung des Bildes.
Busch legt einen Schwerpunkt seiner Aufmerksamkeit auf die Interaktion von Druckgraphik, Zeichnung und Malerei. Vorsichtig untersucht er den vielberedeten Einfluss von Menzels körperlicher und psychischer Konstitution auf das Werk. Aufgrund seiner Kleinwüchsigkeit, die ihn mit der Hofnarren-Freiheit sympathisieren ließ, blieb Menzel zeitlebens Außenseiter, der nur eingeschränkt am Leben teilhaben konnte, vor allem auf Erotik verzichten musste.
Menzel war ein Fremder in der Gesellschaft, hatte Sehnsucht nach Zuwendung, ohne sie zu erleben. So sah er sich permanent zur Selbstbehauptung herausgefordert und entwickelte eine besondere Sensibilität für Labilitäten und Ambivalenzen, für Randphänomene und Verunsicherungen. Er hatte Scheu vor der modernen "Masse Mensch", die ihn gleichzeitig faszinierte und erschreckte. Er rang um die kompositorische Bewältigung solcher Ballungen, ob im Krieg, in Straßenszenen, bei Hoffesten, Ballsoupers oder in der Feuerhölle einer Eisenhütte. Der gewissenhafte Realist verbat sich rein ästhetische Choreographien.
Auffällig ist ferner Menzels Interesse für Hinterhöfe und Müllplätze, für Bauplätze, Bretterverschläge, schräge und wacklige Gerüste, aber auch für Gerümpel und Umzüge. Menzel setzt seine ganze, vor allem in der Zeichnung oft abenteuerliche Virtuosität ein, um die Gleichgewichtsstörungen und Schwankungen durch gewagte Kompositionen, durch Aufsichten, Kipplagen, riskante Perspektiven und Bildschnitte zu steigern.
Drei Paris-Reisen (1855, 1867 und 1868) verändern gründlich sein Weltbild, sie konfrontieren ihn mit einer brodelnden Metropole und stürzen ihn ins "moderne Leben". Menzel erlebt den durchgreifenden Umbau der Stadt, den Abbruch des alten Paris. Werner Busch weist detailliert den Einfluss und die Verarbeitung französischer Druckgraphik nach und zeigt, wie Menzel Themen und Motive populärer Blätter auf die Hochkunst-Ebene der Ölmalerei hebt. Auch für das berühmte "Eisenwalzwerk" (1872 -75), das erste monumentale Industriebild, hat Busch eine graphische Vorlage aufgetan. Menzel lernt aber auch Courbets Spachteltechnik kennen, bewundert sie und zieht sie fortan der Feinmalerei des Pinsels vor.
In Werner Buschs Buch wird Menzels "Realismus" flexibel diskutiert und offengehalten. Der Künstler hatte früh mit dem romantischen Idealismus gebrochen. Er verschreibt sich kühler, distanzierter Sachlichkeit und entwickelt eine perspektivisch wie hierarchisch ungebundene, gleichsam vagabundierende Sehweise, die fast alles egalisiert, aber auch alles erprobt und sich dem Panorama wie dem beiläufigen Detail verpflichtet fühlt. Für den vitalen, fast barock inspirierten Zeichner mit seiner mobilen wie vielseitigen Optik steckt in Detail und Ausschnitt noch das Ganze.
Dem Maler stellt sich dagegen das Ganze als Summe dieses Einzelnen dar. Er versagt sich den auktorialen Zugriff, die durchgreifende Regie und Deutung. Menzels Dilemma offenbart sich im Gegensatz zwischen seiner spontanen, kraftvoll aufgeladenen Zeichnung, die sich in den Gegenstand förmlich einwühlt, und den aus Einzelmotiven kompilierten Kaleidoskopen seiner späten Wimmelbilder.
Busch sieht im Untertitel seines Buches Menzel "Auf der Suche nach der Wirklichkeit". Richtiger wäre es, ihn zunehmend in die Wirklichkeit verirrt und verstrickt zu sehen. In einem Bild wie dem "Markt in Verona" von 1882/84 ("Piazza d'Erbe"), einem keineswegs südländisch heiteren, sondern durchaus dämonischen Panik-Bild, fühlt sich der Maler der Masse ausgeliefert. Das Leben stürmt auf ihn ein und bedrängt ihn. Menzel ringt um einen Überblick und Zusammenhalt.
In der "Prozession in Bad Gastein" (1880), einem Bild, das Busch leider nicht bespricht, geht es ordentlicher zu. Hier gibt Menzel in der Auffächerung aller möglichen Standpunkte und Reaktionen auf das sakrale Geschehen eine soziale Analyse: auf der einen Seite die gläubigen Einheimischen, auf der anderen schaulustige Großstädter, Neugierige, Gelangweilte, Skeptiker, Erheiterte und mittendrin, ein gern übersehenes Schlüsselmotiv, Menzel selbst, versteckt in der Masse, verschanzt hinter seinem Zeichenblock.
In seinen großen Kompositionen versucht Menzel durch Kippen des Bildes und Draufsicht sich Überblick zu verschaffen und Ordnung ins Bild zu bringen. Aber er erlaubt sich keinen olympischen Blickpunkt, keine Umschichtung und Dressur der Wirklichkeit. Er nimmt sich nicht die Freiheit der französischen Impressionisten, überträgt nicht den spontanen Impuls der Zeichnung auf die Malerei, hat nicht den Mut, das wimmelnde Leben subjektiv und mutwillig zu inszenieren. Menzel scheut im Bild Auslassungen, wagt, anders als in der Zeichnung, keine Fragmentierungen, Schnitte, Abkürzungen oder Pointierungen.
Er beobachtet die Welt von außen und steckt zugleich mittendrin. Das Weltbild zerfällt für den Realisten - darin kann man ein bürgerlich-positivistisches wie ein skeptisch-relativistisches Bewusstsein sehen - in eine Fülle unfassbarer, gleichwertiger, sich gegenseitig relativierender Phänomene. So tüftelt er am Ende Farbteppiche und versucht darin jedem Detail malerisch gerecht zu werden. Zusammenhalt gewährleistet am Ende nur die Malerei selbst. Verborgene, kompositorische Gerüste, die ihm bei der Bewältigung der Wirklichkeitsfülle helfen, sind der Goldene Schnitt und die Achsenbildungen, nach denen Menzel seine großen Bilder anlegt. Die Aufdeckung dieser Ordnungsprinzipien hinter manchmal überwältigender Unordnung gehört zu Werner Buschs wichtigsten Ergebnissen.
Zu den eindringlichsten Passagen des Buches gehört die Analyse von Menzels Kriegsdarstellungen. Der Historist hatte die Schlachten Friedrichs des Großen nicht verklärt, sie aber doch pathetisch inszeniert. Der Preußisch-Österreichische Krieg forderte den Zeitgenossen heraus. Aus "Pflichtgefühl", so schreibt er, reist er im Sommer 1866 in die Nähe von Königgrätz und setzt sich extremen Erfahrungen aus. Menzel zeichnet und aquarelliert in Lazaretten, Leichenhäusern und Scheunen, in die man die Verletzten und Toten geschafft hat.
Menzel schildert die Todeskämpfe und Entstellungen mit einer kaum erträglichen Intensität, die Goya und Dix übertrifft. Menzel war kuriert, er lehnte fortan Kriegsbilder ab, schämte sich im Brief ausdrücklich seines "Hochkirch"-Bildes von 1856 und ließ das "Leuthen"-Bild von 1859/61 unvollendet. Die Realität verscheuchte den Historismus.
Zu bedauern ist, dass der Berliner Kunsthistoriker in einem etwas bizarren Vorwort Menzel in Exkursen zu Walter de Maria, Richard Long und Harald Szeemann umkreist - wohl um die Flagge des Fortschritts zu schwenken -, aber das nächste Umfeld der Menzel-Nachfolge übersieht. Aus den Dresdner, Leipziger und Berliner Ateliers der Nachkriegszeit ist Menzel nie verschwunden. Der West-Berliner Johannes Grützke ist sein brillanter Urenkel. Und der Leipziger Maler Bernhard Heisig nahm sogar die Auseinandersetzung mit Friedrich dem Großen wieder auf und versuchte seine Mentalität zwischen Sensibilität und Brutalität zu ergründen.
EDUARD BEAUCAMP.
Werner Busch: "Adolph Menzel". Auf der Suche nach der Wirklichkeit.
Verlag C. H. Beck, München 2015. 304 S., Abb., geb., 58,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
In einer umfangreichen Besprechung lobt Eduard Beaucamp die Adolph-Menzel-Monografie des Berliner Emeritus Werner Busch. Dem Kunsthistoriker sei es gelungen, die unfassbaren Ambivalenzen in Menzels Werk gleichberechtigt zu behandeln, keine Hierarchisierung zwischen gelungenem Früh- und reaktionärem Spätwerk einzuführen, wie es andere vor ihm getan haben, erklärt der Rezensent. Bis ins kleinste Detail, Briefköpfe und früheste grafische Versuche etwa, beschreibt Busch das Dilemma eines Künstlers, der in Zeichnung und Malerei zwei unterschiedliche Zugänge zu einer fragmentierten, chaotischen Welt für sich erschloss, so Beaucamp. Einzig die Nachfolge Menzels verortet der Rezensent anderswo. Während Busch im Vorwort Walter de Marian und Harald Szeemann bemühe, erinnert Beaucamp an Johannes Grützke und Bernhard Heisig.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.12.2015Zaungast
des Lebens
Wie Adolph Menzel sich behauptete, indem er
zeichnend die Wirklichkeit suchte
VON CHRISTINE TAUBER
Über kaum einen Künstler des 19. Jahrhunderts kursieren so viele Anekdoten wie über den kleinwüchsigen Linkshänder und Sonderling Adolph Menzel, der angeblich bei Hofe gerne auf die Stühle und Tische stieg, um für seine zeichnerischen Momentaufnahmen, die er bei jeder nur denkbaren Gelegenheit im Stehen fixierte, einen strategischen Überblick zu gewinnen. Menzel war, so eine der Hauptthesen von Werner Buschs neuer Monografie über den Berliner Maler, permanent auf der „Suche nach der Wirklichkeit“. Buschs Intention ist es jedoch nicht, Menzel mit dem Etikett des „Realismus“ zu belegen: Vielmehr wird die Aneignung von Wirklichkeit durch den Künstler für ihn „in extremer Weise zu einem körperlichen Akt“, der „der Selbsterfahrung und Selbstbehauptung dient“, Menzels Malerei ist somit eine subtile Form der Krisenbewältigung.
Schlagend kann Busch diesen künstlerischen Habitus anhand des späten Wimmelbildes „Piazza d’Erbe in Verona“ belegen, das Menzels alltägliche Körpererfahrung eines von der ihn überragenden Menschenmenge Bedrängten und Herumgestoßenen zu spiegeln scheint – er war ein „Zaungast des Lebens“, wie Busch ihn an anderer Stelle einmal genannt hat. Der Ausweg des Künstlers führt in diesen überfüllten Bildern wie auch in den Großstadtszenarien zu dem hypothetisch eingenommenen Standpunkt des Malers vor seinem Bild, der ihm suggeriert, ein Riese zu sein und über den Dingen zu stehen: In vielen seiner Gemälde scheint Menzel über dem Geschehen zu schweben oder zu fliegen. So entrückt er sich mit Hilfe seiner Imagination dem wilden Treiben und ist in der Lage, das Chaos zu überblicken und zu strukturieren.
Eine gefährliche Instabilität kennzeichnet viele der Menzelschen Bildarrangements, wenn beispielsweise in „Kronprinz Friedrich besucht Pesne auf dem Malgerüst in Rheinsberg“ auf dem luftigen Gerüst Flaschen und Gläser ins Schwanken geraten, der Maler mit seinem Modell herumturnt, und im Vordergrund eine Gliederpuppe bereits zu Tode gestürzt zu sein scheint. Wirklichkeitswiedergabe bedeutet hier also nicht, strikt naturalistisch zu malen, sondern eine forcierte, vom Künstler verfügte, seinen künstlerischen Prämissen entsprechend anverwandelte und damit beherrschte Wirklichkeit im Bild hervorzurufen. Ein Mittel zur Beruhigung des Chaos und zur Strukturierung der Massenszenen hat es Busch hierbei besonders angetan: In keiner seiner Bildbeschreibungen fehlt der Hinweis auf den Goldenen Schnitt als Gliederungselement und ästhetisches Ideal in den Gemälden Menzels. Albert van der Schoot hat diese Kunsthistorikerobsession vom Goldenen Schnitt bereits 2005 als eine Erfindung des 19. Jahrhunderts entlarvt, die dann bis in die Antike zurückprojiziert wurde.
Buschs Buch bietet ein ganzes Kabinett fulminanter Einzelbildanalysen, in denen sich seine glasklare und präzise Beschreibungskunst, sein fast detektivisch zu nennender Spürsinn für Details und für die Rekonstruktion der Kontexte sowie seine Deutungslust in idealer Weise verbinden. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist seine Bildanalyse von Menzels ironischen Illustrationen von Goethes Gedicht „Künstlers Erdenwallen“: Das kritische Potenzial des Stechers entfalte sich vor allem in den Arabesken des Titelblattes des vom Künstler wenig geschätzten Poems, wenn dort eine Fama mit doppelter Trompete die Verfehltheit des Kunsturteils herausposaunt und darüber dem obersten Kunstrichter und ersten Kunstkritiker, Midas, schon Eselsohren gewachsen sind. Auch in seinen subtilen Untersuchungen der „Hinterhofszenen“ kann Busch Menzels spezifische Strategie der Selbstverortung und gleichzeitigen Distanzierung von seinem Umfeld herauspräparieren. Im „Balkonzimmer“, der berühmten Ölskizze von 1845, führt Busch schließlich dem zunehmend faszinierten Leser die raffinierten Blicklenkungen im Bild vor, die nicht nur Menzels eigene „Positionen“ und Blickabfolgen repräsentieren, sondern den Sehprozess als solchen thematisieren.
Wie schon in seinem 2004 in der Reihe „C.H. Beck Wissen“ erschienenen Bändchen „Adolph Menzel. Leben und Werk“ macht Busch in diesem großformatigen, ebenso großzügig wie qualitätvoll illustrierten neuen Buch die Chronologie der Biografie und der künstlerischen Entwicklung des Malers zum Leitfaden seiner Darstellung: Menzels Anfänge lagen in der populären Gebrauchsgraphik; erst über die Illustrationen von Franz Kuglers „Geschichte Friedrichs des Großen“ (1840) und seine Experimente mit der Radiernadel arbeitete sich Menzel vom Zeichnerischen zum Malerischen (und damit zur Farbe) vor, wobei die Zeichnung ein Medium bleiben sollte, das er sein Leben lang geradezu manisch einsetzte. Menzels virtuose Ölskizzen aus den späteren 1840er Jahren haben noch eher privaten Charakter, öffentlichkeitswirksam wird seine Kunstproduktion dann erst mit den Friedrich-Bildern, in denen er neben dem Politiker und Feldherrn auch immer den Menschen Friedrich selbst in Momenten des Zweifelns und Scheiterns präsentiert. Diese psychologisierende Darstellungsweise war wenig dazu angetan, die Hohenzollern als Auftraggeber für Bilder ähnlichen Zuschnitts zu gewinnen, waren die preußischen Könige doch primär an der retrospektiven Verherrlichung ihrer Dynastie interessiert. Aber zum Hofmaler einer nachrevolutionären Monarchie ließ sich Menzel ohnehin nicht domestizieren.
Neu im Vergleich zu Buschs Vorgängerwerk, aus dem naturgemäß einige Passagen übernommen wurden, ist die genannte Schwerpunktsetzung auf der Körpererfahrung und eine vorsichtige Annäherung an die psychische Disposition des seinen Zeitgenossen als Exzentriker geltenden Menzel. Der Autor hat erfreulicherweise keine Angst vor Künstlern und deren spezifischer Handlungslogik – eine ansonsten bei Kunsthistorikern häufig anzutreffende Phobie: Buschs Überlegungen zu ästhetischen Entscheidungen gehen immer von Menzels spezifischem künstlerischem Handeln aus. Nur ganz selten ist das verräterische Wörtchen „Einfluss“ im Text stehen geblieben. Buschs Vorstellungen von „dem“ bürgerlichen Kunstverständnis und von der sozialen Formation des Bürgertums kommen hingegen häufig recht pauschal daher.
Besonders aufschlussreich für das Rezeptionsverhalten Menzels sind die neuen Kapitel über seine Paris-Erfahrungen und seine Reaktion auf die zeitgenössische französische Malerei. Gerne wüsste man mehr über die Seheindrücke während seines bislang in der Forschung eher vernachlässigten kurzen ersten Paris-Aufenthalts im Jahr 1855: Hat er den Louvre besucht und dort Jacques-Louis Davids Bilder studiert? Hat er vielleicht den „Leonidas“, der sich seit März 1826 dort befand, gesehen und den sinnlosen Hyperaktivismus der Spartaner in seiner Darstellung der Sinnlosigkeit von Krieg und Todesopfern in „Friedrich und die Seinen bei Hochkirch“ von 1856 aufgegriffen? Hat die sture Komposition von Davids „Krönung Napoleons“, die Menzel auch aus der druckgraphischen Reproduktion geläufig sein konnte, ihren Niederschlag in seinem eigenen Krönungsbild Wilhelms I. in Königsberg von 1861–65 gefunden? Kannte er Delacroix’ virtuose Zeichnungen und Aquarelle, deren Duktus man in den fantastischen „Rüstkammerphantasien“ – gespenstisch autonom durch den Raum schreitende, aus Rüstungsteilen zusammengesetzt Gliederpuppen –, aber auch in der „Atelierwand“ von 1872 wiederzufinden meint? Und schließlich: Welche Rolle spielten Gros und Géricault für Menzel?
Erst für den zweiten und dritten Paris-Aufenthalt, in den Jahren 1867 und 1868, kann Busch überzeugend die Prägung der späteren Gemälde Menzels durch die Großstadterfahrung nachweisen, die den Berliner zu einem „Maler des modernen Lebens“ im Sinne Baudelaires machte. Die Fragmentierung der Perspektive, eine innovative Flächengestaltung, die Auflösung der geschlossenen Handlung in disparate Figurenkonstellationen, die nicht mehr (oder zumindest nicht sinnvoll) miteinander kommunizieren, die Verwandlung der Bilderzählung in eine Art „Erscheinung“: All dies konnte Menzel auf den Pariser Boulevards ebensogut studieren wie in Claude Monets „Frauen im Garten“ von 1866/67, die im Salon von 1868 Furore machten.
Die ihn phänomenologisch überfordernden Eindrücke in der Capitale waren wohl neben den entsetzlichen Seherfahrungen von Sterbenden und Toten auf dem Schlachtfeld von Königgrätz, das Menzel 1866 besuchte und zeichnerisch dokumentierte, ausschlaggebend, um ihn von der klassischen Historienmalerei abzubringen. Fortan malte er nur noch das „Momentane, Plötzliche, Vorübergehende, Widersprüchliche, Ungeordnete“, das zur Grunderfahrung seiner Kunst wird, wie Busch resümiert: „So wird Transitorisches, Vergängliches, im Aufbau Befindliches wie auch dem Abbau Preisgegebenes für einen Moment auf Dauer gestellt. Mehr vermag die Kunst nach Menzels Überzeugung nicht, doch seine Vorführung ermöglicht es, den radikalen Wandel wahrzunehmen und wohl auch zu ertragen“.
Werner Busch: Adolph Menzel. Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Verlag C. H. Beck, München 2015. 304 Seiten, 167 Abbildungen, 58 Euro.
Werner Buschs Monografie
bietet ein ganzes Kabinett
fulminanter Einzelbildanalysen
1872 schuf
Adolph Menzel das
Gemälde „Atelierwand“:
Gipsabgüsse und
Arbeitsmaterialien
an einer Wand seines damaligen Ateliers in
der Potsdamer Straße 7.
Fotos: www.bridgemanart.com, ARCHIVIO GBB Contrasto/laif
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
des Lebens
Wie Adolph Menzel sich behauptete, indem er
zeichnend die Wirklichkeit suchte
VON CHRISTINE TAUBER
Über kaum einen Künstler des 19. Jahrhunderts kursieren so viele Anekdoten wie über den kleinwüchsigen Linkshänder und Sonderling Adolph Menzel, der angeblich bei Hofe gerne auf die Stühle und Tische stieg, um für seine zeichnerischen Momentaufnahmen, die er bei jeder nur denkbaren Gelegenheit im Stehen fixierte, einen strategischen Überblick zu gewinnen. Menzel war, so eine der Hauptthesen von Werner Buschs neuer Monografie über den Berliner Maler, permanent auf der „Suche nach der Wirklichkeit“. Buschs Intention ist es jedoch nicht, Menzel mit dem Etikett des „Realismus“ zu belegen: Vielmehr wird die Aneignung von Wirklichkeit durch den Künstler für ihn „in extremer Weise zu einem körperlichen Akt“, der „der Selbsterfahrung und Selbstbehauptung dient“, Menzels Malerei ist somit eine subtile Form der Krisenbewältigung.
Schlagend kann Busch diesen künstlerischen Habitus anhand des späten Wimmelbildes „Piazza d’Erbe in Verona“ belegen, das Menzels alltägliche Körpererfahrung eines von der ihn überragenden Menschenmenge Bedrängten und Herumgestoßenen zu spiegeln scheint – er war ein „Zaungast des Lebens“, wie Busch ihn an anderer Stelle einmal genannt hat. Der Ausweg des Künstlers führt in diesen überfüllten Bildern wie auch in den Großstadtszenarien zu dem hypothetisch eingenommenen Standpunkt des Malers vor seinem Bild, der ihm suggeriert, ein Riese zu sein und über den Dingen zu stehen: In vielen seiner Gemälde scheint Menzel über dem Geschehen zu schweben oder zu fliegen. So entrückt er sich mit Hilfe seiner Imagination dem wilden Treiben und ist in der Lage, das Chaos zu überblicken und zu strukturieren.
Eine gefährliche Instabilität kennzeichnet viele der Menzelschen Bildarrangements, wenn beispielsweise in „Kronprinz Friedrich besucht Pesne auf dem Malgerüst in Rheinsberg“ auf dem luftigen Gerüst Flaschen und Gläser ins Schwanken geraten, der Maler mit seinem Modell herumturnt, und im Vordergrund eine Gliederpuppe bereits zu Tode gestürzt zu sein scheint. Wirklichkeitswiedergabe bedeutet hier also nicht, strikt naturalistisch zu malen, sondern eine forcierte, vom Künstler verfügte, seinen künstlerischen Prämissen entsprechend anverwandelte und damit beherrschte Wirklichkeit im Bild hervorzurufen. Ein Mittel zur Beruhigung des Chaos und zur Strukturierung der Massenszenen hat es Busch hierbei besonders angetan: In keiner seiner Bildbeschreibungen fehlt der Hinweis auf den Goldenen Schnitt als Gliederungselement und ästhetisches Ideal in den Gemälden Menzels. Albert van der Schoot hat diese Kunsthistorikerobsession vom Goldenen Schnitt bereits 2005 als eine Erfindung des 19. Jahrhunderts entlarvt, die dann bis in die Antike zurückprojiziert wurde.
Buschs Buch bietet ein ganzes Kabinett fulminanter Einzelbildanalysen, in denen sich seine glasklare und präzise Beschreibungskunst, sein fast detektivisch zu nennender Spürsinn für Details und für die Rekonstruktion der Kontexte sowie seine Deutungslust in idealer Weise verbinden. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist seine Bildanalyse von Menzels ironischen Illustrationen von Goethes Gedicht „Künstlers Erdenwallen“: Das kritische Potenzial des Stechers entfalte sich vor allem in den Arabesken des Titelblattes des vom Künstler wenig geschätzten Poems, wenn dort eine Fama mit doppelter Trompete die Verfehltheit des Kunsturteils herausposaunt und darüber dem obersten Kunstrichter und ersten Kunstkritiker, Midas, schon Eselsohren gewachsen sind. Auch in seinen subtilen Untersuchungen der „Hinterhofszenen“ kann Busch Menzels spezifische Strategie der Selbstverortung und gleichzeitigen Distanzierung von seinem Umfeld herauspräparieren. Im „Balkonzimmer“, der berühmten Ölskizze von 1845, führt Busch schließlich dem zunehmend faszinierten Leser die raffinierten Blicklenkungen im Bild vor, die nicht nur Menzels eigene „Positionen“ und Blickabfolgen repräsentieren, sondern den Sehprozess als solchen thematisieren.
Wie schon in seinem 2004 in der Reihe „C.H. Beck Wissen“ erschienenen Bändchen „Adolph Menzel. Leben und Werk“ macht Busch in diesem großformatigen, ebenso großzügig wie qualitätvoll illustrierten neuen Buch die Chronologie der Biografie und der künstlerischen Entwicklung des Malers zum Leitfaden seiner Darstellung: Menzels Anfänge lagen in der populären Gebrauchsgraphik; erst über die Illustrationen von Franz Kuglers „Geschichte Friedrichs des Großen“ (1840) und seine Experimente mit der Radiernadel arbeitete sich Menzel vom Zeichnerischen zum Malerischen (und damit zur Farbe) vor, wobei die Zeichnung ein Medium bleiben sollte, das er sein Leben lang geradezu manisch einsetzte. Menzels virtuose Ölskizzen aus den späteren 1840er Jahren haben noch eher privaten Charakter, öffentlichkeitswirksam wird seine Kunstproduktion dann erst mit den Friedrich-Bildern, in denen er neben dem Politiker und Feldherrn auch immer den Menschen Friedrich selbst in Momenten des Zweifelns und Scheiterns präsentiert. Diese psychologisierende Darstellungsweise war wenig dazu angetan, die Hohenzollern als Auftraggeber für Bilder ähnlichen Zuschnitts zu gewinnen, waren die preußischen Könige doch primär an der retrospektiven Verherrlichung ihrer Dynastie interessiert. Aber zum Hofmaler einer nachrevolutionären Monarchie ließ sich Menzel ohnehin nicht domestizieren.
Neu im Vergleich zu Buschs Vorgängerwerk, aus dem naturgemäß einige Passagen übernommen wurden, ist die genannte Schwerpunktsetzung auf der Körpererfahrung und eine vorsichtige Annäherung an die psychische Disposition des seinen Zeitgenossen als Exzentriker geltenden Menzel. Der Autor hat erfreulicherweise keine Angst vor Künstlern und deren spezifischer Handlungslogik – eine ansonsten bei Kunsthistorikern häufig anzutreffende Phobie: Buschs Überlegungen zu ästhetischen Entscheidungen gehen immer von Menzels spezifischem künstlerischem Handeln aus. Nur ganz selten ist das verräterische Wörtchen „Einfluss“ im Text stehen geblieben. Buschs Vorstellungen von „dem“ bürgerlichen Kunstverständnis und von der sozialen Formation des Bürgertums kommen hingegen häufig recht pauschal daher.
Besonders aufschlussreich für das Rezeptionsverhalten Menzels sind die neuen Kapitel über seine Paris-Erfahrungen und seine Reaktion auf die zeitgenössische französische Malerei. Gerne wüsste man mehr über die Seheindrücke während seines bislang in der Forschung eher vernachlässigten kurzen ersten Paris-Aufenthalts im Jahr 1855: Hat er den Louvre besucht und dort Jacques-Louis Davids Bilder studiert? Hat er vielleicht den „Leonidas“, der sich seit März 1826 dort befand, gesehen und den sinnlosen Hyperaktivismus der Spartaner in seiner Darstellung der Sinnlosigkeit von Krieg und Todesopfern in „Friedrich und die Seinen bei Hochkirch“ von 1856 aufgegriffen? Hat die sture Komposition von Davids „Krönung Napoleons“, die Menzel auch aus der druckgraphischen Reproduktion geläufig sein konnte, ihren Niederschlag in seinem eigenen Krönungsbild Wilhelms I. in Königsberg von 1861–65 gefunden? Kannte er Delacroix’ virtuose Zeichnungen und Aquarelle, deren Duktus man in den fantastischen „Rüstkammerphantasien“ – gespenstisch autonom durch den Raum schreitende, aus Rüstungsteilen zusammengesetzt Gliederpuppen –, aber auch in der „Atelierwand“ von 1872 wiederzufinden meint? Und schließlich: Welche Rolle spielten Gros und Géricault für Menzel?
Erst für den zweiten und dritten Paris-Aufenthalt, in den Jahren 1867 und 1868, kann Busch überzeugend die Prägung der späteren Gemälde Menzels durch die Großstadterfahrung nachweisen, die den Berliner zu einem „Maler des modernen Lebens“ im Sinne Baudelaires machte. Die Fragmentierung der Perspektive, eine innovative Flächengestaltung, die Auflösung der geschlossenen Handlung in disparate Figurenkonstellationen, die nicht mehr (oder zumindest nicht sinnvoll) miteinander kommunizieren, die Verwandlung der Bilderzählung in eine Art „Erscheinung“: All dies konnte Menzel auf den Pariser Boulevards ebensogut studieren wie in Claude Monets „Frauen im Garten“ von 1866/67, die im Salon von 1868 Furore machten.
Die ihn phänomenologisch überfordernden Eindrücke in der Capitale waren wohl neben den entsetzlichen Seherfahrungen von Sterbenden und Toten auf dem Schlachtfeld von Königgrätz, das Menzel 1866 besuchte und zeichnerisch dokumentierte, ausschlaggebend, um ihn von der klassischen Historienmalerei abzubringen. Fortan malte er nur noch das „Momentane, Plötzliche, Vorübergehende, Widersprüchliche, Ungeordnete“, das zur Grunderfahrung seiner Kunst wird, wie Busch resümiert: „So wird Transitorisches, Vergängliches, im Aufbau Befindliches wie auch dem Abbau Preisgegebenes für einen Moment auf Dauer gestellt. Mehr vermag die Kunst nach Menzels Überzeugung nicht, doch seine Vorführung ermöglicht es, den radikalen Wandel wahrzunehmen und wohl auch zu ertragen“.
Werner Busch: Adolph Menzel. Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Verlag C. H. Beck, München 2015. 304 Seiten, 167 Abbildungen, 58 Euro.
Werner Buschs Monografie
bietet ein ganzes Kabinett
fulminanter Einzelbildanalysen
1872 schuf
Adolph Menzel das
Gemälde „Atelierwand“:
Gipsabgüsse und
Arbeitsmaterialien
an einer Wand seines damaligen Ateliers in
der Potsdamer Straße 7.
Fotos: www.bridgemanart.com, ARCHIVIO GBB Contrasto/laif
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Er ist und bleibt der größte deutsche Maler des 19. Jahrhunderts. Was ihn antrieb, worin seine Einzigartigkeit bestand, das erfährt man hier."
Tilman Krause, Literarische Welt, 5. Dezember 2015
"Ein scharfsichtiger Autor zeigt uns Menzels herrliche Zeichnungen und Malerei."
Alexander Cammann, Die Zeit, 3. Dezember 2015
"Buschs Buch bietet ein ganzes Kabinett fulminanter Einzelbildanalysen, in denen sich seine glasklare und präzise Beschreibungskunst, sein fast detektivisch zu nennender Spürsinn für Details und für die Rekonstruktion der Kontexte sowie seine Deutungslust in idealer Weise verbinden."
Christine Tauber, Süddeutsche Zeitung, 1. Dezember 2015
"Es ist dies wahrscheinlich das wichtigste kunsthistorische Buch dieses Herbstes (...) Menzel musste 200 Jahre alt werden, um so umfassend verstanden zu werden wie jetzt von Werner Busch."
Florian Illies, Die ZEIT, 22. Oktober 2015
Tilman Krause, Literarische Welt, 5. Dezember 2015
"Ein scharfsichtiger Autor zeigt uns Menzels herrliche Zeichnungen und Malerei."
Alexander Cammann, Die Zeit, 3. Dezember 2015
"Buschs Buch bietet ein ganzes Kabinett fulminanter Einzelbildanalysen, in denen sich seine glasklare und präzise Beschreibungskunst, sein fast detektivisch zu nennender Spürsinn für Details und für die Rekonstruktion der Kontexte sowie seine Deutungslust in idealer Weise verbinden."
Christine Tauber, Süddeutsche Zeitung, 1. Dezember 2015
"Es ist dies wahrscheinlich das wichtigste kunsthistorische Buch dieses Herbstes (...) Menzel musste 200 Jahre alt werden, um so umfassend verstanden zu werden wie jetzt von Werner Busch."
Florian Illies, Die ZEIT, 22. Oktober 2015