Die Achtundsechziger polarisieren noch immer. Heinz Bude hat mit Männern und Frauen gesprochen, die damals dabei waren. Gemeinsam ist ihnen der Aufbruch aus der Kindheit zwischen Ruinen in eine Welt des befreiten Lebens. Aber Adorno gab ihnen auf den Weg, dass es einem umso schwerer wird, sich in der Gesellschaft nützlich zu machen, je mehr man von der Gesellschaft versteht. Mit einer trostlosen Vergangenheit im Rücken wollten sie die Gesellschaft verändern, um ein eigenes Leben zu finden. 50 Jahre nach der Revolte ist es an der Zeit zu verstehen, wie viel Privates seinerzeit das Politische bewegte: Heinz Bude, einer der besten Kenner der deutschen Gesellschaft, zieht Bilanz.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2018Gut leben vom Dagegensein
Heinz Bude blickt auf das Jahr der Revolte zurück
Heinz Budes Buch "Adorno für Ruinenkinder" trägt den Untertitel "Eine Geschichte von 1968". Das ist eine sehr verkürzte, fast irreführende Wiedergabe seines Inhalts. Der Essay enthält nämlich die Lebensgeschichten von fünf Personen, die sich im weitesten Sinne als Achtundsechziger verstanden haben. Die Gespräche, auf die sein Buch aufbaut, hat Bude allerdings bereits Mitte bis Ende der achtziger Jahre geführt, damals als Material für seine 1995 erschienene Studie "Das Altern einer Generation".
Der Leser nimmt daran teil, wie Bude dreißig Jahre später versucht, sich an Gespräche zu erinnern, die sich um Erinnerungen drehten - an Krieg und Flucht, an die abwesenden oder toten Väter, an Kindheit und Jugend in den Fünfzigern, an die sechziger Jahre und das magische Jahr der Revolte. Diese doppelte Rückschau wird dadurch verkompliziert, dass Bude die Reflexionen seiner Gesprächspartner mit eigenen Erinnerungen an und Reflexionen über sein persönliches Erleben von 1968 ergänzt. Sein mimetischer Erzählstil verzichtet dabei auf eine eindeutige Kennzeichnung des jeweiligen Sprechers - Perspektiven, Zitate, direkte und indirekte Rede werden virtuos gemischt, so dass sich zwar ein eigener Sound einstellt - Bude nennt seinen Text ironisch einen Remix -, passagenweise aber auch ein Verlust an Übersicht.
Budes Zurückhaltung gegenüber seinen Gesprächspartnern verweist auf seine Überzeugung, in den Selbstzeugnissen ausreichend Stoff zu finden, um die Bedeutung dieser Generation zu ermessen. Er wolle dazu deren "Erlebnisschichtung von der Kriegskindheit über die Rebellion gegen das Ganze und die Adaption ans Unveränderliche" verfolgen, um im "möglichst präzisen Spekulieren das Leben dieser Älteren zu erfassen". Fachhistoriker mögen einwenden, dass Bude das Spekulieren übertreibt und dabei den Nachweis der Repräsentanz seiner fünf Beispielachtundsechziger naturgemäß schuldig bleiben muss.
Der West-Berliner Verlagsgründer Peter Gente etwa, die Feministin Adelheid Guttmann oder der Adorno-Schüler und spätere Soziologie-Professor Klaus Bregenz sind in ihrer intellektuellen Beredsamkeit für Bude aber fast schon so etwas wie Idealtypen von Achtundsechzigern. Ihr Abstraktionsniveau der eigenen Lebensgeschichte gegenüber kann mühelos mit Budes Erwartung mithalten, dass 1968 eine Veranstaltung enthusiastischer Sinnsucher war, die mit Marx und Adorno im Kopf ein Leben finden wollten, das man aushalten konnte.
Man muss über Wissen zur Geschichte der Bundesrepublik verfügen, um die Präzision beurteilen zu können, mit der Bude die Bändigung seiner Spekulationslust einlöst. Nur dann kann man die Stärke des Buches einschätzen: Budes Fähigkeit, in seinen emphatischen Porträts diese Erlebnisschichtungen zur präzisen Gestalt einer vaterlosen Generation zu verdichten, die tatsächlich das Privileg hatte, Geschichte schreiben zu können. Budes Achtundsechziger waren alle Leser, aus denen Autoren wurden. Sie hatten bei Adorno zwar gehört, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe. Aber zu was zwang dieser Satz? Jedenfalls nicht zur Ablehnung einer intellektuellen Karriere. Manche zwang er in den Untergrund, weil sie sich mit den angeblich so falschen Verhältnissen nicht abfinden konnten.
Für die anderen, die wie Budes Gesprächspartner gelernt hatten, dass Philosophie am Ende zu gar nichts zwingt, eröffneten sich nach 1968 neue Wege, das richtige Denken, das Nicht-einverstanden-Sein mit der Gesellschaft zum Beruf zu machen. Es gab nicht nur die Gesellschaft, sondern auch deren "kritische" Beschreibung. Man fand Gleichgesinnte, organisierte sich in Kollektiven, Verlagen und neuen Zeitschriften, bei Film, Radio und Fernsehen. Dass man vom Dagegensein gut leben konnte, war auch eine Errungenschaft von 1968, vielleicht sogar die wichtigste.
Jedenfalls stellt Bude anerkennend fest, alle seine fünf Achtundsechziger hätten es doch zu etwas gebracht. Ihre Mütter wären bestimmt stolz auf sie gewesen. Was will man mehr? Budes Fazit klang ihm vielleicht sogar selbst zu generös, jedenfalls schiebt er diesem Lob noch die Frage nach, was von der Idee der Befreiung und der Sehnsucht nach Welt bleibt. Dass Bude da eigentlich nicht mehr viel einfällt, liegt sicher auch am Material seines Buches. Diese Selbstzeugnisse sind für ein heutiges Buch eigentlich zu alt. Zwischen den Zeilen spürt man die Idylle der Bundesrepublik. Die Frage, was heute von 1968 bleibt, kann man damit abschließend nicht beantworten.
GERALD WAGNER
Heinz Bude: "Adorno für Ruinenkinder".
Eine Geschichte von 1968.
Hanser Verlag, München 2018. 128 S., geb., 17,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heinz Bude blickt auf das Jahr der Revolte zurück
Heinz Budes Buch "Adorno für Ruinenkinder" trägt den Untertitel "Eine Geschichte von 1968". Das ist eine sehr verkürzte, fast irreführende Wiedergabe seines Inhalts. Der Essay enthält nämlich die Lebensgeschichten von fünf Personen, die sich im weitesten Sinne als Achtundsechziger verstanden haben. Die Gespräche, auf die sein Buch aufbaut, hat Bude allerdings bereits Mitte bis Ende der achtziger Jahre geführt, damals als Material für seine 1995 erschienene Studie "Das Altern einer Generation".
Der Leser nimmt daran teil, wie Bude dreißig Jahre später versucht, sich an Gespräche zu erinnern, die sich um Erinnerungen drehten - an Krieg und Flucht, an die abwesenden oder toten Väter, an Kindheit und Jugend in den Fünfzigern, an die sechziger Jahre und das magische Jahr der Revolte. Diese doppelte Rückschau wird dadurch verkompliziert, dass Bude die Reflexionen seiner Gesprächspartner mit eigenen Erinnerungen an und Reflexionen über sein persönliches Erleben von 1968 ergänzt. Sein mimetischer Erzählstil verzichtet dabei auf eine eindeutige Kennzeichnung des jeweiligen Sprechers - Perspektiven, Zitate, direkte und indirekte Rede werden virtuos gemischt, so dass sich zwar ein eigener Sound einstellt - Bude nennt seinen Text ironisch einen Remix -, passagenweise aber auch ein Verlust an Übersicht.
Budes Zurückhaltung gegenüber seinen Gesprächspartnern verweist auf seine Überzeugung, in den Selbstzeugnissen ausreichend Stoff zu finden, um die Bedeutung dieser Generation zu ermessen. Er wolle dazu deren "Erlebnisschichtung von der Kriegskindheit über die Rebellion gegen das Ganze und die Adaption ans Unveränderliche" verfolgen, um im "möglichst präzisen Spekulieren das Leben dieser Älteren zu erfassen". Fachhistoriker mögen einwenden, dass Bude das Spekulieren übertreibt und dabei den Nachweis der Repräsentanz seiner fünf Beispielachtundsechziger naturgemäß schuldig bleiben muss.
Der West-Berliner Verlagsgründer Peter Gente etwa, die Feministin Adelheid Guttmann oder der Adorno-Schüler und spätere Soziologie-Professor Klaus Bregenz sind in ihrer intellektuellen Beredsamkeit für Bude aber fast schon so etwas wie Idealtypen von Achtundsechzigern. Ihr Abstraktionsniveau der eigenen Lebensgeschichte gegenüber kann mühelos mit Budes Erwartung mithalten, dass 1968 eine Veranstaltung enthusiastischer Sinnsucher war, die mit Marx und Adorno im Kopf ein Leben finden wollten, das man aushalten konnte.
Man muss über Wissen zur Geschichte der Bundesrepublik verfügen, um die Präzision beurteilen zu können, mit der Bude die Bändigung seiner Spekulationslust einlöst. Nur dann kann man die Stärke des Buches einschätzen: Budes Fähigkeit, in seinen emphatischen Porträts diese Erlebnisschichtungen zur präzisen Gestalt einer vaterlosen Generation zu verdichten, die tatsächlich das Privileg hatte, Geschichte schreiben zu können. Budes Achtundsechziger waren alle Leser, aus denen Autoren wurden. Sie hatten bei Adorno zwar gehört, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe. Aber zu was zwang dieser Satz? Jedenfalls nicht zur Ablehnung einer intellektuellen Karriere. Manche zwang er in den Untergrund, weil sie sich mit den angeblich so falschen Verhältnissen nicht abfinden konnten.
Für die anderen, die wie Budes Gesprächspartner gelernt hatten, dass Philosophie am Ende zu gar nichts zwingt, eröffneten sich nach 1968 neue Wege, das richtige Denken, das Nicht-einverstanden-Sein mit der Gesellschaft zum Beruf zu machen. Es gab nicht nur die Gesellschaft, sondern auch deren "kritische" Beschreibung. Man fand Gleichgesinnte, organisierte sich in Kollektiven, Verlagen und neuen Zeitschriften, bei Film, Radio und Fernsehen. Dass man vom Dagegensein gut leben konnte, war auch eine Errungenschaft von 1968, vielleicht sogar die wichtigste.
Jedenfalls stellt Bude anerkennend fest, alle seine fünf Achtundsechziger hätten es doch zu etwas gebracht. Ihre Mütter wären bestimmt stolz auf sie gewesen. Was will man mehr? Budes Fazit klang ihm vielleicht sogar selbst zu generös, jedenfalls schiebt er diesem Lob noch die Frage nach, was von der Idee der Befreiung und der Sehnsucht nach Welt bleibt. Dass Bude da eigentlich nicht mehr viel einfällt, liegt sicher auch am Material seines Buches. Diese Selbstzeugnisse sind für ein heutiges Buch eigentlich zu alt. Zwischen den Zeilen spürt man die Idylle der Bundesrepublik. Die Frage, was heute von 1968 bleibt, kann man damit abschließend nicht beantworten.
GERALD WAGNER
Heinz Bude: "Adorno für Ruinenkinder".
Eine Geschichte von 1968.
Hanser Verlag, München 2018. 128 S., geb., 17,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für den Rezensenten Gerald Wagner gelangt Heinz Bude mit seinem Buch nicht zu einer befriedigenden Beantwortung der Frage, was heute von 1968 bleibt. Dafür sind die im Buch präsentierten Selbstzeugnisse, die der Autor bereits Mitte, Ende der Achtziger sammelte, einfach zu alt, meint er. Ein weiteres Problem des Buches liegt für den Rezensenten in seiner Strukturierung. Dass Bude versucht, sich an die Gespräche mit Peter Gente, Klaus Bregenz oder Adelheid Guttmann zu erinnern, die ihrerseits um die Erinnerung (an '68) bemüht sind, scheint Wagner dann doch der Rückschau zu viel. Zumal der Autor laut Rezensent nicht kennzeichnet, wer gerade spricht. Zwar entstehe so ein eigener Sound, der Leser verliere aber die Übersicht, meint Wagner. Budes Fähigkeit, das Spekulative in der Erinnerung an '68 zur präzisen Gestalt einer Generation zu verdichten, kann laut Wagner nur einschätzen, wer über ein gewisses Maß an Wissen zur Geschichte der Bundesrepublik verfügt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Es ist das klügste Buch zu 1968." Arno Widmann, Perlentaucher; 20.03.18
"So hat Heinz Bude einen elegant-pointillistischen Langessay unter dem Titel "Adorno für Ruinenkinder" vorgelegt: eine konzise, der eigenen biografischen Verortung des 1954 geborenen Autors durchaus bewusste Erzählung." Micha Brumlik, die tageszeitung, 08.03.18
"So hat Heinz Bude einen elegant-pointillistischen Langessay unter dem Titel "Adorno für Ruinenkinder" vorgelegt: eine konzise, der eigenen biografischen Verortung des 1954 geborenen Autors durchaus bewusste Erzählung." Micha Brumlik, die tageszeitung, 08.03.18