Adornos Erben schreibt die Geschichte der Kritischen Theorie neu: als große, vielstimmige Erzählung aus der alten Bundesrepublik - einem Land, das zwanzig Jahre mit Adorno existierte und zwanzig Jahre ohne ihn.
Im Oktober 1949 kehrte Theodor W. Adorno aus dem amerikanischen Exil in seine Geburtsstadt zurück, um wieder an einer deutschen Universität zu lehren. Frankfurt lag in Trümmern, die Nazis hatten nur die Kleider gewechselt, aber die Studierenden kamen in Scharen. Bald war der Philosoph wöchentlich im Radio zu hören und zum Stichwortgeber und »Erzieher« der jungen Bundesrepublik geworden. Als Adorno 1969 starb, waren das Institut für Sozialforschung und sein Direktor bundesweit bekannt. Die Frankfurter Schule befand sich auf dem Zenit ihrer öffentlichen Wirkung.
Dieser Denkraum und seine Metamorphosen zwischen Nachkrieg und Wiedervereinigung sind das Thema dieses Buches, zwölf Mitarbeiter Adornos seine Protagonisten. Nach dem Tod des »Meisters« zerstreuten sie sich von der Stadt am Main nach Gießen, Lüneburg oder Starnberg. Jörg Später folgt ihren Wegen und schildert, wie sie in Wissenschaft, Politik und den neuen sozialen Bewegungen Adornos Erbe annahmen und veränderten.
Adornos Erben:
Regina Becker-Schmidt, Gerhard Brandt, Ludwig von Friedeburg, Karl Heinz Haag, Jürgen Habermas, Elisabeth Lenk, Oskar Negt, Helge Pross, Alfred Schmidt, Herbert Schnädelbach, Hermann Schweppenhäuser, Rolf Tiedemann
Im Oktober 1949 kehrte Theodor W. Adorno aus dem amerikanischen Exil in seine Geburtsstadt zurück, um wieder an einer deutschen Universität zu lehren. Frankfurt lag in Trümmern, die Nazis hatten nur die Kleider gewechselt, aber die Studierenden kamen in Scharen. Bald war der Philosoph wöchentlich im Radio zu hören und zum Stichwortgeber und »Erzieher« der jungen Bundesrepublik geworden. Als Adorno 1969 starb, waren das Institut für Sozialforschung und sein Direktor bundesweit bekannt. Die Frankfurter Schule befand sich auf dem Zenit ihrer öffentlichen Wirkung.
Dieser Denkraum und seine Metamorphosen zwischen Nachkrieg und Wiedervereinigung sind das Thema dieses Buches, zwölf Mitarbeiter Adornos seine Protagonisten. Nach dem Tod des »Meisters« zerstreuten sie sich von der Stadt am Main nach Gießen, Lüneburg oder Starnberg. Jörg Später folgt ihren Wegen und schildert, wie sie in Wissenschaft, Politik und den neuen sozialen Bewegungen Adornos Erbe annahmen und veränderten.
Adornos Erben:
Regina Becker-Schmidt, Gerhard Brandt, Ludwig von Friedeburg, Karl Heinz Haag, Jürgen Habermas, Elisabeth Lenk, Oskar Negt, Helge Pross, Alfred Schmidt, Herbert Schnädelbach, Hermann Schweppenhäuser, Rolf Tiedemann
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Michael Hesse hält viel von Jörg Späters Buch über das Erbe der Frankfurter Schule im Allgemeinen und Adorno im Besonderen. Man lernt viel über die geistesgeschichtliche Tradition der Bundesrepublik, meint er nach der Lektüre. Seine Rezension zeichnet Adornos Lebensweg entlang Späters Buch nach: vom musikalisch interessierten jungen Mann über den Exilant in Amerika bis zum Starintellektuellen der Nachkriegszeit, der schließlich 1969 starb, in einer Zeit, in der er sich mit jungen, radikalen Studenten angelegt hatte. Hesse streift einige wichtige Schriften Adornos, erwähnt wichtige Weggefährten und auch Gegner sowie Erben des Adornschen Denkens. Insgesamt, meint Hesse mit Später, hatte das Frankfurter Institut für Sozialforschung als Epizentrum der Frankfurter Schule nach Adornos Tod seine zentrale Stellung für das intellektuelle Leben in Deutschland verloren.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.07.2024Triumph der Theorie
Nach Adornos Tod prägten seine Schüler die intellektuelle Landschaft
der Republik. Jörg Später stellt zwölf von ihnen vor.
„Kreis ohne Meister“, so lautete der Titel einer 2009 veröffentlichten Studie von Ulrich Raulff. Er versammelte die Jünger am Sarg Stefan Georges und verfolgte die Erschütterungen, die dessen Tod 1933 bei ihnen auslöste. Indem Raulff das „was zuvor geschah“ aus der Sicht des Nachlebens von George erzählte, gewann er Raum für eine andere Geschichte des „Dritten Reiches“ und vor allem der Bundesrepublik Deutschland. Ideen-, Kultur- und Wirkungsgeschichte fanden im „Kreis“-Buch letztmalig auf beeindruckende, weil auch bestens lesbare Weise zusammen.
Nun liegt fünfzehn Jahre danach mit Jörg Späters Buch „Adornos Erben“ endlich ein ebenbürtiger Nachfolger vor. Wie Raulff, so beginnt auch der Freiburger Historiker mit einem Abschied. Die Beerdigung für den 1969 plötzlich verstorbenen Adorno, der wie George 65 Jahre alt wurde, ist der Ausgangspunkt für eine dichte Beschreibung und Deutung eines genuin westdeutschen Vorhabens: einer Theorie der Gesellschaft.
Dazu versammelt Später zunächst einen Chor, nämlich zwölf Schülerinnen und Schüler Adornos, verfolgt deren persönliche Geschichten und ihre Theoriebildungen bis in die Epochenjahre 1989/90, löst ihn also in Einzelstimmen auf, um deren Spezifik herausarbeiten zu können. Nun ist Später ein Archivgänger und kann daher zeigen, dass man nach Adornos Tod unterschiedliche Wege und entsprechend voneinander abweichende Tonlagen wählte, zugleich aber immer wieder Übungsräume aufsuchte, in denen nach der einen Stimme gefahndet wurde.
Das war nicht immer erfolgreich, zumal sich längst einige Virtuosen etabliert hatten, doch einte sie nicht zuletzt das, was Apostel, weiblich wie männlich, so an sich haben: die Botschaft weiterzutragen und dabei niemals dabei zu vergessen, dass ihre Version der Wahrheit am nächsten kommt.
Die Gruppenbildungen in Hannover und Lüneburg, die zeitweilige Starnberger Filiale, dazu kurzfristige WGs und ihre Auslagerungen werden vorgestellt und dabei stets darauf geachtet, dass es hier nicht ums Singen, Spielen, Tanzen, sondern um das knallharte Geschäft des Denkens ging. Das Libretto stammt von den Choristen, die Koordination übernimmt der Dirigent Jörg Später.
Wer sind die zwölf Auserwählten? Selbstverständlich erhalten Jürgen Habermas und Alexander Kluge große Auftritte. Nach der Lektüre von Späters Buch wird klar, wie sehr Habermas‘ „Theorie des kommunikativen Handelns“ von 1981 jene „Theorie der Gesellschaft“ hätte sein können – und eben nicht eine Verabschiedung eines vermeintlichen marxistischen Projekts der Adorno-Generation. Dass die Restlinke zu dieser Verkennung auch heute noch neigt, legt mehr als alles andere ihren Unwillen offen, auf Ideologie zu verzichten.
Auch die Philosophen Oskar Negt, Gerhard Schnädelbach, Alfred Schmidt und Hermann Schweppenhäuser werden ausführlich gewürdigt. Der zeitweilige hessische Kultusminister Ludwig von Friedeburg und der Walter Benjamin-Herausgeber Rolf Tiedemann erhalten ihren Platz. Wer aber kennt Karl Heinz Haag oder Gerhard Brandt? Besonderes Interesse dürften die 1984 mit nur 57 Jahren verstorbene Soziologin Helge Pross, ihre 1937 geborene Kollegin Regine Becker-Schmidt oder die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Lenk (1937-2022) auf sich ziehen, die allzu gerne vergessen werden.
Doch bevor Adornos Totenruhe gestört wird, also das eigentliche Deutungsgeschäft beginnt, geht Später erst einmal zurück. Die Geschichte der „Frankfurter Schule“, in deren Mittelpunkt Max Horkheimer und eben Adorno stehen, werden, wie bei Raulff, im Hinblick auf das Nachleben erzählt.
Daran fällt auf, dass Adorno selbst sehr früh ein Gespür für Traditionsvermittlung, Generationenfolgen und das Lehrer/Schüler-Verhältnis hatte, wie ein Text von 1930 belegt: „Im strengen Vollzuge ihrer kompositorischen Aufgabe sind Schönbergs Schüler Erben geworden, die erwarben, was sie besitzen, und damit das Erbe weitertreiben zum dunklen, kaum geahnten und dennoch sicheren Ziele aller Musik hin.“
Es waren Alban Berg und Anton Webern, die Theodor Wiesengrund-Adorno mit Hilfe von Goethes klassischer Formel für das bürgerliche Kontinuitäts- und Traditionsverständnis, als jene heraushob, die das Werk ihres Lehrers eigenständig fortentwickelt haben. Der so charakterisierte Webern schrieb dem dem 27-jährigen Autor daraufhin begeistert: „Daß Sie ihrer Arbeit sozusagen die Antithese ‚Schülerschaft – Selbständigkeit‘ zu Grunde legen, ist ganz ausgezeichnet. Denn in dieser Hinsicht ist unser Fall doch wohl ein noch nie dagewesener, eben wegen der ungeheuren Umwälzung, die Schönberg bewirkt hat.“
Dass das Denken des 1969 plötzlich verstorbenen Adorno für seine Anhänger eine „ungeheure Umwälzung“ darstellte, dessen Erbe sie gegen alle Widerstände und zum Besten der Gesellschaft weitertragen wollten, bezeugten nicht nur 33 Studierende, die ihrem Meister über den Tod hinaus intellektuelle Treue schworen. Zu dem Zeitpunkt hatte sich der 1934 über England in die USA Emigrierte und 1949 nach Deutschland Zurückgekehrte eine beeindruckende Schülerschaft an der Frankfurter Universität und dem dortigen Institut für Sozialforschung ausgebildet und teilweise in Positionen gebracht. Und nicht wenige davon haben zeitlebens, wie Später klug zusammengestellter Chor belegt, ihre eigene Arbeit als Auseinandersetzung, Bewahrung und Fortschreibung von Adornos Denkens begriffen.
Liest man die bei Später präzise rekonstruierten und selbst in den unübersichtlichsten Interpretationsscharmützeln immer glasklaren Nachzeichnungen der Äußerungen der Zwölf zu Adorno, dann drängt sich das von ihm benutzte Bild der Goetheschen Erbe-Vermittlung auf unheimliche Weise wieder auf.
Unheimlich deshalb, weil es zunächst Max Horkheimer und Adorno selbst sind, die nach ihrer Rückkehr in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckten, dass ihre Studierenden den Glauben an das Gute im Menschen stärken könnten – und das nach der Vernichtung des europäischen Judentums durch Deutsche. Am 1. August 1952 etwa berichtete Horkheimer, nunmehr Rektor der Frankfurter Universität in einem Interview mit der „Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland“, „äußerst positiven Erfahrungen“ mit den Studenten. „(I)ch bin überzeugt, dass man mithelfen kann, eine Studentengeneration heranzubilden, die so fühlt, wie wir es gewohnt sind.“ Die so Charakterisierten taten dann in der Folge alles, um diesen Kredit einzulösen.
Zwanzig Jahre lang bildeten Adorno und Horkheimer häufig gemeinsam in Frankfurt den Nachwuchs aus. Von Platon und Aristoteles bis hin zu Martin Heidegger und die moderne empirische Sozialforschung ließen sie, vor allem Ersterer, nichts und niemanden aus, mit und gegen den sie eine Theorie der Gesellschaft anstrebten. Es war das, was stets am Horizont aufschien, sich aber zugleich ständig zu entziehen schien.
Hier setzt Später ein und verfolgt akribisch, die vielen Annäherungen an die überlassene Aufgabe. Im Moment des Todes von Adorno setzt sich, nach zeitweiliger Verzweiflung, zahllosen Abgesängen und ersten Revisionsbereitschaften, eine theoretische Energie frei, die so noch nie dargestellt wurde. Mit Sympathie und einem unglaublichen Sprachwitz, mit Detailversessenheit und stetem Blick auf das große Ziel der Theorie der Gesellschaft, führt Später die Zwölf als Anarchisten, Empiristen, Konservative, Marxisten und Synthetiker vor.
So ernst wurden Ideen schon lange nicht mehr genommen, die gesellschaftlichen und politischen Transformationen Westdeutschlands schon lange nicht so entlastet von vermeintlichen Großerzählungen – sei es der „Westen“ oder die „Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik“ – anhand ihrer theoretischen Bewältigungsversuche dargestellt, wie es in „Adornos Erben“ geschieht.
Als kürzlich im „Merkur“ der Stuttgarter Historiker Thomas Hertfelder der bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung die Versetzung in die nächste Klasse verweigerte, weil er sie in ihrer Begeisterung für das Selbsterlebte gefangen sah, war die Frage, wie sie denn anders zu erzählen wäre. Für die Ideengeschichte liegt die Antwort vor. Jörg Später führt mit seinen zwölf Erwählten ohne jede Nostalgie die Suchbewegungen nach einer Theorie der Gesellschaft vor. Worin sie möglicherweise bestand, das lässt bei keinem der Zwölf genau sagen. Man muss schon den Chor vernehmen, der für „Adornos Erben“ eigens zusammengestellt wurde.
THOMAS MEYER
Adornos Denken war
für seine Anhänger eine
„ungeheure Umwälzung“
So ernst wurden
Ideen schon lange
nicht mehr genommen
Jörg Später: Adornos
Erben. Eine Geschichte aus
der Bundesrepublik.
Suhrkamp Verlag, Berlin
2024. 760 Seiten, 40 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Nach Adornos Tod prägten seine Schüler die intellektuelle Landschaft
der Republik. Jörg Später stellt zwölf von ihnen vor.
„Kreis ohne Meister“, so lautete der Titel einer 2009 veröffentlichten Studie von Ulrich Raulff. Er versammelte die Jünger am Sarg Stefan Georges und verfolgte die Erschütterungen, die dessen Tod 1933 bei ihnen auslöste. Indem Raulff das „was zuvor geschah“ aus der Sicht des Nachlebens von George erzählte, gewann er Raum für eine andere Geschichte des „Dritten Reiches“ und vor allem der Bundesrepublik Deutschland. Ideen-, Kultur- und Wirkungsgeschichte fanden im „Kreis“-Buch letztmalig auf beeindruckende, weil auch bestens lesbare Weise zusammen.
Nun liegt fünfzehn Jahre danach mit Jörg Späters Buch „Adornos Erben“ endlich ein ebenbürtiger Nachfolger vor. Wie Raulff, so beginnt auch der Freiburger Historiker mit einem Abschied. Die Beerdigung für den 1969 plötzlich verstorbenen Adorno, der wie George 65 Jahre alt wurde, ist der Ausgangspunkt für eine dichte Beschreibung und Deutung eines genuin westdeutschen Vorhabens: einer Theorie der Gesellschaft.
Dazu versammelt Später zunächst einen Chor, nämlich zwölf Schülerinnen und Schüler Adornos, verfolgt deren persönliche Geschichten und ihre Theoriebildungen bis in die Epochenjahre 1989/90, löst ihn also in Einzelstimmen auf, um deren Spezifik herausarbeiten zu können. Nun ist Später ein Archivgänger und kann daher zeigen, dass man nach Adornos Tod unterschiedliche Wege und entsprechend voneinander abweichende Tonlagen wählte, zugleich aber immer wieder Übungsräume aufsuchte, in denen nach der einen Stimme gefahndet wurde.
Das war nicht immer erfolgreich, zumal sich längst einige Virtuosen etabliert hatten, doch einte sie nicht zuletzt das, was Apostel, weiblich wie männlich, so an sich haben: die Botschaft weiterzutragen und dabei niemals dabei zu vergessen, dass ihre Version der Wahrheit am nächsten kommt.
Die Gruppenbildungen in Hannover und Lüneburg, die zeitweilige Starnberger Filiale, dazu kurzfristige WGs und ihre Auslagerungen werden vorgestellt und dabei stets darauf geachtet, dass es hier nicht ums Singen, Spielen, Tanzen, sondern um das knallharte Geschäft des Denkens ging. Das Libretto stammt von den Choristen, die Koordination übernimmt der Dirigent Jörg Später.
Wer sind die zwölf Auserwählten? Selbstverständlich erhalten Jürgen Habermas und Alexander Kluge große Auftritte. Nach der Lektüre von Späters Buch wird klar, wie sehr Habermas‘ „Theorie des kommunikativen Handelns“ von 1981 jene „Theorie der Gesellschaft“ hätte sein können – und eben nicht eine Verabschiedung eines vermeintlichen marxistischen Projekts der Adorno-Generation. Dass die Restlinke zu dieser Verkennung auch heute noch neigt, legt mehr als alles andere ihren Unwillen offen, auf Ideologie zu verzichten.
Auch die Philosophen Oskar Negt, Gerhard Schnädelbach, Alfred Schmidt und Hermann Schweppenhäuser werden ausführlich gewürdigt. Der zeitweilige hessische Kultusminister Ludwig von Friedeburg und der Walter Benjamin-Herausgeber Rolf Tiedemann erhalten ihren Platz. Wer aber kennt Karl Heinz Haag oder Gerhard Brandt? Besonderes Interesse dürften die 1984 mit nur 57 Jahren verstorbene Soziologin Helge Pross, ihre 1937 geborene Kollegin Regine Becker-Schmidt oder die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Lenk (1937-2022) auf sich ziehen, die allzu gerne vergessen werden.
Doch bevor Adornos Totenruhe gestört wird, also das eigentliche Deutungsgeschäft beginnt, geht Später erst einmal zurück. Die Geschichte der „Frankfurter Schule“, in deren Mittelpunkt Max Horkheimer und eben Adorno stehen, werden, wie bei Raulff, im Hinblick auf das Nachleben erzählt.
Daran fällt auf, dass Adorno selbst sehr früh ein Gespür für Traditionsvermittlung, Generationenfolgen und das Lehrer/Schüler-Verhältnis hatte, wie ein Text von 1930 belegt: „Im strengen Vollzuge ihrer kompositorischen Aufgabe sind Schönbergs Schüler Erben geworden, die erwarben, was sie besitzen, und damit das Erbe weitertreiben zum dunklen, kaum geahnten und dennoch sicheren Ziele aller Musik hin.“
Es waren Alban Berg und Anton Webern, die Theodor Wiesengrund-Adorno mit Hilfe von Goethes klassischer Formel für das bürgerliche Kontinuitäts- und Traditionsverständnis, als jene heraushob, die das Werk ihres Lehrers eigenständig fortentwickelt haben. Der so charakterisierte Webern schrieb dem dem 27-jährigen Autor daraufhin begeistert: „Daß Sie ihrer Arbeit sozusagen die Antithese ‚Schülerschaft – Selbständigkeit‘ zu Grunde legen, ist ganz ausgezeichnet. Denn in dieser Hinsicht ist unser Fall doch wohl ein noch nie dagewesener, eben wegen der ungeheuren Umwälzung, die Schönberg bewirkt hat.“
Dass das Denken des 1969 plötzlich verstorbenen Adorno für seine Anhänger eine „ungeheure Umwälzung“ darstellte, dessen Erbe sie gegen alle Widerstände und zum Besten der Gesellschaft weitertragen wollten, bezeugten nicht nur 33 Studierende, die ihrem Meister über den Tod hinaus intellektuelle Treue schworen. Zu dem Zeitpunkt hatte sich der 1934 über England in die USA Emigrierte und 1949 nach Deutschland Zurückgekehrte eine beeindruckende Schülerschaft an der Frankfurter Universität und dem dortigen Institut für Sozialforschung ausgebildet und teilweise in Positionen gebracht. Und nicht wenige davon haben zeitlebens, wie Später klug zusammengestellter Chor belegt, ihre eigene Arbeit als Auseinandersetzung, Bewahrung und Fortschreibung von Adornos Denkens begriffen.
Liest man die bei Später präzise rekonstruierten und selbst in den unübersichtlichsten Interpretationsscharmützeln immer glasklaren Nachzeichnungen der Äußerungen der Zwölf zu Adorno, dann drängt sich das von ihm benutzte Bild der Goetheschen Erbe-Vermittlung auf unheimliche Weise wieder auf.
Unheimlich deshalb, weil es zunächst Max Horkheimer und Adorno selbst sind, die nach ihrer Rückkehr in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckten, dass ihre Studierenden den Glauben an das Gute im Menschen stärken könnten – und das nach der Vernichtung des europäischen Judentums durch Deutsche. Am 1. August 1952 etwa berichtete Horkheimer, nunmehr Rektor der Frankfurter Universität in einem Interview mit der „Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland“, „äußerst positiven Erfahrungen“ mit den Studenten. „(I)ch bin überzeugt, dass man mithelfen kann, eine Studentengeneration heranzubilden, die so fühlt, wie wir es gewohnt sind.“ Die so Charakterisierten taten dann in der Folge alles, um diesen Kredit einzulösen.
Zwanzig Jahre lang bildeten Adorno und Horkheimer häufig gemeinsam in Frankfurt den Nachwuchs aus. Von Platon und Aristoteles bis hin zu Martin Heidegger und die moderne empirische Sozialforschung ließen sie, vor allem Ersterer, nichts und niemanden aus, mit und gegen den sie eine Theorie der Gesellschaft anstrebten. Es war das, was stets am Horizont aufschien, sich aber zugleich ständig zu entziehen schien.
Hier setzt Später ein und verfolgt akribisch, die vielen Annäherungen an die überlassene Aufgabe. Im Moment des Todes von Adorno setzt sich, nach zeitweiliger Verzweiflung, zahllosen Abgesängen und ersten Revisionsbereitschaften, eine theoretische Energie frei, die so noch nie dargestellt wurde. Mit Sympathie und einem unglaublichen Sprachwitz, mit Detailversessenheit und stetem Blick auf das große Ziel der Theorie der Gesellschaft, führt Später die Zwölf als Anarchisten, Empiristen, Konservative, Marxisten und Synthetiker vor.
So ernst wurden Ideen schon lange nicht mehr genommen, die gesellschaftlichen und politischen Transformationen Westdeutschlands schon lange nicht so entlastet von vermeintlichen Großerzählungen – sei es der „Westen“ oder die „Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik“ – anhand ihrer theoretischen Bewältigungsversuche dargestellt, wie es in „Adornos Erben“ geschieht.
Als kürzlich im „Merkur“ der Stuttgarter Historiker Thomas Hertfelder der bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung die Versetzung in die nächste Klasse verweigerte, weil er sie in ihrer Begeisterung für das Selbsterlebte gefangen sah, war die Frage, wie sie denn anders zu erzählen wäre. Für die Ideengeschichte liegt die Antwort vor. Jörg Später führt mit seinen zwölf Erwählten ohne jede Nostalgie die Suchbewegungen nach einer Theorie der Gesellschaft vor. Worin sie möglicherweise bestand, das lässt bei keinem der Zwölf genau sagen. Man muss schon den Chor vernehmen, der für „Adornos Erben“ eigens zusammengestellt wurde.
THOMAS MEYER
Adornos Denken war
für seine Anhänger eine
„ungeheure Umwälzung“
So ernst wurden
Ideen schon lange
nicht mehr genommen
Jörg Später: Adornos
Erben. Eine Geschichte aus
der Bundesrepublik.
Suhrkamp Verlag, Berlin
2024. 760 Seiten, 40 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.08.2024Ein ganzes Land war umzukrempeln
Mehr als siebenhundert Seiten über die "Frankfurter Schule", und dann das: "Ob es eine 'Frankfurter Schule' überhaupt gegeben hat, ist umstritten", bekennt der Autor gleich am Anfang. "Manche wie Habermas gaben kund, dass so etwas wie eine Schule nie existiert habe, das sei ein mediales Konstrukt." Im Falle dieses Falles wäre es dann aber eine umso bemerkenswertere Leistung, über etwas, was es gar nicht gibt, ein derart informatives, gelehrtes, umfangreiches und dennoch höchst kurzweiliges Buch zu schreiben wie "Adornos Erben".
Staunt eigentlich niemand über diesen Titel? Hätte er, mit Blick auf die Gründungsgeschichte des Instituts für Sozialforschung in den Zwanzigern, auf den Neubeginn nach der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil, von Rechts wegen nicht "Horkheimers Erben" lauten müssen? Dass Jörg Später, bekannt durch seine phänomenale Kracauer-Biographie, das Buch nicht nach dem über lange Jahre souverän herrschenden Direktor benannte, sondern nach seinem acht Jahre jüngeren Mitarbeiter, Angestellten, Ko-Autor und schließlich Nachfolger, ist Programm: Gerade für das Nachleben der Frankfurter "Kritischen Theorie" war Theodor W. Adorno die emblematische Gestalt; als Soziologe, Philosoph, Musiktheoretiker und Musiker verband er die Rollen des kritischen Intellektuellen, des leicht hermetischen Philosophen und des schaffenden Künstlers in einer seit Nietzsche nicht mehr da gewesenen faszinierenden Aura, und sein Tod 1969 in den Schweizer Bergen, mitten im antiautoritären Tumult der eigenen vaterkritischen Studentenschaft, bedeutete einen tragisch umwehten Wendepunkt für das Institut und seine Theorie.
Jörg Späters Buch beginnt - nach kurzer Rückschau im mosebachschen Ton "Was bisher geschah" - mit Adornos Tod und Verklärung (denn auf dem Friedhof hielten selbst die Studenten still). Von nun an geht es immer mindestens um zweierlei: um die Geschichte von und die Geschichten aus den Institutionen; also um Theorien, Gedanken einerseits, an-dererseits um Personen, Auf- und Abstiege, Freunde, Gegner und Konkurrenten. Das generische Maskulinum darf man in diesem Fall ausnahmsweise einmal als natürliches verstehen, denn sogar die zwei großen Konferenzen zu Adornos und Horkheimers Nachruhm waren 1983 und 1985 eine derart exklusive Herrenrunde, dass man die Rednerliste heute nur noch mit großen Augen liest. Jörg Später dagegen gibt Adornos Erbinnen durchaus ihren Platz: Helge Pross und Regina Becker-Schmidt, Assistentinnen der beiden Großen, wurden zu einflussreichen Soziologinnen, die sich aus guten Gründen besonders der bis dato vernachlässigten Geschlechterforschung widmeten; Elisabeth Lenk folgte als surrealistisch bewegte Literaturwissenschaftlerin den künstlerischen Spuren Adornos bis nach Paris. Hier könnte man en passant die einzige Fehlstelle des Buches anmerken, denn Adornos Erbschaft in der Musik war - zwischen wütender Ablehnung seitens der Ordinarien und enormem Einfluss auf Studenten, jüngere Wissenschaftler, Kritiker, Komponisten - gegenüber dem zähen Konservatismus des Fachs tatsächlich bahnbrechend und dauerhaft; doch das, zugegeben, hätte noch ein zweites Buch verlangt.
Die längst prähistorische Männerwirtschaft - die Adorno selbst durchaus nicht pflegte - illustriert auch gleich, warum Später sein Buch "Eine Geschichte aus der Bundesrepublik" nennt, aus der alten Bundesrepublik, versteht sich. Es spricht sehr für die handfeste Gegenwartsnähe dieser, nach gängigem Klischee, freischwebenden Intellektuellen, dass in allen Diskussionen und Querelen sich durchweg der epochale Umbau eines ganzen Landes spiegelt, vom misstrauischen Widerstand der widerstandslos Daheimgebliebenen gegen die zurückkehrenden Emigranten über die 68er-Kulturrevolte bis hin zum vorläufigen Kapitelschluss durch die unerwartete Wiedervereinigung. Natürlich ist der von Habermas initiierte und mit härtesten Bandagen ausgefochtene "Historikerstreit" ein entscheidendes, auch folgenreiches Datum, doch anderes, wie etwa der legendäre Kampf um die "Rahmenrichtlinien", liest sich nur noch als halb vergessene Geisterstunde der Reformära: Adornos Schüler Ludwig von Friedeburg war nicht nur Professor für Soziologie und Direktor des Instituts für Sozialforschung, von 1969 bis 1974 trieb er als hessischer Kultusminister auch die dringend überfällige Schulreform so entschieden voran, dass die konservative Fundamentalopposition in ihre wortreiche, doch längst aussichtslose Feldschlacht gegen kommunistische Pappkameraden zog.
Die stets zuverlässige List der Vernunft hat gewollt, dass das Erbschaftsproblem der Frankfurter Schule immer wieder zu demjenigen zurückfindet, für den sie gar nicht existierte: Jürgen Habermas. Welch schöner Existenzbeweis! Er wurde zur Symbolfigur für einen Konflikt, den noch jede philosophische Schule durchzustehen hat: den Konflikt zwischen Bewahrern, die keinen Zweifel kennen an der Autorität ihrer Meister, und den Neuerern, die, auf den Schultern derselben stehend, Ausschau halten nach veränderten Zeitumständen und entsprechenden Ideen. Natürlich, die Ersteren verteidigen einen immer schon verlorenen Posten, denn noch von keiner philosophischen Theorie der Weltgeschichte, von Platon, Kant oder Wittgenstein, wurde je verlangt, dass sie, schwarz-weiß auf dem Papier, eherne Gültigkeit behält. Dennoch, aus dem Kreis der Bewahrer stammen außerordentliche Leistungen; philologische, wie die beispielhaften Ausgaben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, mit denen Adornos und auch Walter Benjamins Texte seither auf sicheren Füßen stehen; historische, wie die Rekonstruktionen der Werkentwicklung durch Alfred Schmidt, der die Frankfurter Stellung hielt, oder Karl Heinz Haag, den eigenbrötlerischen Selbstdenker im Höchster Exil.
"Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt" - die ungeheuer produktive Erbschaft zeigt sich jedoch vor allem durch die Vielfalt jener Namen, die, nach Nietzsches zeitloser Ermahnung, in Philosophie, Kunst, Literatur, Kritik, Musik das Historisch-Werden der Werke akzeptierten, sie weiterdachten, frei und freier, den Intentionen mehr oder weniger treu. Am bunten Ende der breiten Skala Alexander Kluge, Adornos "angenommener Sohn", wie Gretel Adorno ihn nannte, der mit Filmen und Büchern zum höchst eigensinnigen, zeitweise fast populären Geistes-Artisten wurde (und mit Ko-Autor Oskar Negt "Geschichte und Eigensinn" verfasste, das merkwürdigste theorieförmige Bilderbuch aus dem Frankfurter Hof); am anderen, nun tatsächlich schwerst wissenschaftlichen Ende die umstrittene kommunikationstheoretische Wende von Habermas, der in seiner Idee der herrschaftsfreien Verständigung ein neues soziologisches Paradigma schuf. Was immer die traditionsbewussten Kritiker einzuwenden wussten: Habermas ist ganz sicher der einflussreichste, folgenreichste Denker Frankfurter Herkunft - ob man die nun "Schule" nennen will oder nicht. Zwar stand er weiter in enger Verbindung zur Gründungsgeneration, zu Herbert Marcuse oder Leo Löwenthal, doch fürs Erste verabschiedete er sich in Richtung des Max-Planck-Instituts Starnberg.
Das letzte, gewichtige Kapitel zielt noch einmal in die Mitte. Später zitiert den nachgeborenen Politikwissenschaftler Alfons Söllner, der sich ausführlich mit der Vorgängergeneration beschäftigte, doch "ohne daß ich zur Kenntnis genommen hatte, daß es sich ausnahmslos um deutsche Juden handelte, die vor Hitler fliehen mußten". Damit ist die entscheidende Lebenserfahrung benannt, die die Erblasser von den Erben trennen musste: Diktatur, Flucht, Exil und vor allem anderen die Ermordung der europäischen Juden. Adornos Philosophie ist eine Philosophie "nach Auschwitz", und wenn es auch untersagt bleibt, diesen Namen unnützlich zu führen, hier ist er unvermeidbar. In der "Negativen Dialektik" hat Adorno den "neuen kategorischen Imperativ" formuliert: "Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschehe." Diese Jahrhundert-Erfahrung teilten die Nachgeborenen nicht, doch bereits der wiederbelebte Antisemitismus heute zeigt die fortdauernde Gültigkeit des Imperativs.
Für Siegfried Kracauer hatten alle Ideen "ein lebensweltliches Unterholz", für Adorno jede Philosophie einen "Zeitkern". Mit dem Verblassen dieses Zeitkerns schält sich stets eine neue, andere Stufe philosophischer Wirkung heraus. Diesen Prozess erzählt Jörg Später in einem rundum überzeugenden, fesselnden Buch. WOLFGANG MATZ
Jörg Später: "Adornos Erben". Eine Geschichte aus der Bundesrepublik.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
760 S., Abb., geb.,
40,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Mehr als siebenhundert Seiten über die "Frankfurter Schule", und dann das: "Ob es eine 'Frankfurter Schule' überhaupt gegeben hat, ist umstritten", bekennt der Autor gleich am Anfang. "Manche wie Habermas gaben kund, dass so etwas wie eine Schule nie existiert habe, das sei ein mediales Konstrukt." Im Falle dieses Falles wäre es dann aber eine umso bemerkenswertere Leistung, über etwas, was es gar nicht gibt, ein derart informatives, gelehrtes, umfangreiches und dennoch höchst kurzweiliges Buch zu schreiben wie "Adornos Erben".
Staunt eigentlich niemand über diesen Titel? Hätte er, mit Blick auf die Gründungsgeschichte des Instituts für Sozialforschung in den Zwanzigern, auf den Neubeginn nach der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil, von Rechts wegen nicht "Horkheimers Erben" lauten müssen? Dass Jörg Später, bekannt durch seine phänomenale Kracauer-Biographie, das Buch nicht nach dem über lange Jahre souverän herrschenden Direktor benannte, sondern nach seinem acht Jahre jüngeren Mitarbeiter, Angestellten, Ko-Autor und schließlich Nachfolger, ist Programm: Gerade für das Nachleben der Frankfurter "Kritischen Theorie" war Theodor W. Adorno die emblematische Gestalt; als Soziologe, Philosoph, Musiktheoretiker und Musiker verband er die Rollen des kritischen Intellektuellen, des leicht hermetischen Philosophen und des schaffenden Künstlers in einer seit Nietzsche nicht mehr da gewesenen faszinierenden Aura, und sein Tod 1969 in den Schweizer Bergen, mitten im antiautoritären Tumult der eigenen vaterkritischen Studentenschaft, bedeutete einen tragisch umwehten Wendepunkt für das Institut und seine Theorie.
Jörg Späters Buch beginnt - nach kurzer Rückschau im mosebachschen Ton "Was bisher geschah" - mit Adornos Tod und Verklärung (denn auf dem Friedhof hielten selbst die Studenten still). Von nun an geht es immer mindestens um zweierlei: um die Geschichte von und die Geschichten aus den Institutionen; also um Theorien, Gedanken einerseits, an-dererseits um Personen, Auf- und Abstiege, Freunde, Gegner und Konkurrenten. Das generische Maskulinum darf man in diesem Fall ausnahmsweise einmal als natürliches verstehen, denn sogar die zwei großen Konferenzen zu Adornos und Horkheimers Nachruhm waren 1983 und 1985 eine derart exklusive Herrenrunde, dass man die Rednerliste heute nur noch mit großen Augen liest. Jörg Später dagegen gibt Adornos Erbinnen durchaus ihren Platz: Helge Pross und Regina Becker-Schmidt, Assistentinnen der beiden Großen, wurden zu einflussreichen Soziologinnen, die sich aus guten Gründen besonders der bis dato vernachlässigten Geschlechterforschung widmeten; Elisabeth Lenk folgte als surrealistisch bewegte Literaturwissenschaftlerin den künstlerischen Spuren Adornos bis nach Paris. Hier könnte man en passant die einzige Fehlstelle des Buches anmerken, denn Adornos Erbschaft in der Musik war - zwischen wütender Ablehnung seitens der Ordinarien und enormem Einfluss auf Studenten, jüngere Wissenschaftler, Kritiker, Komponisten - gegenüber dem zähen Konservatismus des Fachs tatsächlich bahnbrechend und dauerhaft; doch das, zugegeben, hätte noch ein zweites Buch verlangt.
Die längst prähistorische Männerwirtschaft - die Adorno selbst durchaus nicht pflegte - illustriert auch gleich, warum Später sein Buch "Eine Geschichte aus der Bundesrepublik" nennt, aus der alten Bundesrepublik, versteht sich. Es spricht sehr für die handfeste Gegenwartsnähe dieser, nach gängigem Klischee, freischwebenden Intellektuellen, dass in allen Diskussionen und Querelen sich durchweg der epochale Umbau eines ganzen Landes spiegelt, vom misstrauischen Widerstand der widerstandslos Daheimgebliebenen gegen die zurückkehrenden Emigranten über die 68er-Kulturrevolte bis hin zum vorläufigen Kapitelschluss durch die unerwartete Wiedervereinigung. Natürlich ist der von Habermas initiierte und mit härtesten Bandagen ausgefochtene "Historikerstreit" ein entscheidendes, auch folgenreiches Datum, doch anderes, wie etwa der legendäre Kampf um die "Rahmenrichtlinien", liest sich nur noch als halb vergessene Geisterstunde der Reformära: Adornos Schüler Ludwig von Friedeburg war nicht nur Professor für Soziologie und Direktor des Instituts für Sozialforschung, von 1969 bis 1974 trieb er als hessischer Kultusminister auch die dringend überfällige Schulreform so entschieden voran, dass die konservative Fundamentalopposition in ihre wortreiche, doch längst aussichtslose Feldschlacht gegen kommunistische Pappkameraden zog.
Die stets zuverlässige List der Vernunft hat gewollt, dass das Erbschaftsproblem der Frankfurter Schule immer wieder zu demjenigen zurückfindet, für den sie gar nicht existierte: Jürgen Habermas. Welch schöner Existenzbeweis! Er wurde zur Symbolfigur für einen Konflikt, den noch jede philosophische Schule durchzustehen hat: den Konflikt zwischen Bewahrern, die keinen Zweifel kennen an der Autorität ihrer Meister, und den Neuerern, die, auf den Schultern derselben stehend, Ausschau halten nach veränderten Zeitumständen und entsprechenden Ideen. Natürlich, die Ersteren verteidigen einen immer schon verlorenen Posten, denn noch von keiner philosophischen Theorie der Weltgeschichte, von Platon, Kant oder Wittgenstein, wurde je verlangt, dass sie, schwarz-weiß auf dem Papier, eherne Gültigkeit behält. Dennoch, aus dem Kreis der Bewahrer stammen außerordentliche Leistungen; philologische, wie die beispielhaften Ausgaben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, mit denen Adornos und auch Walter Benjamins Texte seither auf sicheren Füßen stehen; historische, wie die Rekonstruktionen der Werkentwicklung durch Alfred Schmidt, der die Frankfurter Stellung hielt, oder Karl Heinz Haag, den eigenbrötlerischen Selbstdenker im Höchster Exil.
"Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt" - die ungeheuer produktive Erbschaft zeigt sich jedoch vor allem durch die Vielfalt jener Namen, die, nach Nietzsches zeitloser Ermahnung, in Philosophie, Kunst, Literatur, Kritik, Musik das Historisch-Werden der Werke akzeptierten, sie weiterdachten, frei und freier, den Intentionen mehr oder weniger treu. Am bunten Ende der breiten Skala Alexander Kluge, Adornos "angenommener Sohn", wie Gretel Adorno ihn nannte, der mit Filmen und Büchern zum höchst eigensinnigen, zeitweise fast populären Geistes-Artisten wurde (und mit Ko-Autor Oskar Negt "Geschichte und Eigensinn" verfasste, das merkwürdigste theorieförmige Bilderbuch aus dem Frankfurter Hof); am anderen, nun tatsächlich schwerst wissenschaftlichen Ende die umstrittene kommunikationstheoretische Wende von Habermas, der in seiner Idee der herrschaftsfreien Verständigung ein neues soziologisches Paradigma schuf. Was immer die traditionsbewussten Kritiker einzuwenden wussten: Habermas ist ganz sicher der einflussreichste, folgenreichste Denker Frankfurter Herkunft - ob man die nun "Schule" nennen will oder nicht. Zwar stand er weiter in enger Verbindung zur Gründungsgeneration, zu Herbert Marcuse oder Leo Löwenthal, doch fürs Erste verabschiedete er sich in Richtung des Max-Planck-Instituts Starnberg.
Das letzte, gewichtige Kapitel zielt noch einmal in die Mitte. Später zitiert den nachgeborenen Politikwissenschaftler Alfons Söllner, der sich ausführlich mit der Vorgängergeneration beschäftigte, doch "ohne daß ich zur Kenntnis genommen hatte, daß es sich ausnahmslos um deutsche Juden handelte, die vor Hitler fliehen mußten". Damit ist die entscheidende Lebenserfahrung benannt, die die Erblasser von den Erben trennen musste: Diktatur, Flucht, Exil und vor allem anderen die Ermordung der europäischen Juden. Adornos Philosophie ist eine Philosophie "nach Auschwitz", und wenn es auch untersagt bleibt, diesen Namen unnützlich zu führen, hier ist er unvermeidbar. In der "Negativen Dialektik" hat Adorno den "neuen kategorischen Imperativ" formuliert: "Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschehe." Diese Jahrhundert-Erfahrung teilten die Nachgeborenen nicht, doch bereits der wiederbelebte Antisemitismus heute zeigt die fortdauernde Gültigkeit des Imperativs.
Für Siegfried Kracauer hatten alle Ideen "ein lebensweltliches Unterholz", für Adorno jede Philosophie einen "Zeitkern". Mit dem Verblassen dieses Zeitkerns schält sich stets eine neue, andere Stufe philosophischer Wirkung heraus. Diesen Prozess erzählt Jörg Später in einem rundum überzeugenden, fesselnden Buch. WOLFGANG MATZ
Jörg Später: "Adornos Erben". Eine Geschichte aus der Bundesrepublik.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
760 S., Abb., geb.,
40,- Euro.
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»Man kann dem Buch, diesem großen Wurf, nur so viele Leser und Leserinnen wie nur irgend möglich wünschen.« Markus Steinmayr der Freitag 20241002