Produktdetails
- Verlag: Hoffmann und Campe
- ISBN-13: 9783455076745
- ISBN-10: 3455076742
- Artikelnr.: 09004521
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2000Verfolgter Giotto, mehr grün als weiß
Wiederentdeckt: Ein fiktiver deutsch-jüdischer Briefroman / Von Volker Breidecker
Allein der Anblick des schmalen Bändchens mit dem lakonischen Titel "Adressat unbekannt" und dem Faksimile eines frankierten und gestempelten Briefumschlags auf schwarzgrauem Einband erweckt unheimliche Gefühle. Jeder Briefschreiber, der einmal eine persönliche Sendung ungeöffnet wieder zurückerhalten hat, kennt die bedrückende Wirkung jener gespenstischen, durch Dienststempel und Unterschrift beglaubigten Formel, die dem Absender von Amts wegen mitteilt, daß er einen Wettlauf mit der Zeit verloren hat.
Ein amerikanischer Jude schreibt im November 1933 nach Deutschland und bittet einen langjährigen Freund und Geschäftspartner um Hilfe bei der Aufklärung des Schicksals seiner dort verschwundenen Schwester. Die letzten Briefe an sie waren ungeöffnet und mit jenem beängstigenden Stempel versehen zurückgekommen. Dem Deutschen, der seine vormals brüderliche Freundschaft zu dem Juden vor kurzem erst aufgekündigt hatte, bekennt der Schreiber ein letztes Mal seine Gefühle: "Welche Dunkelheit diese Worte bergen! Wie kann sie unbekannt sein? Es handelt sich bestimmt um die Mitteilung, daß ihr etwas zugestoßen ist. Sie wissen, was mit ihr geschehen ist, das sagen diese gestempelten Briefe, nur ich soll es nicht erfahren. Sie hat sich in eine Art Leere aufgelöst, und es ist sinnlos, sie zu suchen. All das sagen sie mir mit zwei Worten: ,Adressat unbekannt'."
Diese Sätze, die bereits die anonyme Gewalt der noch kommenden Vernichtungsmaschinerie antizipierten, waren im Oktober 1938 in der amerikanischen Literaturzeitschrift "Story" erschienen. Die dort abgedruckten achtzehn fiktiven Briefe, das eine Telegramm und der täuschend echt faksimilierte Briefumschlag wurden von den Lesern bald von Hand zu Hand und sogar in handkopierter Form weitergereicht, bevor sie im "Reader's Digest" nachgedruckt und im Jahr darauf als selbständige Buchpublikation in hoher Auflage erschienen. Erst als die Realität die Fiktion eingeholt hatte, geriet dieses Meisterwerk einer aufs äußerste verknappten dramatischen Erzählkunst wieder in Vergessenheit. Oder verbot es sich von selbst, fortan von einer fiktiven Schilderung in Form eines kleinen Briefromans zu sprechen? Auch ist der Name seiner Autorin Kathrine Kressmann Taylor, einer ehemaligen Werbetexterin, in keinem Nachschlagewerk der amerikanischen Literaturgeschichte zu finden. Nach einer amerikanischen Neuausgabe vor wenigen Jahren in ist das kaum siebzig Seiten umfassende Buch jetzt in deutscher Übersetzung auch am einstigen Schauplatz seiner Handlung angekommen.
Zum fiktiven Eindruck des Authentischen tragen das Fehlen eines Untertitels, eines Vorworts und jeder Kommentierung von Briefen bei, die scheinbar getreu nach ihren originalen Vorlagen wiedergegeben sind. Sie folgen den Anfechtungen und dem Niedergang einer intimen Freundschaft und datieren allesamt aus der kurzen und doch Welten und Zivilisationen voneinander trennenden Zeitspanne zwischen Ende 1932 und Anfang 1934. In San Francisco hatten Max Eisenstein und sein deutscher Partner Martin Schulse gemeinsam eine florierende Kunstgalerie betrieben, bis der Deutsche kurz vor Hitlers Machtantritt in seine Heimat zurückkehrt. Den neuen Verhältnissen steht er anfangs skeptisch gegenüber, bis er sich aus geschäftstüchtigem Opportunismus, der bald in flammende Begeisterung übergeht, den Nationalsozialisten anschließt und zu Ämtern und Würden gelangt. Auf den Hilferuf Eisensteins, mit dessen Schwester er durch eine leidenschaftliche Liebesbeziehung verbunden war, antwortet Schulse mit der Anrede "Heil Hitler!" und dem kalten Bedauern darüber, "schlechte Nachrichten überbringen zu müssen": Griselle, die als Schauspielerin in Berlin gastiert hatte, wo sie wegen ihres jüdischen Aussehens von der Bühne verjagt worden sei, habe sich verängstigt nach München durchgeschlagen. Dort habe sie die Unvorsichtigkeit besessen, ausgerechnet ihn um Schutz und Obdach zu ersuchen. Von SA-Leuten verfolgt, sei sie bis an seine Haustür gelangt, wo er sie abgewiesen habe: "Ich gehe ins Haus, und nach wenigen Minuten hört sie auf zu schreien." Der Brief endet mit der Aufforderung, von jedem weiteren Kontakt und brieflichem Verkehr Abstand zu nehmen.
Diese Geschichte klingt einfach, beinahe zu einfach und scheint keinem Klischee aus dem Wege zu gehen. Doch der Eindruck täuscht, denn die mit den subtilen Techniken eines Briefromans, dessen Figuren sich wechselseitig selbst erzählen, in dichter Folge aufgebauten Klischees werden durch ihre plötzliche Umkehrung von Grund auf demaskiert. Unmittelbar nach der überbrachten Todesnachricht bricht in den brieflichen Dialog eine zweite Fiktionsebene ein. Indem er im Rollenspiel sämtliche stereotypen Eigenschaften annimmt, die ihm der antisemitischen Logik gemäß anhaften sollen, schlägt und desavouiert Eisenstein die sprachlichen Codierungen des Rassismus mit dessen eigenen Waffen: Da er weiß, daß die Zensur mitliest, schreibt er neue Briefe an Schulse, in denen er unter dem Deckmantel künstlerischer Händel die Rolle eines Verschwörers und Agenten mimt, der sich einer Geheimsprache bedient, um dessen Schlüssel offenbar nur die vermeintlichen Briefpartner wissen. Den Empfänger spricht er jetzt nicht mehr als "Mein lieber Martin" an, sondern als Angehörigen eines Kollektivs, als "Martin, unser lieber Bruder", und informiert ihn über die Wertigkeiten von Ölfarben, über "Rubens, 12 auf 77, blau" und "Giotto, 1 auf 317, grün und weiß", bevor er ihn dem "Gott Mosis" anempfiehlt. Schulse antwortet ein einziges Mal mit einem verzweifelten, über einen Mittelsmann versandten Brief und bittet um Mitleid. Bald darauf geht wieder ein Brief ungeöffnet und mit dem unheimlichen Stempel "Adressat unbekannt" versehen an seinen Absender zurück.
Sobald man dieses kleine Büchlein nicht mehr von der ersten bis zur letzten Seite liest, sondern darin blättert wie in einem Bündel alter Briefe, entpuppt es sich als ein widerständiges Dokument von bestechender Kunstfertigkeit.
Kressmann Taylor: "Adressat unbekannt". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dorothee Böhm. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2000. 69 S., geb., 24,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wiederentdeckt: Ein fiktiver deutsch-jüdischer Briefroman / Von Volker Breidecker
Allein der Anblick des schmalen Bändchens mit dem lakonischen Titel "Adressat unbekannt" und dem Faksimile eines frankierten und gestempelten Briefumschlags auf schwarzgrauem Einband erweckt unheimliche Gefühle. Jeder Briefschreiber, der einmal eine persönliche Sendung ungeöffnet wieder zurückerhalten hat, kennt die bedrückende Wirkung jener gespenstischen, durch Dienststempel und Unterschrift beglaubigten Formel, die dem Absender von Amts wegen mitteilt, daß er einen Wettlauf mit der Zeit verloren hat.
Ein amerikanischer Jude schreibt im November 1933 nach Deutschland und bittet einen langjährigen Freund und Geschäftspartner um Hilfe bei der Aufklärung des Schicksals seiner dort verschwundenen Schwester. Die letzten Briefe an sie waren ungeöffnet und mit jenem beängstigenden Stempel versehen zurückgekommen. Dem Deutschen, der seine vormals brüderliche Freundschaft zu dem Juden vor kurzem erst aufgekündigt hatte, bekennt der Schreiber ein letztes Mal seine Gefühle: "Welche Dunkelheit diese Worte bergen! Wie kann sie unbekannt sein? Es handelt sich bestimmt um die Mitteilung, daß ihr etwas zugestoßen ist. Sie wissen, was mit ihr geschehen ist, das sagen diese gestempelten Briefe, nur ich soll es nicht erfahren. Sie hat sich in eine Art Leere aufgelöst, und es ist sinnlos, sie zu suchen. All das sagen sie mir mit zwei Worten: ,Adressat unbekannt'."
Diese Sätze, die bereits die anonyme Gewalt der noch kommenden Vernichtungsmaschinerie antizipierten, waren im Oktober 1938 in der amerikanischen Literaturzeitschrift "Story" erschienen. Die dort abgedruckten achtzehn fiktiven Briefe, das eine Telegramm und der täuschend echt faksimilierte Briefumschlag wurden von den Lesern bald von Hand zu Hand und sogar in handkopierter Form weitergereicht, bevor sie im "Reader's Digest" nachgedruckt und im Jahr darauf als selbständige Buchpublikation in hoher Auflage erschienen. Erst als die Realität die Fiktion eingeholt hatte, geriet dieses Meisterwerk einer aufs äußerste verknappten dramatischen Erzählkunst wieder in Vergessenheit. Oder verbot es sich von selbst, fortan von einer fiktiven Schilderung in Form eines kleinen Briefromans zu sprechen? Auch ist der Name seiner Autorin Kathrine Kressmann Taylor, einer ehemaligen Werbetexterin, in keinem Nachschlagewerk der amerikanischen Literaturgeschichte zu finden. Nach einer amerikanischen Neuausgabe vor wenigen Jahren in ist das kaum siebzig Seiten umfassende Buch jetzt in deutscher Übersetzung auch am einstigen Schauplatz seiner Handlung angekommen.
Zum fiktiven Eindruck des Authentischen tragen das Fehlen eines Untertitels, eines Vorworts und jeder Kommentierung von Briefen bei, die scheinbar getreu nach ihren originalen Vorlagen wiedergegeben sind. Sie folgen den Anfechtungen und dem Niedergang einer intimen Freundschaft und datieren allesamt aus der kurzen und doch Welten und Zivilisationen voneinander trennenden Zeitspanne zwischen Ende 1932 und Anfang 1934. In San Francisco hatten Max Eisenstein und sein deutscher Partner Martin Schulse gemeinsam eine florierende Kunstgalerie betrieben, bis der Deutsche kurz vor Hitlers Machtantritt in seine Heimat zurückkehrt. Den neuen Verhältnissen steht er anfangs skeptisch gegenüber, bis er sich aus geschäftstüchtigem Opportunismus, der bald in flammende Begeisterung übergeht, den Nationalsozialisten anschließt und zu Ämtern und Würden gelangt. Auf den Hilferuf Eisensteins, mit dessen Schwester er durch eine leidenschaftliche Liebesbeziehung verbunden war, antwortet Schulse mit der Anrede "Heil Hitler!" und dem kalten Bedauern darüber, "schlechte Nachrichten überbringen zu müssen": Griselle, die als Schauspielerin in Berlin gastiert hatte, wo sie wegen ihres jüdischen Aussehens von der Bühne verjagt worden sei, habe sich verängstigt nach München durchgeschlagen. Dort habe sie die Unvorsichtigkeit besessen, ausgerechnet ihn um Schutz und Obdach zu ersuchen. Von SA-Leuten verfolgt, sei sie bis an seine Haustür gelangt, wo er sie abgewiesen habe: "Ich gehe ins Haus, und nach wenigen Minuten hört sie auf zu schreien." Der Brief endet mit der Aufforderung, von jedem weiteren Kontakt und brieflichem Verkehr Abstand zu nehmen.
Diese Geschichte klingt einfach, beinahe zu einfach und scheint keinem Klischee aus dem Wege zu gehen. Doch der Eindruck täuscht, denn die mit den subtilen Techniken eines Briefromans, dessen Figuren sich wechselseitig selbst erzählen, in dichter Folge aufgebauten Klischees werden durch ihre plötzliche Umkehrung von Grund auf demaskiert. Unmittelbar nach der überbrachten Todesnachricht bricht in den brieflichen Dialog eine zweite Fiktionsebene ein. Indem er im Rollenspiel sämtliche stereotypen Eigenschaften annimmt, die ihm der antisemitischen Logik gemäß anhaften sollen, schlägt und desavouiert Eisenstein die sprachlichen Codierungen des Rassismus mit dessen eigenen Waffen: Da er weiß, daß die Zensur mitliest, schreibt er neue Briefe an Schulse, in denen er unter dem Deckmantel künstlerischer Händel die Rolle eines Verschwörers und Agenten mimt, der sich einer Geheimsprache bedient, um dessen Schlüssel offenbar nur die vermeintlichen Briefpartner wissen. Den Empfänger spricht er jetzt nicht mehr als "Mein lieber Martin" an, sondern als Angehörigen eines Kollektivs, als "Martin, unser lieber Bruder", und informiert ihn über die Wertigkeiten von Ölfarben, über "Rubens, 12 auf 77, blau" und "Giotto, 1 auf 317, grün und weiß", bevor er ihn dem "Gott Mosis" anempfiehlt. Schulse antwortet ein einziges Mal mit einem verzweifelten, über einen Mittelsmann versandten Brief und bittet um Mitleid. Bald darauf geht wieder ein Brief ungeöffnet und mit dem unheimlichen Stempel "Adressat unbekannt" versehen an seinen Absender zurück.
Sobald man dieses kleine Büchlein nicht mehr von der ersten bis zur letzten Seite liest, sondern darin blättert wie in einem Bündel alter Briefe, entpuppt es sich als ein widerständiges Dokument von bestechender Kunstfertigkeit.
Kressmann Taylor: "Adressat unbekannt". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dorothee Böhm. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2000. 69 S., geb., 24,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
""Diese Geschichte klingt einfach, beinahe zu einfach", meint Rezensent Volker Breidecker. "Doch der Eindruck täuscht!" Und tatsächlich klingt das, was er über diesen Briefroman zu schreiben hat, ziemlich aufregend. Dieser Roman war, lesen wir, 1938 zuerst in der amerikanischen Literaturzeitschrift "Story" erschienen, und die darin erzählte Geschichte antizipierte, so Breidecker, die "noch kommende Vernichtungsmaschinerie". Ein amerikanischer Jude bittet im November 1933 einen in Deutschland lebenden Freund, ihm zu helfen, das Schicksal seiner verschwundenen Schwester zu klären. Die Klärung erfolgt und ist furchtbar. Aber auch die Rache, die ebenfalls nur durch Briefe geschieht. Doch offensichtlich habe die Realität dieses "Meisterwerk einer aus Äußerste verknappten dramatischen Erzählkunst" eingeholt, meint der Rezensent. Jedenfalls suche man auch nach dem Namen der Autorin Katherine Kressmann Taylor in Werken zur amerikanischen Literaturgeschichte vergeblich. Nach der amerikanischen Neuauflage und der jetzt erfolgten deutschen Übersetzung könnte sich das schlagartig ändern.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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