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Ein Schwarm von Ärzten und Kranken durchzieht Marcel Prousts Romanzyklus »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Seerosen werden mit Neurasthenikern verglichen, Liebeskranke hoffen, durch Impfstoffe immun zu werden, und im Salon von Madame de Saint-Euverte taucht der Komma- Bazillus, die Cholera, auf. Trotz dieser Überfülle an medizinischen Motiven in Prousts Werk rückte dessen Vater Adrien, seinerzeit als Pionier der Epidemiologie durchaus eine prominente Figur, kaum in den Blick.Lothar Müller bringt Sohn und Vater wieder zusammen und wirft davon ausgehend ein neues Licht auf die…mehr

Produktbeschreibung
Ein Schwarm von Ärzten und Kranken durchzieht Marcel Prousts Romanzyklus »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Seerosen werden mit Neurasthenikern verglichen, Liebeskranke hoffen, durch Impfstoffe immun zu werden, und im Salon von Madame de Saint-Euverte taucht der Komma- Bazillus, die Cholera, auf. Trotz dieser Überfülle an medizinischen Motiven in Prousts Werk rückte dessen Vater Adrien, seinerzeit als Pionier der Epidemiologie durchaus eine prominente Figur, kaum in den Blick.Lothar Müller bringt Sohn und Vater wieder zusammen und wirft davon ausgehend ein neues Licht auf die Wechselwirkung zwischen moderner Literatur und Medizin. Er zeigt, wie sich der Sohn durch die Forschungswelten des Vaters inspirieren ließ und dass umgekehrt der Vater in seinem Kampf gegen die scheinbar aus dem Orient hereinbrechende Seuchengefahr auf die Formulierungskünste und die Vorstellungskraft seines Erstgeborenen zurückgriff.So entsteht ein meisterhaftes Panorama des flirrenden gesellschaftlichen Lebens einer als Belle Époque verklärten Zeit, in der die psychischen Innenwelten literarisch neu erschlossen wurden und Europa den Globus nach seinen - politischen, kulturellen und hygienischen - Vorstellungen prägte.
Autorenporträt
Lothar Müller, geboren 1954 in Dortmund, Kultur- und Literaturwissenschaftler, bis 2020 Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung mit Sitz in Berlin, ist Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Für seine feuilletonistische Arbeit wurde er u. a. mit dem Alfred-Kerr-Preis und dem Johann-Heinrich-Merck-Preis ausgezeichnet.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension

Marc Reichwein kann sich auf die kulturhistorische Expertise von Lothar Müller verlassen. Anschaulich und analytisch gekonnt spürt der Autor laut Reichwein in seinem Buch über Marcel Proust und seinen Vater, den Epidemiologen Adrien Proust, den Zusammenhängen von Medizin und Literatur, von Seuche und "Suche" nach. Vor dem Hintergrund der Pandemie liest sich das für Reichwein noch mal so spannend. Für Proustianer schließt Müller definitiv eine Wissenslücke, versichert der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.06.2021

Meine Leser gibt es nicht

In der kommenden Woche jährt sich Marcel Prousts Geburtstag zum hundertfünfzigsten Mal. Aus diesem Anlass erscheinen viele Bücher - vor allem Betrachtungen über den Schriftsteller. Welche davon sind besonders lesenswert? Und welche sollte man meiden?

Kein Schriftsteller dürfte so wenig mit eigenen Lesern gerechnet haben wie Marcel Proust. Im letzten Band seines Romanzyklus "À la recherche du temps perdu" (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) heißt es, dass jeder Leser, wenn er lese, nur ein Leser seiner selbst sei: "Das Werk des Schriftstellers ist lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte sehen können." Und ein paar hundert Seiten weiter, kurz vor Ultimo, nimmt Proust diesen Gedanken fast wortgleich noch einmal auf und bekräftigt, dass er deshalb gar nicht an etwaige Leser denke: "Sie würden meiner Meinung nach nicht meine Leser sein." Weil Leser immer nur nach sich selbst suchen. Aber die "Recherche" gibt ihnen einiges zu finden, weil diesem Buch nichts Menschliches fremd ist.

Marcel Proust wurde vor 150 Jahren geboren, und er wird derzeit gelesen wie nie zuvor. Da im kommenden Jahr dann auch noch der hundertste Todestag ansteht, überbieten die deutschsprachigen Verlage sich mit Publikationen. Da jedoch das literarische Werk keine großen Entdeckungen bereithielt (Suhrkamp publiziert immerhin die jüngst in Frankreich aufgetauchten "Frühen Erzählungen, F.A.Z. vom 19. Oktober 2019), ist Prousts Leben Hauptgegenstand dieser Bücher. Die Neugier darauf war immer schon groß, weil die "Recherche" von Beginn an als Schlüsselroman gelesen wurde, in den nahezu alles Eingang gefunden haben soll, was Proust selbst erlebt hat. Dass zugleich kein anderes Buch so viel über uns andere erzählt, macht das Dasein seines Autors zu einem beinahe unheimlichen Phänomen: Wir alle stecken da mit drin. Doch dann kommt der Schriftsteller Michael Kleeberg, selbst Teilübersetzer der "Recherche", und charakterisiert ungeachtet des begeisterten Gedenkens an Geburt und Tod des Schriftstellers die Zeit dazwischen so: "Es gibt kaum ein langweiligeres Schriftstellerleben als das Marcel Prousts."

Diese Feststellung stammt aus Kleebergs Nachwort zur Neuausgabe des berühmtesten und zugleich frühesten Textes der umfangreichen deutschen Proust-Rezeption, Ernst Robert Curtius' 1925 erschienenem umfangreichem Essay über Proust, der unmittelbar nach der ersten, von Curtius als misslungen erachteten deutschen Übersetzung eines Einzelbandes der "Recherche" dem hiesigen Publikum die Bedeutung dieses Autors klarzumachen versuchte. Proust selbst hatte kurz vor dem Tod mit dem Romanisten noch Briefe über einen von dessen kürzeren Aufsätzen zu seinem Werk gewechselt und war entzückt über die Intensität der Lektüre von Curtius. Was hätte es für den Leser Proust auch Schöneres geben können als die Beschäftigung mit dem Autor Proust? Warum sollte er sich in seinem Lese-Interesse von all den anderen Lesern unterscheiden?

Wenn wir heute Curtius wiederlesen, dann suchen wir in seiner zeitgenössischen Hinführung zu einem zeitlosen Schriftsteller eine Nähe, die nicht aus der Intimität des Zusammenlebens entsteht, sondern aus der des Zusammenlesens: Curtius deutet Prousts Schreiben aus dessen Lektüren heraus - die auch die seinen waren - und führt dadurch die eigene literaturwissenschaftliche Methode vor. Und er schreibt: "Für einen solchen Künstler bedeutet sein Leben schließlich nur mehr das unentbehrliche Organ der Anschauung: dasselbe, was dem Naturforscher seine Beobachtungsinstrumente sind." Curtius zitierte damit nicht etwa die entsprechenden Passagen aus dem letzten Band der "Recherche", denn der war 1925 auch im französischen Original noch gar nicht erschienen. Er verstand einfach Proust.

Damit ist seine Studie immer noch der positive Gegenpol zu einem anderen berühmten Buch über Proust, das jetzt ebenfalls auf Deutsch wiederaufgelegt worden ist: die Erinnerungen der Haushälterin Céleste Albaret, die in dessen letzten neun Jahren zur engsten Bezugsperson des immer zurückgezogener lebenden Schriftstellers geworden war. Befragt wurde sie erst ein halbes Jahrhundert danach, und die nunmehrige Greisin nahm die Gelegenheit wahr, mit dem, was sie als Legendenbildung oder üble Nachrede über ihren früheren Dienstherrn ansah, aufzuräumen. Das ist sympathisch, und immerhin wollte sie sich auch an Prousts Reaktion auf einen Brief von Curtius erinnern, den er ihr gezeigt und dazu ausgerufen habe: "Ich bin sehr stolz; ,klassisch', das ist großartig!" Aber für Curtius ist Proust gerade nicht "klassisch" gewesen.

Als 1974 Albarets "Monsieur Proust" erschien, rätselte man, inwieweit es das Werk seines Herausgebers Georges Belmont sei, weil die Mitschnitte oder auch nur Notizen seiner sich angeblich auf siebzig Stunden summierenden Gespräche mit der Haushälterin nicht zugänglich waren. Das hat sich geändert, die Druckversion ist authentisch. Das ist wichtig, denn schon beim markantesten Moment ihres Lebens mit Proust, dessen Tod am Nachmittag des 18. November 1922, weicht Albarets Version von allen anderen Zeugnissen ab: "Es war halb fünf Uhr." Als Prousts engster Freund, der Komponist Reynaldo Hahn, noch am selben Tag andere Vertraute mit Telegrammen über das Hinscheiden informierte, nannte er als Todeszeitpunkt halb sechs. In der Forschung hält man sich an diese Zeitangabe, hat aber keine Skrupel, ansonsten Céleste Albarets Erinnerungen für bare Münze zu nehmen.

Hahn ist ein anderer Fall. Seine Freundschaft mit Proust, die in den ersten beiden Jahren, von 1894 bis 1896, allem Anschein nach eine homosexuelle Liebesbeziehung war, ist Thema eines im Original zwei Jahre alten Buches der italienischen Journalistin Lorenza Foschini, das jetzt auch auf Deutsch erschienen ist. Wenn man bedenkt, dass Bernd-Jürgen Fischer, der in den letzten acht Jahren eine atemraubende Proust-Übersetzeraktivität (inklusive einer neuen deutschen Fassung der kompletten "Recherche") entfaltet hat, erst 2018 eine mehr als fünfhundertseitige Ausgabe des Briefwechsels zwischen Hahn und Proust erstellt hat, sind die 230 großgedruckten kleinen Seiten des Foschini-Buchs eine Enttäuschung, zumal sie etliche der von Fischer aufgespürten Briefe gar nicht zu kennen scheint. Zudem beschränkt sie sich größtenteils auf die Zeit der frühen Intimität, vernachlässigt also ein ganzes Vierteljahrhundert - Prousts halbes Leben und sein ganzes literarisch aktives -, in dem Hahn zu einem wichtigen Lieferanten von Informationen über die Künstlerwelt für das Romanprojekt wurde, weil der asthmakranke Autor seine Wohnung nur noch selten verließ.

Fischer verdanken wir auch ein neues Buch namens "Auf der Suche nach Marcel Proust", in dem der Umkreis des Schriftstellers in Bild und Wort vorgestellt wird - ein veritables "Album", wie der Untertitel lautet. Es ist verblüffend, wie stark bebildert die meisten Proust-Neuerscheinungen sind; im Falle des hübschen, aber eher gehaltlosen Bändchens "Briefe an seine Nachbarin" aus der Insel-Bücherei nehmen Fotos und Faksimiles nahezu ebenso viel Raum ein wie die 23 vor zehn Jahren entdeckten und nun erstmals übersetzten Schreiben Prousts an Marie Williams, die Frau eines in der Etage über Prousts Wohnung praktizierenden Zahnarztes. Da es darin aber ohnehin fast nur um die Lärmempfindlichkeit des tagsüber regelmäßig bis sechzehn Uhr schlafenden Schriftstellers geht, ist das Amüsement zwar groß, der Erkenntnisgewinn aber gering. Wobei es einen Satz in diesem Briefverkehr gibt, der staunen macht, geschrieben 1915, also im Ersten Weltkrieg, unter dem Eindruck des Todes der Mutter eines Freundes: "Ich schleppe in meinem Denken schon so viele verweste Tote mit mir herum, dass jede Nachricht zur Übersättigung führt und all meinen Kummer zu einem unzerstörbaren Block verdichtet."

Eine jener Toten, die ihn nie verließen, war Prousts eigene Mutter, die 1905 gestorben war - nachdem sein Vater ihr schon zwei Jahre zuvor vorausgegangen war, was sie dem sensiblen Sohn zu dessen nachmittäglicher Schlafenszeit denkbar dezent mitgeteilt hatte: "Entschuldige, dass ich dich wecke, aber deinem Vater ist in der École unwohl geworden." Adrien Proust war Arzt, einer der prominentesten im Frankreich seiner Zeit sogar, weil sein Fachgebiet die Seuchenprävention war. Es konnte deshalb nicht ausbleiben, dass sich jetzt in der Corona-Pandemie erstmals intensives Interesse auf Proust père gerichtet hat, beginnend im vergangenen Herbst mit einem schmalen Buch des Präsidenten der deutschen Marcel-Proust-Gesellschaft, Reiner Speck, seines Zeichens selbst Mediziner, das nur in kleiner Auflage an die Mitglieder der Gesellschaft verteilt wurde. Speck konstatiert darin zu Recht, dass Adrien Prousts Vorworte zu Fachbüchern "in Aufbau, Inhalt und Stil eher einer unterhaltsamen philosophischen Abhandlung denn einer fachspezifischen Einleitung" ähneln. Zwei von ihnen sind für die Publikation übersetzt worden.

Solche Übersetzungen fehlen leider in Lothar Müllers Studie "Adrien Proust und sein Sohn Marcel", dem unbestrittenen Höhepunkt der bisherigen deutschsprachigen Jubiläumsveröffentlichungen. Dabei charakterisiert der Autor selbst sein Buch als Schnellschuss, geboren aus der medizinischen Aktualität. Mag zudem auch gut sein, dass Julian Barnes' grandioses Porträt des Arztes Samuel Pozzi aus dem Proust-Umfeld, deutsch jüngst als "Der Mann im roten Rock", erschienen in England aber schon Anfang 2020, Anregung gewesen ist. Müllers Einsatz von Bildern ist jedenfalls dem von Barnes sehr ähnlich. Hätte sich der Wagenbach Verlag doch auch zu einem ähnlich schönen Titelbild inspirieren lassen, statt die furchtbar hässliche Fotomontage zu fabrizieren, die nun von Müllers Buch eher abschreckt.

Aber man störe sich nicht daran, und auch nicht daran, dass Müller gar nicht vom privaten Verhältnis zwischen Vater und Sohn erzählt; kein Wort bei ihm von Marcel Prousts bitterer Bemerkung nach dem Tod von Adrien Proust, er sei als Sohn wohl der "dunkle Punkt" in dessen Leben gewesen. Müller leistet mehr: Er arbeitet die Ähnlichkeiten in beider Weltblick heraus, und ihm gelingt ein Doppelporträt des Fin de Siècle aus medizinischer und literarischer Sicht. Beide Disziplinen waren damals eng verbunden; nicht nur in der "Recherche" sieht Müller "die unablässige Einspeisung aktueller medizinischer Stoffe und Terminologie in die Salonkonversation" am Werk. Und er bekräftigt die schon ältere Vermutung, dass der Sohn dem Vater beratend bei dessen Texten zur Seite gestanden habe - allerdings leider ohne breitere Textexegese. Da ist Specks Büchlein dann besonders hilfreich.

Darin findet sich Adrien Prousts Vorwort zu seinem 1891 erschienenen "Traité d'Hygiène" und darin wiederum der Satz: "Alles, was den Menschen betrifft, gehört zur Hygiene; er muss sich einfach für alles interessieren und kann sich den Gedanken des Dichters zueignen: Nil humani a me alienum puto." Mit dem Terenz-Zitat ist genau die anfangs erwähnte Stärke der "Recherche" benannt, die es zu einem solchen Menschheitsbuch macht. Wer wen mehr beeinflusste - der Vater den Sohn durch sein berufspraktisches Vorbild oder umgekehrt dieser jenen durch Formulierungskunst und Gedankenbreite -, das muss noch offenbleiben, aber Lothar Müllers Buch eröffnet die Diskussion.

In einem Brief an Curtius nannte der bettlägrige Proust einen Monat vor seinem Tod die Medizin "eine außerordentlich komische Wissenschaft (?)", obwohl ja sein Vater und auch der jüngere Bruder Robert darin reüssiert hätten. Ihm selbst jedoch nutzte das nichts mehr: ". . . . mein Vater ist leider schon verstorben, und was meinen Bruder angeht, so bin ich zu krank, um ihn zu empfangen." Zu krank für den Arzt - Marcel Proust seinerseits war ein außerordentlich komischer Schriftsteller.

ANDREAS PLATTHAUS.

Lothar Müller: "Adrien Proust und sein Sohn Marcel". Beobachter der erkrankten Welt.

Wagenbach Verlag, Berlin 2021. 224 S., Abb., br., 22,- [Euro].

Marcel Proust: "Briefe an seine Nachbarin".

Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Mit einem Essay von Andreas Maier. Insel Verlag, Berlin 2021. 117 S., Abb., geb., 14,- [Euro].

Lorenza Foschini: "Und der Wind weht durch unsere Seelen". Marcel Proust und Reynaldo Hahn. Aus dem Italienischen von Peter Klöss. Nagel & Kimche, München 2021. 237 S., 2 Abb., geb., 22,- [Euro].

Bernd-Jürgen Fischer (Hrsg.): "Auf der Suche nach Marcel Proust". Ein Album in Bildern und Texten.

Reclam Verlag, Ditzingen 2020. 246 S., Abb., geb., 28,- [Euro].

"Monsieur Proust". Die Erinnerungen seiner Haushälterin Céleste Albaret.

Aus dem Französischen von Margaret Carroux. Gatsby Verlag, Zürich 2021. 539 S., Abb., geb., 34,- [Euro].

Ernst-Robert Curtius: "Marcel Proust".

Mit Übersetzungen und einem Nachwort von Michael Kleeberg. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2021. 200 S., Abb., geb., 24,- [Euro].

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