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Eine Ästhetik des Augenblicks ist eine Ästhetik der Zeit. Einer besonderen Form der Zeit, der ›eingestürzten‹, punktuell verdichteten Zeit, wie Bruno Hillebrand in seinem grundlegenden Essay ausführt. Dieser Zeit galt die poetische Hoffnung, aus der verlöschenden metaphysischen Materie noch einmal Funken zu schlagen. Seit der Aufklärung hat die Geschwindigkeit zeitlicher Erfahrung zugenommen: Je unaufhaltsamer die Ewigkeit am Horizont verschwand, um so mehr drängte sich die Zeit den Menschen auf. Zeit erzeugt durch ihr ständiges Verschwinden Angst; die Romantiker brachten das als erste…mehr

Produktbeschreibung
Eine Ästhetik des Augenblicks ist eine Ästhetik der Zeit. Einer besonderen Form der Zeit, der ›eingestürzten‹, punktuell verdichteten Zeit, wie Bruno Hillebrand in seinem grundlegenden Essay ausführt. Dieser Zeit galt die poetische Hoffnung, aus der verlöschenden metaphysischen Materie noch einmal Funken zu schlagen. Seit der Aufklärung hat die Geschwindigkeit zeitlicher Erfahrung zugenommen: Je unaufhaltsamer die Ewigkeit am Horizont verschwand, um so mehr drängte sich die Zeit den Menschen auf. Zeit erzeugt durch ihr ständiges Verschwinden Angst; die Romantiker brachten das als erste Generation literarisch zum Ausdruck. Da die Ewigkeit als Glauben zurückliegt und als Utopie, als Hoffnung, voraus, bleibt dem Menschen nur eine Möglichkeit, Sein und Zeit in einem Schnittpunkt zu verdichten: in der Erfahrung des gesteigerten, erfüllten Augenblicks. Der Topos ›Augenblick‹ steht in diesem Sinne bei Goethe, bei Schiller, vor allem aber bei Kleist, bei Nietzsche und Benn im Zentrum der poetischen Vision. Blitz und Augenblick und Epiphanie werden zu literarischen Zeichen einer nicht mehr einholbaren Metaphysik. Episch wird der Augenblick zum generellen Strukturmoment bei Proust, bei Joyce, bei Virginia Woolf, Musil und anderen Romanciers der Weltliteratur in unserem Jahrhundert. Kulturphilosophisch erhob Ernst Bloch mit dem Prinzip Hoffnung den Augenblick noch einmal zu einem wesentlichen Faktor ontologischer Bestimmung.
Autorenporträt
Bruno Hillebrand, geb. 1935 im Rheinland, lebt nach Aufenthalten in München, Wien und Berlin seit 1971 im Rheingau. Archäologisches und kulturgeschichtliches Interesse war Anlass zu ausgedehnten Reisen, früh schon im Mittelmeerraum, später nach Indien, Indonesien, Japan, Mexiko, Amerika.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.06.1999

Flüchtige Reise ins Paradies
Bruno Hillebrand gibt dem Augenblick Buchdauer

Im Paradies hat es den Augenblick nicht gegeben. Ein Augenaufschlag genügte, um ihn zu erfinden und der langen Weile zeitloser Ewigkeit ein Ende zu bereiten: Den Apfel in der Hand, sehen die Verführten sich an, beißen zu und erkennen - den Geschmack der Sünde noch auf der Zunge -, daß sie nackt sind. Erst die Erfahrung der Sterblichkeit bringt auch das Bewußtsein von Zeit mit sich. Der Augenblick wird mit dem Sündenfall geboren.

Ganz buchstäblich beginnt Bruno Hillebrand seine Geschichte von der "Ästhetik des Augenblicks" bei Adam und Eva. Von den paradiesischen Prämissen zum künstlerischen Selbstverständnis der Neuzeit nämlich ist es für den Literaturwissenschaftler nicht weit. Was mit dem Verlust der Ewigkeit geboren wird, ist der poetische Augenblick, eine Vision "erfüllter" und "komprimierter" Zeit, der nach Einsturz des ptolemäischen Weltbilds die dichterische Hoffnung gilt. Je unaufhaltsamer die Ewigkeit am Horizont verschwindet, um so mehr drängt sich die Utopie auf, aus der verlöschenden Materie noch einmal Funken zu schlagen und in der Erfahrung des gesteigerten Moments Sein und Zeit in einem Schnittpunkt zu verdichten. Als "Geistesblitz" fängt dieser die Ewigkeit noch einmal ein und wird zum Schöpfungsmythos.

Wie schnell dieser Mythos dann aber wieder an Leuchtkraft verliert und der absolute Augenblick sich auf dem Weg vom achtzehnten ins neunzehnte Jahrhundert relativiert, führt Hillebrand vor. Noch in der Frühromantik erscheint er wie ein Komet, der aus der Unendlichkeit kommt und dorthin verschwindet. Nietzsche erfährt ihn als Epiphanie seines Lebens - als "Blitz" am Ufer des Sees von Silvaplana - und leitet aus ihm die Augenblicks-Philosophie des "Zarathustra" ab. Bei Hofmannsthal dann wird er in der Begegnung mit Kunst zum höchsten Steigerungsmoment für den, der Kunst selbst nicht schaffen kann, bevor am Ende nur noch der Augenblick glückhafter Erinnerung bleibt oder der "andere Zustand" als Erlebnis tagheller Mystik.

Auf hundertsechzig Seiten jagt Bruno Hillebrand durch die ganze Geistesund Literaturgeschichte: vom Sündenfall zur Alltagslyrik der siebziger Jahre und wieder zurück zum Nunc stans der Mystik. Lakonisch werden Goethe, Schiller, Kleist und Nietzsche auf engstem Raum verhandelt. Den epischen Großprojekten der Moderne - Musils "Mann ohne Eigenschaften" und Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" - widmet der Autor gerade mal zwanzig kurze Seiten. Zu Momentaufnahmen verkümmern so die Kapitel, die dem Leser im Blitzlicht gleich die ganze Ahnengalerie der Dichter und Denker präsentieren wollen.

Adorno, heißt es beiläufig, habe Proust wohl nicht zu Ende gelesen, als er behauptete, die Poetik des erfüllten Augenblicks - der "unwillkürlichen Erinnerung" - werde durch den Roman zuletzt doch nicht eingelöst. "Unvergleichliche Gewalt", schrieb Adorno in der "Negativen Dialektik", gehe vom Metaphysiker Proust aus, der den Sinn nicht im Leben überhaupt, sondern in den erfüllten Augenblicken suche. Der Unbestechliche aber habe durch den Fortgang des Romans bekräftigt, "daß auch jene Fülle, der durchs Eingedenken gerettete Augenblick, es nicht sei". Hillebrand ist da anderer Meinung. Im letzten Band "Die wiedergefundene Zeit" - daran hält er fest - schließt sich bei Proust der Kreis und erfüllt sich die Suche. Nach Tausenden von Seiten kommt dem Erzähler die Einsicht, daß Suchen und Gesuchtes identisch sind.

Daß man bei Proust von einem Widerstreit zweier Poetiken, ja zweier Romane sprechen kann, erwähnt er dabei nicht. Wenn das Werk abschließend eine romantisch geprägte Erinnerungspoetik formuliert, skizziert es doch andernorts auch eine nachromantische Imaginationspoetik, die sich umgekehrt am Reiz des Perspektivischen und Flüchtigen entzündet. Allein in der Entstehungsphase der Vorkriegszeit - das haben Prousts "Cahiers" gezeigt - war der Plan noch ein Roman der verlorenen und schließlich wiedergefundenen Zeit. Der fertige, im Titel umrissene Handlungsrahmen sollte nach und nach gefüllt werden. Was dann nach 1914 entsteht, ist aber vor allem ein "Roman der Albertine". Die Suche gerät aus den Fugen.

Natürlich zeigt die Studie an anderer Stelle, daß der "erfüllte Augenblick" und die Momentaufnahmen flüchtiger Wirklichkeit in der Moderne immer mehr zu konkurrierenden Modellen werden. Was aber - so wäre einzuwenden - ist eine "Ästhetik des Augenblicks" hier ohne die technikgeschichtlichen Voraussetzungen der neu sich ausbildenden Wahrnehmung? Was ist sie ohne die "Reizüberschüsse" und "Chockerlebnisse" der Großstadt, wie Walter Benjamin sie diagnostiziert hat? Was ohne die gesprengte Zeiterfahrung Bergsonscher "Dauer" und die Geschichte der Photographie?

Die Moderne geht bei Hillebrand mit Gottfried Benn zu Ende. Wie Beckett, Ionesco oder Thomas Bernhard habe dieser sie konsequent abgeschlossen. Was bleibt, ist dann - "postmodern-beliebig", "verspielt" und "regellos" - die "Pop-Generation" mit ihrer "kulinarischen Verschnitttechnik", eine Poetik des snapshot. Daß es dem Autor am Ende "auf einige Namen und Jahrzehnte" nicht mehr ankommt, mag bezeichnend sein. Rhetorisch treibt ihn zuletzt das eigene Sujet um: die Sehnsucht nach der erfüllten Zeit. Es ist die letzte Möglichkeit, den Saum des Mantels Ewigkeit zu haschen.

JULIA ENCKE.

Bruno Hillebrand: "Ästhetik des Augenblicks. Der Dichter als Überwinder der Zeit - von Goethe bis heute". Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttinge n 1999. 160 S., br., 19,80 DM.

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