Das Böse ist für die Literatur seit der Romantik ein Objekt der offenen Anziehung und lustvoll inszenierten Sympathie. Peter-André Alt erschließt in seinem Werk die Geheimnisse einer unmoralischen Literatur, die das Böse als ästhetisches Phänomen jenseits aller Werte sichtbar werden lässt. Erzählt wird auf diese Weise eine andere Geschichte des Schönen, von der Nachtseite der europäischen Moderne. Wie keine andere Kunstform vermag die Literatur das Böse in imaginären Szenerien und Personen zur Anschauung zu bringen. In den überlieferten Figuren des Mythos und den Schreckgestalten des Aberglaubens empfängt es körperliche Präsenz; in psychologischen Novellen und Fallgeschichten erhält es seelische Tiefenschärfe; im Drama gewinnt es die unausweichliche Wucht einer verhängnisvollen Geschehensdynamik. Erst seit der Romantik löst sich die Literatur jedoch von den Zwängen einer moralischen Sichtweise auf die Erscheinungsformen der Sünde. Die moderne Literatur wird unmoralisch in einem programmatischen Sinn und entdeckt die ästhetischen Reize des Bösen in den Sensationen des Verbrechens, den Abgründen des Triebs und den Schrecken der Gewalt. Peter-André Alt geht den verschiedenen literarischen Genres und Formen nach, in denen moderne Texte ihre Lust am Bösen kultivieren. Von Goethe über E.T.A. Hoffmann, Shelley, Baudelaire, Huysmans, Wilde, George, Kafka bis zu Jünger, Genet, Kertész und Littell wird eine Phänomenologie des Bösen erkundet, die bis heute ein moralisches Skandalon bedeutet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2010Die Weltliteratur ist böse dran
Nur die Kunst im Sinn? Das kann finster enden: Eine mächtige Studie erklärt, wie das Böse in die Literatur gerät. Trotz teuflischer Zitierwut ist Peter-André Alt ein beachtliches Werk über die Ästhetik des Bösen gelungen.
In der Geringschätzung für das Nützliche besitzt das Böse eine beunruhigende Verwandtschaft mit dem Ästhetischen. "Teuflisch", meinte Immanuel Kant, könne nur eine Gesinnung genannt werden, "die das Böse will, weil es das Böse ist", "ästhetisch", sagt er an anderer Stelle, nur eine Betrachtung, die sich dem Gegenstand zuwendet, weil er dem "interesselosen Wohlgefallen" dient. Kein Wunder, dass eine artistische Praxis, die seit der Romantik bis in die Gegenwart auf "Autonomie" und "starke Wirkungen" pocht, sich zutraut, sogar ein vollkommen sinnloses Gewaltverbrechen "ästhetisch zu würdigen". Man beginne allmählich einzusehen, schrieb der englische Dichter Thomas De Quincey 1827, "dass zur künstlerischen Vollendung einer Mordtat doch etwas mehr gehört als zwei Dummköpfe, einer, der tötet, und einer, der getötet wird, ein Messer, eine Brieftasche und eine dunkle Gasse. Formgebung, meine Herren, Sinn für Gruppierung und Beleuchtung, poetisches Empfinden und Zartgefühl werden heute zu einer solchen Tat verlangt."
Unverkennbar will hier satirische Absicht die radikalen Konsequenzen eines exklusiv ästhetischen Weltverhältnisses sichtbar machen. Als Beispiel für Haltungen, die moralisch Fragwürdiges allein mit Rücksicht auf den künstlerischen Geschmack ansehen, dürfte De Quinceys Provokation jedoch in einer "Ästhetik des Bösen" Aufnahme finden.
Unter ebendiesem Titel hat der Berliner Germanist Peter-André Alt eine überwältigend materialreiche Studie vorgelegt, die Herkunft, Wandlungen und Wirkungen unserer Vorstellungen vom Bösen nachzuzeichnen sucht. Alt ist Literaturwissenschaftler, es ist deshalb nicht verwunderlich, dass er sich bei seinen Untersuchungen auf literarische Darstellungen des Phänomens konzentriert. Da allerdings, wie er - wohl nicht zu Unrecht - meint, poetische Texte in hervorragender Weise an der "Modellierung", also an den Verschiebungen und Weiterungen unserer Begriffe arbeiten, könnte die Aufhellung ihrer Verfahren zugleich einen Beitrag zur "Bewusstseinsgeschichte der Moderne" leisten.
Deren Einsatzpunkt markieren die bekannten krisenhaften Umbrüche. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts hatte sich die Erkenntnistheorie von Ansprüchen auf metaphysische Gewissheiten verabschiedet. Wahrheiten waren nur innerhalb des Reiches der Erscheinungen zu haben. Moralischen Halt musste das Subjekt in sich selber suchen, nachdem die Orientierungen des christlichen Weltbildes in einen Strudel der Erosion geraten waren. Dem Reflexionsaufwand, den eine auf Vernunftgründen ruhende Pflichtethik ihm abverlangte, stand die gebrechliche Anlage des von Affekten drangsalierten Menschen gegenüber. Und für die ästhetische Urteilskraft, die sich im Zeichen ihrer Selbstbestimmung aus den Schnüren der Gattungsreglements mit ihren pädagogischen Zwecksetzungen löste, begannen Hand in Hand mit einem rasant zunehmenden und zunehmend aufnahmebereiten Publikum die Abenteuer des Ausprobierens.
In dieser historischen Situation, so Peter-André Alt, erfahren die Erscheinungsweisen des Bösen in der Literatur einen Wandel. Zwar hatte die Erkenntniskritik der Aufklärung die Realexistenz böser Wesenheiten wie Satansgestalten, Hexen und Dämonen längst als Aberglauben entlarvt, aber ihre Funktion als anschauliche, über manchen Abgrund des Denkens und Mutmaßens hinweghelfende Rationalisierungen keineswegs mit erledigt. Letzte glaubwürdige Verkörperung ist Alt zufolge Goethes Mephisto, der allerdings in seinen widersprüchlichen Masken und Rollen weniger als Antipode der Schöpfung auftrete, vielmehr "das menschliche Bedürfnis nach einer Gegenwelt zum Ausdruck" bringe, die noch unbestimmt sei. Letztlich erscheine Mephisto "als Teil jener neuen Psychologie des Bösen", "die sich im Schatten seiner Vertreibung etabliert". Bei seinen Nachfolgern verblassen die äußerlichen Insignien und die meisten aus der christlich-mythologischen Tradition überkommenen Präfigurationen. Als offen oder verdeckt auftretender Gegenspieler legt, wie Peter von Matt es ausdrückte, "der Teufel seinen theologischen Mantel ab" und mutiert zum Intriganten. Die Hölle aber mitsamt ihren Bewohnern wird unsichtbar. Sie ist als destruktives Prinzip mit einer Vielzahl von Äußerungsmöglichkeiten ins Innere der Figuren umgezogen.
Erklärungsgründe für das Böse sind nicht länger Erbschuld, Sündenzwang und transzendente Mächte. An ihre Stelle tritt das nicht minder mysteriöse "Triebgeschehen". Mit dessen Auszeichnung jedoch gerät bei Alt ein fragwürdig mechanistischer Zug in die "Phantasiearbeit", besonders wenn es später als sowohl intellektuell wie kulturell angreifendes Moment der "Transgression" aufgefasst wird. Sein bedrohlich undurchdringlicher Raum jedenfalls wird von Kleist, Poe und Baudelaire über de Sade, Huysmans und Bataille bis hin zu Kafka, Jünger und Malaparte und schließlich Bret Easton Ellis und Jonathan Littell in immer erneuten Anläufen und Tabuverletzungen mit "Imaginationen" des Bösen ausgekleidet. Nach Alt existiert in der Moderne "keine Begriffsgeschichte des Bösen mehr, sondern nur eine Vielzahl ästhetischer Formen, die seine Erscheinungsweise reflektieren". Daher geht es nicht darum, "die Kategorie" des Bösen zu definieren, stattdessen möchte der Autor "exemplarische Merkmale" seiner literarischen Erscheinung erschließen.
Alt ist dabei überzeugt, dass es jenseits der isolierenden Besonderheit einzelner Texte "Grundmuster" darstellerischer Verfahren gibt, die "das Böse" als "Produkt einer eigenen Ästhetik" zugänglich machen. Diese Formen findet er in der Erzähl- und Wahrnehmungsperspektive der "Introspektion", den Rhythmen der "Wiederholung", der "Grenzverletzung oder Überschreitung" und des "Exzesses". Da diese Bestimmungen allerdings so allgemein sind, dass ihnen Distinktionskraft praktisch kaum mehr zukommt, ist es zweifelhaft, ob sie auch nur hinreichen würden, um etwa die exaltierten Monotonien de Sades von den revolvierenden Grotesken der Unterwerfung bei Robert Walser zu unterscheiden.
Alts Buch bietet einen souveränen, zuweilen von Sammelwut leicht vernebelten Überblick über die maßgebliche Literatur seines Gegenstandes und flankiert ihn mit einer schier unglaublichen Fülle poetologischer und philosophischer Erläuterungen. Dass er dabei selber häufig dem "Grundmuster" der Wiederholung opfert, indem er in kreisenden Bewegungen des Argumentierens und einem exzessiven Zitieren noch die letzte Falte vermuteter Unklarheit ausbügelt, erleichtert die Lektüre nicht. Hinzu kommt ein passagenweise recht eckiges Hantieren mit groben terminologischen Instrumenten aus dem Werkzeugkasten von Niklas Luhmann, das leider allzu oft auf Kosten der Prägnanz geht.
Abschluss von Alts Überlegungen zum "Fiktiven" und zur "literarischen Illusion" im letzten Kapitel ist die Bemühung, uns gegen die Versuchungen des "bösen Textes" zu wappnen. Wie geht das, wenn uns etwa ein Ich-Erzähler wie das Monstrum Max Aue aus Littells "Die Wohlgesinnten" zu sich hinüberzieht? Wir können, so Alt, das Böse überhaupt nur dann als böse identifizieren, wenn wir das Gute kennen und wissen, wo die Grenze verläuft.
Der teuflische Text besitzt a priori keine ernsthafte Aussicht, die Wette um die Seele seines Lesers zu gewinnen. Kulturelle Prägungen, zu denen nach Alt immer auch Restbestände an moralischen Intuitionen gehören, sind den Schauern der Angstlust stets vorgelagert. Wer an diesen Abwehrzauber glaubt - und was bleibt einem anderes übrig -, der achte sehr auf die Prägemaschinerie!
ROLF DÄHN
Peter-André Alt: "Ästhetik des Bösen".
C.H. Beck Verlag, München 2010. 714 S., Abb., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nur die Kunst im Sinn? Das kann finster enden: Eine mächtige Studie erklärt, wie das Böse in die Literatur gerät. Trotz teuflischer Zitierwut ist Peter-André Alt ein beachtliches Werk über die Ästhetik des Bösen gelungen.
In der Geringschätzung für das Nützliche besitzt das Böse eine beunruhigende Verwandtschaft mit dem Ästhetischen. "Teuflisch", meinte Immanuel Kant, könne nur eine Gesinnung genannt werden, "die das Böse will, weil es das Böse ist", "ästhetisch", sagt er an anderer Stelle, nur eine Betrachtung, die sich dem Gegenstand zuwendet, weil er dem "interesselosen Wohlgefallen" dient. Kein Wunder, dass eine artistische Praxis, die seit der Romantik bis in die Gegenwart auf "Autonomie" und "starke Wirkungen" pocht, sich zutraut, sogar ein vollkommen sinnloses Gewaltverbrechen "ästhetisch zu würdigen". Man beginne allmählich einzusehen, schrieb der englische Dichter Thomas De Quincey 1827, "dass zur künstlerischen Vollendung einer Mordtat doch etwas mehr gehört als zwei Dummköpfe, einer, der tötet, und einer, der getötet wird, ein Messer, eine Brieftasche und eine dunkle Gasse. Formgebung, meine Herren, Sinn für Gruppierung und Beleuchtung, poetisches Empfinden und Zartgefühl werden heute zu einer solchen Tat verlangt."
Unverkennbar will hier satirische Absicht die radikalen Konsequenzen eines exklusiv ästhetischen Weltverhältnisses sichtbar machen. Als Beispiel für Haltungen, die moralisch Fragwürdiges allein mit Rücksicht auf den künstlerischen Geschmack ansehen, dürfte De Quinceys Provokation jedoch in einer "Ästhetik des Bösen" Aufnahme finden.
Unter ebendiesem Titel hat der Berliner Germanist Peter-André Alt eine überwältigend materialreiche Studie vorgelegt, die Herkunft, Wandlungen und Wirkungen unserer Vorstellungen vom Bösen nachzuzeichnen sucht. Alt ist Literaturwissenschaftler, es ist deshalb nicht verwunderlich, dass er sich bei seinen Untersuchungen auf literarische Darstellungen des Phänomens konzentriert. Da allerdings, wie er - wohl nicht zu Unrecht - meint, poetische Texte in hervorragender Weise an der "Modellierung", also an den Verschiebungen und Weiterungen unserer Begriffe arbeiten, könnte die Aufhellung ihrer Verfahren zugleich einen Beitrag zur "Bewusstseinsgeschichte der Moderne" leisten.
Deren Einsatzpunkt markieren die bekannten krisenhaften Umbrüche. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts hatte sich die Erkenntnistheorie von Ansprüchen auf metaphysische Gewissheiten verabschiedet. Wahrheiten waren nur innerhalb des Reiches der Erscheinungen zu haben. Moralischen Halt musste das Subjekt in sich selber suchen, nachdem die Orientierungen des christlichen Weltbildes in einen Strudel der Erosion geraten waren. Dem Reflexionsaufwand, den eine auf Vernunftgründen ruhende Pflichtethik ihm abverlangte, stand die gebrechliche Anlage des von Affekten drangsalierten Menschen gegenüber. Und für die ästhetische Urteilskraft, die sich im Zeichen ihrer Selbstbestimmung aus den Schnüren der Gattungsreglements mit ihren pädagogischen Zwecksetzungen löste, begannen Hand in Hand mit einem rasant zunehmenden und zunehmend aufnahmebereiten Publikum die Abenteuer des Ausprobierens.
In dieser historischen Situation, so Peter-André Alt, erfahren die Erscheinungsweisen des Bösen in der Literatur einen Wandel. Zwar hatte die Erkenntniskritik der Aufklärung die Realexistenz böser Wesenheiten wie Satansgestalten, Hexen und Dämonen längst als Aberglauben entlarvt, aber ihre Funktion als anschauliche, über manchen Abgrund des Denkens und Mutmaßens hinweghelfende Rationalisierungen keineswegs mit erledigt. Letzte glaubwürdige Verkörperung ist Alt zufolge Goethes Mephisto, der allerdings in seinen widersprüchlichen Masken und Rollen weniger als Antipode der Schöpfung auftrete, vielmehr "das menschliche Bedürfnis nach einer Gegenwelt zum Ausdruck" bringe, die noch unbestimmt sei. Letztlich erscheine Mephisto "als Teil jener neuen Psychologie des Bösen", "die sich im Schatten seiner Vertreibung etabliert". Bei seinen Nachfolgern verblassen die äußerlichen Insignien und die meisten aus der christlich-mythologischen Tradition überkommenen Präfigurationen. Als offen oder verdeckt auftretender Gegenspieler legt, wie Peter von Matt es ausdrückte, "der Teufel seinen theologischen Mantel ab" und mutiert zum Intriganten. Die Hölle aber mitsamt ihren Bewohnern wird unsichtbar. Sie ist als destruktives Prinzip mit einer Vielzahl von Äußerungsmöglichkeiten ins Innere der Figuren umgezogen.
Erklärungsgründe für das Böse sind nicht länger Erbschuld, Sündenzwang und transzendente Mächte. An ihre Stelle tritt das nicht minder mysteriöse "Triebgeschehen". Mit dessen Auszeichnung jedoch gerät bei Alt ein fragwürdig mechanistischer Zug in die "Phantasiearbeit", besonders wenn es später als sowohl intellektuell wie kulturell angreifendes Moment der "Transgression" aufgefasst wird. Sein bedrohlich undurchdringlicher Raum jedenfalls wird von Kleist, Poe und Baudelaire über de Sade, Huysmans und Bataille bis hin zu Kafka, Jünger und Malaparte und schließlich Bret Easton Ellis und Jonathan Littell in immer erneuten Anläufen und Tabuverletzungen mit "Imaginationen" des Bösen ausgekleidet. Nach Alt existiert in der Moderne "keine Begriffsgeschichte des Bösen mehr, sondern nur eine Vielzahl ästhetischer Formen, die seine Erscheinungsweise reflektieren". Daher geht es nicht darum, "die Kategorie" des Bösen zu definieren, stattdessen möchte der Autor "exemplarische Merkmale" seiner literarischen Erscheinung erschließen.
Alt ist dabei überzeugt, dass es jenseits der isolierenden Besonderheit einzelner Texte "Grundmuster" darstellerischer Verfahren gibt, die "das Böse" als "Produkt einer eigenen Ästhetik" zugänglich machen. Diese Formen findet er in der Erzähl- und Wahrnehmungsperspektive der "Introspektion", den Rhythmen der "Wiederholung", der "Grenzverletzung oder Überschreitung" und des "Exzesses". Da diese Bestimmungen allerdings so allgemein sind, dass ihnen Distinktionskraft praktisch kaum mehr zukommt, ist es zweifelhaft, ob sie auch nur hinreichen würden, um etwa die exaltierten Monotonien de Sades von den revolvierenden Grotesken der Unterwerfung bei Robert Walser zu unterscheiden.
Alts Buch bietet einen souveränen, zuweilen von Sammelwut leicht vernebelten Überblick über die maßgebliche Literatur seines Gegenstandes und flankiert ihn mit einer schier unglaublichen Fülle poetologischer und philosophischer Erläuterungen. Dass er dabei selber häufig dem "Grundmuster" der Wiederholung opfert, indem er in kreisenden Bewegungen des Argumentierens und einem exzessiven Zitieren noch die letzte Falte vermuteter Unklarheit ausbügelt, erleichtert die Lektüre nicht. Hinzu kommt ein passagenweise recht eckiges Hantieren mit groben terminologischen Instrumenten aus dem Werkzeugkasten von Niklas Luhmann, das leider allzu oft auf Kosten der Prägnanz geht.
Abschluss von Alts Überlegungen zum "Fiktiven" und zur "literarischen Illusion" im letzten Kapitel ist die Bemühung, uns gegen die Versuchungen des "bösen Textes" zu wappnen. Wie geht das, wenn uns etwa ein Ich-Erzähler wie das Monstrum Max Aue aus Littells "Die Wohlgesinnten" zu sich hinüberzieht? Wir können, so Alt, das Böse überhaupt nur dann als böse identifizieren, wenn wir das Gute kennen und wissen, wo die Grenze verläuft.
Der teuflische Text besitzt a priori keine ernsthafte Aussicht, die Wette um die Seele seines Lesers zu gewinnen. Kulturelle Prägungen, zu denen nach Alt immer auch Restbestände an moralischen Intuitionen gehören, sind den Schauern der Angstlust stets vorgelagert. Wer an diesen Abwehrzauber glaubt - und was bleibt einem anderes übrig -, der achte sehr auf die Prägemaschinerie!
ROLF DÄHN
Peter-André Alt: "Ästhetik des Bösen".
C.H. Beck Verlag, München 2010. 714 S., Abb., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.12.2010Die feineren Künste des Teufels
Ehrgeiz, Eifersucht, Anmaßung und Misstrauen: Peter-André Alt kennt sich aus in der Literaturgeschichte des Bösen von Lucifer bis Luhmann
Peter-André Alts Studie zur „Ästhetik des Bösen“ folgt einer bemerkenswerten Dramaturgie: Sie beginnt mit der Bibel und endet bei Niklas Luhmann. Dem Soziologen, der in seinem Arbeitszimmer in Oerlinghausen eine Gesellschaftswelt erschaffen und in göttlich abgeklärter Allmacht verwaltet hat, hätte dies sicherlich gefallen. Jedenfalls teilt er mit dem biblischen Schöpfungsmythos die Vorliebe fürs Diabolische, denn die für ihn zentrale Theoriefigur des „Beobachters“ stammt „aus dem Hause Teufel“, wie er in der „Wissenschaft der Gesellschaft“ bemerkt. Am Anfang des christlichen Abendlands und an dessen Ende im Zeitalter der Globalisierung beschwören Welterklärungen den diabolischen Rebellen und Verführer, der die Welt durch seine Energie in Unruhe und Bewegung versetzt und für jenes Maß an Disharmonie, Störung und Unruhe sorgt, das wir Leben nennen.
Der luziferische Sturz vom Himmel herab in die Hölle versinnbildlicht, so Alt, wie geordnete Raumstrukturen entstehen und wie sich gegen eine selbstgenügsame Ewigkeit die Zeitlichkeit etabliert, wie also jene Dimensionen auftauchen, in denen wir uns zurechtfinden müssen. Dabei bleibt jedoch letztlich die Frage offen, wie das Böse in die Welt des Guten kommen konnte. Woraus entstanden die Triebkräfte von Ehrgeiz und Eifersucht, von Anmaßung und Misstrauen? Die Geschichte von der diabolischen Rebellion umspielt wie der Genesis-Bericht vom Sündenfall ein eigentümliches Geheimnis, macht es sinnfällig und anschaulich, ohne ihm seine verstörende Kraft zu nehmen. War das Böse vielleicht schon je immer und überall, wie bezeichnenderweise die Band „Erste Allgemeine Verunsicherung“ textete?
Alt lässt sich vom biblischen Mythos zur Ästhetik des Bösen führen: Denn die Kunst, insbesondere die Literatur, übernimmt die Aufgabe, den Einbruch des Bösen auszugestalten. Sie verwaltet eine fundamentale Irritation. Gerade die Literatur erkundet seit dem späten 18. Jahrhundert erzählerisch die ungewissen Randzonen als Orte des Bösen. Sie erprobt die Freiheit der Kunst von der Moral. Von den routinierten Exzessen de Sades, von den „gothic novels“ der englischen Romantik oder den Schauergeschichten E.T.A. Hoffmanns an spielt Poesie damit, dass sie böse und zugleich schön sein kann. Ebenso bedrohlich wie verführerisch entzieht sie sich der rationalen Kontrolle. Dass sich diese Ästhetik nicht einfrieden lässt, liegt auch an der eigentümlichen Unbestimmtheit und Vielgestalt des Bösen. Literarisch tritt es gerade nicht begrifflich klar und eindeutig auf, sondern verstreut: in einem kulturellen Ensemble, das seine Macht und Wirksamkeit durch Omnipräsenz sichert: „Trieb, Monotonie, Langeweile, Ekel, Aggression, Ich-Spaltung, Selbstliebe und Selbsthass“ – dies sind einige jener „Attribute und Ausprägungen“ des Bösen, denen Alt anhand einer Überfülle an Beispielen aus der deutschen, anglo- und frankophonen Literatur nachgeht.
Alt zielt auf eine historisch sensible Typologie. Literaturgeschichtlich skizziert er einen Prozess, der die traditionelle Mythologie des Bösen verabschiedet. Der triumphale Auftritt des Teufels etwa vermag in der Moderne nicht mehr zu überzeugen. Von nun an steckt er im Detail. Der Mythos vom Sündenfall legt nahe, dass die Suche nach den Ursprüngen des Bösen in die Seele des Menschen führt – es bedarf nur einer zarten äußeren Stimulation, damit der Mensch sich selbst vom rechten Weg abbringt. So betrifft die Abschaffung des Teufels in der Aufklärung nur dessen leibliche Existenz. Seine Macht aber hat er deswegen nicht verloren. Im Gegenteil: Die „neuen Künste des Teufels“ entfalten sich nun in der Imagination und im Imaginären. Der Mephisto von Goethes „Faust“ muss ohne „Hörner, Schweif und Klauen“ auskommen. Gerade in dieser Erscheinung aber entfesselt er die menschlichen Sehnsüchte, und mehr bleibt für ihn auch nicht zu tun. Das Böse des Mythos – so bemerkt Alt im Blick auf E.T.A. Hoffmann – ist ein alter Vertrauter; mit ihm lässt sich umgehen. Aber auf dem „schmutzigen Grund der Seele“ lauert es in unfassbarer Vielgestalt.
An dieser Stelle setzt das typologische Projekt von Alt an: Denn auch die Literatur entwickelt „Sicherungsmaßnahmen“ gegen das befreite Böse. Sie etabliert „überschaubare Strukturen“, die es „einschlägig vergegenwärtigen“. Dazu gehören Verfahren der Psychologisierung und Subjektivierung einer eigenständigen Kraft des Bösen von Schillers „Räubern“ oder Jean Pauls „Titan“ bis hin zu den Preziosen der Unmoral bei Baudelaire und George; dazu gehören Szenarien der Wiederholung, die traditionell die Hölle als Ort der Monotonie entwerfen und die Vorstellung des Bösen von de Sade bis hin zu Süskinds serienmordendem Parfumeur rhythmisieren; und dazu gehören Formen der Überschreitung, Überbietung und Grenzverletzung, die die klassischen Figuren wie Frankensteins Monster und Dracula genauso zelebrieren wie die Kriminellen des 19. Jahrhunderts oder die Wahnsinnigen des Expressionismus. Der Exzess wird schließlich bei Nietzsche und seinen Nachfolgern zu einer geradezu heiligen Sache und zu einem literarischen Prinzip, das so unterschiedliche Autoren wie Kafka oder Jünger verbindet.
Umrissen ist damit nur ein Bruchteil der Gegenstände, die Alt behandelt: beeindruckend belesen, klug und immer wieder mit überraschenden Volten, mit einem kritischen Blick auf die Forschungsliteratur und philosophische Debatten. Die „Ästhetik des Bösen“ lässt eine Revue literarischer Werke passieren. Sie erspart dem Leser keinen Seitenblick und keine theoretische Hürde. Zwischen Adorno, Foucault, Agamben und Zizek manövriert Alt nicht weniger souverän als in der internationalen Riege der Autoren einer „bösen“ Poesie vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Vor allem aber nimmt Alt die Literatur wichtig, gerade in ihrem Anspruch auf Form. Glanzstücke der Analyse gelingen ihm bei jenen Werken, deren Inhalt die Aufmerksamkeit der Kritiker oftmals okkupiert und damit vom Wesentlichen abgelenkt hat: An Jonathan Littells SS-Roman „Die Wohlgesinnten“ demonstriert Alt, dass das darin verkörperte Böse so komplex ist, dass ihm „nur die Polyphonie der Weltliteratur gerecht werden kann“; die Gewaltorgien in Bret Easton Ellis’ „American Psycho“ entziffert er als eine letzte Steigerung der „Ästhetik des Bösen“, weil darin das Böse die Erzählung selbst strukturiert.
Alt befragt die Poesie als ein ganz eigenes Medium zur Erkundung des Bösen, nimmt ihren Anspruch auf Autonomie ernst, ohne sie als eine moralfreie Zone zu kartographieren. Das abschließende Kapitel über die „moralischen Implikationen unmoralischer Literatur“ befragt daher die „Kunst des Bösen nach Auschwitz“ nicht als politisch korrekte Pflichtübung, sondern führt die Argumentationsstränge des ganzen Buchs zusammen. Stets, so Alts zentrale These, bleibt die „Ästhetik des Bösen“ auf jene moralischen Grenzen bezogen, die sie übertritt – sie ist prinzipiell „verunreinigt“, mit nicht-literarischen Wertmaßstäben kontaminiert. Der „Doppelcharakter der literarischen Fiktion“ sorgt dafür, dass die moderne Ästhetik des Bösen eine „gemischte Wirkung“ erzielt. Sie rückt uns das Böse faszinierend nahe, befreit es aber gleichwohl nicht vom Einspruch des moralischen Urteils. Bei aller Lust am Bösen fühlen wir uns zu einer Stellungnahme gezwungen. Die Literatur, so lautet das Fazit Alts, beschert uns „eine Begegnung mit Hydes Körper, repräsentiert durch das Bewusstsein Henry Jekylls“.
STEFFEN MARTUS
PETER-ANDRÉ ALT: Ästhetik des Bösen. Verlag C.H. Beck. München 2010, 714 Seiten, 34 Euro.
Die Fiktion rückt uns das Böse
faszinierend nahe – aber der
moralische Einspruch bleibt
Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft: Klaus Maria Brandauer in „Mephisto“ (1982).Foto: MAFilm/Studio Objectiv/Kobal Collection
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Ehrgeiz, Eifersucht, Anmaßung und Misstrauen: Peter-André Alt kennt sich aus in der Literaturgeschichte des Bösen von Lucifer bis Luhmann
Peter-André Alts Studie zur „Ästhetik des Bösen“ folgt einer bemerkenswerten Dramaturgie: Sie beginnt mit der Bibel und endet bei Niklas Luhmann. Dem Soziologen, der in seinem Arbeitszimmer in Oerlinghausen eine Gesellschaftswelt erschaffen und in göttlich abgeklärter Allmacht verwaltet hat, hätte dies sicherlich gefallen. Jedenfalls teilt er mit dem biblischen Schöpfungsmythos die Vorliebe fürs Diabolische, denn die für ihn zentrale Theoriefigur des „Beobachters“ stammt „aus dem Hause Teufel“, wie er in der „Wissenschaft der Gesellschaft“ bemerkt. Am Anfang des christlichen Abendlands und an dessen Ende im Zeitalter der Globalisierung beschwören Welterklärungen den diabolischen Rebellen und Verführer, der die Welt durch seine Energie in Unruhe und Bewegung versetzt und für jenes Maß an Disharmonie, Störung und Unruhe sorgt, das wir Leben nennen.
Der luziferische Sturz vom Himmel herab in die Hölle versinnbildlicht, so Alt, wie geordnete Raumstrukturen entstehen und wie sich gegen eine selbstgenügsame Ewigkeit die Zeitlichkeit etabliert, wie also jene Dimensionen auftauchen, in denen wir uns zurechtfinden müssen. Dabei bleibt jedoch letztlich die Frage offen, wie das Böse in die Welt des Guten kommen konnte. Woraus entstanden die Triebkräfte von Ehrgeiz und Eifersucht, von Anmaßung und Misstrauen? Die Geschichte von der diabolischen Rebellion umspielt wie der Genesis-Bericht vom Sündenfall ein eigentümliches Geheimnis, macht es sinnfällig und anschaulich, ohne ihm seine verstörende Kraft zu nehmen. War das Böse vielleicht schon je immer und überall, wie bezeichnenderweise die Band „Erste Allgemeine Verunsicherung“ textete?
Alt lässt sich vom biblischen Mythos zur Ästhetik des Bösen führen: Denn die Kunst, insbesondere die Literatur, übernimmt die Aufgabe, den Einbruch des Bösen auszugestalten. Sie verwaltet eine fundamentale Irritation. Gerade die Literatur erkundet seit dem späten 18. Jahrhundert erzählerisch die ungewissen Randzonen als Orte des Bösen. Sie erprobt die Freiheit der Kunst von der Moral. Von den routinierten Exzessen de Sades, von den „gothic novels“ der englischen Romantik oder den Schauergeschichten E.T.A. Hoffmanns an spielt Poesie damit, dass sie böse und zugleich schön sein kann. Ebenso bedrohlich wie verführerisch entzieht sie sich der rationalen Kontrolle. Dass sich diese Ästhetik nicht einfrieden lässt, liegt auch an der eigentümlichen Unbestimmtheit und Vielgestalt des Bösen. Literarisch tritt es gerade nicht begrifflich klar und eindeutig auf, sondern verstreut: in einem kulturellen Ensemble, das seine Macht und Wirksamkeit durch Omnipräsenz sichert: „Trieb, Monotonie, Langeweile, Ekel, Aggression, Ich-Spaltung, Selbstliebe und Selbsthass“ – dies sind einige jener „Attribute und Ausprägungen“ des Bösen, denen Alt anhand einer Überfülle an Beispielen aus der deutschen, anglo- und frankophonen Literatur nachgeht.
Alt zielt auf eine historisch sensible Typologie. Literaturgeschichtlich skizziert er einen Prozess, der die traditionelle Mythologie des Bösen verabschiedet. Der triumphale Auftritt des Teufels etwa vermag in der Moderne nicht mehr zu überzeugen. Von nun an steckt er im Detail. Der Mythos vom Sündenfall legt nahe, dass die Suche nach den Ursprüngen des Bösen in die Seele des Menschen führt – es bedarf nur einer zarten äußeren Stimulation, damit der Mensch sich selbst vom rechten Weg abbringt. So betrifft die Abschaffung des Teufels in der Aufklärung nur dessen leibliche Existenz. Seine Macht aber hat er deswegen nicht verloren. Im Gegenteil: Die „neuen Künste des Teufels“ entfalten sich nun in der Imagination und im Imaginären. Der Mephisto von Goethes „Faust“ muss ohne „Hörner, Schweif und Klauen“ auskommen. Gerade in dieser Erscheinung aber entfesselt er die menschlichen Sehnsüchte, und mehr bleibt für ihn auch nicht zu tun. Das Böse des Mythos – so bemerkt Alt im Blick auf E.T.A. Hoffmann – ist ein alter Vertrauter; mit ihm lässt sich umgehen. Aber auf dem „schmutzigen Grund der Seele“ lauert es in unfassbarer Vielgestalt.
An dieser Stelle setzt das typologische Projekt von Alt an: Denn auch die Literatur entwickelt „Sicherungsmaßnahmen“ gegen das befreite Böse. Sie etabliert „überschaubare Strukturen“, die es „einschlägig vergegenwärtigen“. Dazu gehören Verfahren der Psychologisierung und Subjektivierung einer eigenständigen Kraft des Bösen von Schillers „Räubern“ oder Jean Pauls „Titan“ bis hin zu den Preziosen der Unmoral bei Baudelaire und George; dazu gehören Szenarien der Wiederholung, die traditionell die Hölle als Ort der Monotonie entwerfen und die Vorstellung des Bösen von de Sade bis hin zu Süskinds serienmordendem Parfumeur rhythmisieren; und dazu gehören Formen der Überschreitung, Überbietung und Grenzverletzung, die die klassischen Figuren wie Frankensteins Monster und Dracula genauso zelebrieren wie die Kriminellen des 19. Jahrhunderts oder die Wahnsinnigen des Expressionismus. Der Exzess wird schließlich bei Nietzsche und seinen Nachfolgern zu einer geradezu heiligen Sache und zu einem literarischen Prinzip, das so unterschiedliche Autoren wie Kafka oder Jünger verbindet.
Umrissen ist damit nur ein Bruchteil der Gegenstände, die Alt behandelt: beeindruckend belesen, klug und immer wieder mit überraschenden Volten, mit einem kritischen Blick auf die Forschungsliteratur und philosophische Debatten. Die „Ästhetik des Bösen“ lässt eine Revue literarischer Werke passieren. Sie erspart dem Leser keinen Seitenblick und keine theoretische Hürde. Zwischen Adorno, Foucault, Agamben und Zizek manövriert Alt nicht weniger souverän als in der internationalen Riege der Autoren einer „bösen“ Poesie vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Vor allem aber nimmt Alt die Literatur wichtig, gerade in ihrem Anspruch auf Form. Glanzstücke der Analyse gelingen ihm bei jenen Werken, deren Inhalt die Aufmerksamkeit der Kritiker oftmals okkupiert und damit vom Wesentlichen abgelenkt hat: An Jonathan Littells SS-Roman „Die Wohlgesinnten“ demonstriert Alt, dass das darin verkörperte Böse so komplex ist, dass ihm „nur die Polyphonie der Weltliteratur gerecht werden kann“; die Gewaltorgien in Bret Easton Ellis’ „American Psycho“ entziffert er als eine letzte Steigerung der „Ästhetik des Bösen“, weil darin das Böse die Erzählung selbst strukturiert.
Alt befragt die Poesie als ein ganz eigenes Medium zur Erkundung des Bösen, nimmt ihren Anspruch auf Autonomie ernst, ohne sie als eine moralfreie Zone zu kartographieren. Das abschließende Kapitel über die „moralischen Implikationen unmoralischer Literatur“ befragt daher die „Kunst des Bösen nach Auschwitz“ nicht als politisch korrekte Pflichtübung, sondern führt die Argumentationsstränge des ganzen Buchs zusammen. Stets, so Alts zentrale These, bleibt die „Ästhetik des Bösen“ auf jene moralischen Grenzen bezogen, die sie übertritt – sie ist prinzipiell „verunreinigt“, mit nicht-literarischen Wertmaßstäben kontaminiert. Der „Doppelcharakter der literarischen Fiktion“ sorgt dafür, dass die moderne Ästhetik des Bösen eine „gemischte Wirkung“ erzielt. Sie rückt uns das Böse faszinierend nahe, befreit es aber gleichwohl nicht vom Einspruch des moralischen Urteils. Bei aller Lust am Bösen fühlen wir uns zu einer Stellungnahme gezwungen. Die Literatur, so lautet das Fazit Alts, beschert uns „eine Begegnung mit Hydes Körper, repräsentiert durch das Bewusstsein Henry Jekylls“.
STEFFEN MARTUS
PETER-ANDRÉ ALT: Ästhetik des Bösen. Verlag C.H. Beck. München 2010, 714 Seiten, 34 Euro.
Die Fiktion rückt uns das Böse
faszinierend nahe – aber der
moralische Einspruch bleibt
Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft: Klaus Maria Brandauer in „Mephisto“ (1982).Foto: MAFilm/Studio Objectiv/Kobal Collection
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Mit gewissem Grundzweifel, ob das Thema adäquat bewältigt wurde, begegnet Maximilian Probst dem neuen Buch des Berliner Germanisten. Und er formuliert es selbst gleich recht böse: aus seiner Sicht nämlich verwechselt Peter-Andre Alt Literatur und Boulevard, weshalb seine Studie im Grunde eine "Ästhetik des Boulevards" und nicht des Bösen in der Literatur sei, auch wenn er beim Lesen immer wieder auf Interessantes stößt. "Angeschoben" findet der Kritiker die Überlegungen der Studie von Karl-Heinz Bohrer und "in Schwung gehalten" von Hans Blumenberg. Auch bescheinigt der Kritiker dem Autor eine geradezu unheimliche Belesenheit, die einen rasanten Überblick über das Genre ermöglicht und erhellende Achsen durch Kultur- und Literaturgeschichte zu schlagen versteht. Im Verlauf der Lektüre wirkt sich die Komplexität der Darstellung aus Kritikersicht deutlich negativ auf die Spannung der Studie aus. Letztlich findet der Kritiker auch, dass Alt heiklen Fragestellungen aus dem Weg gegangen ist, und sich das Böse auch nicht mit dem bedächtigen Ton eines Oberseminars vermitteln lasse.
© Perlentaucher Medien GmbH
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