Der Kunst der Gegenwart wird oft unterstellt, daß sie ihre Existenz bestimmten Theorien verdanke und von sich aus keine unmittelbare ästhetische Wirkung hervorbringe. Hätten diese Stimmen recht, müßte es genügen, die theoretischen Debatten über die Kunst zu verfolgen - auf die Auseinandersetzung mit den Werken könnte man getrost verzichten. Gegen eine solche Verkürzung erhebt Martin Seel Einspruch und setzt ihr den Entwurf einer Ästhetik entgegen, die auf der einzigartigen Erscheinung der Kunstwerke besteht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000Entscheidend ist immer auf dem Platz
Aufregung in der Gefahrenzone: Martin Seel treibt den roten Ball in den Strafraum der Ästhetik / Von Rüdiger Bubner
Ein Urenkel Adornos wandelt auf Heideggers Pfaden. Das werden die strengen Grenzhüter ungern sehen, die es immer noch gibt. Allerdings ist das Regiment in der Philosophie insgesamt liberaler, ja geradewegs pluralistisch geworden. Was man vor Jahrzehnten nur um den Preis der Exkommunikation hätte anrühren dürfen, wird heute diskursiv breit ausgeteilt.
Martin Seel ist mit mehreren Büchern zur Ästhetik bekannt geworden, die originell und stets lesenswert sind. Freilich variieren sie, genau genommen, ein Thema. Und das ist die von Adorno unbestimmt gelassene Frage nach der Stellung der Ästhetik in der Philosophie überhaupt. Ist Ästhetik ein abgegrenzter Teil der Philosophie, oder bildet sie zumindest in der Moderne den Königsweg des Denkens? Vielleicht gelingt Seel mit den vorliegenden Untersuchungen zum Problem des "Erscheinens" in ästhetischer Perspektive eine Art Abschluß der Fragekette. Das würde seine hochsensible und gedanklich einfallsreiche Intelligenz für andere Themen öffnen.
Den Ausgangspunkt bildet die alte Überzeugung, daß Ästhetik mit dem Besonderen in seiner Besonderheit zu tun habe. Das entzieht sich offenkundig allen theoretischen Verallgemeinerungen. Im knappen historischen Präludium zeigt Seel die Genese seines Problems von der cognitio sensitiva her, welche der Schulphilosoph und Namensgeber der "Ästhetik", Baumgarten, für das Rätsel vorsah. Die fragliche Erkenntnis der Besonderheit muß das Besondere als solches hervortreten lassen - dieser rote Ball des Nachbarjungen Oscar auf dem grünen Rasen, so lautet das Beispiel, an dem Seel seine Distinktionen durchspielt. Von der Besonderheit, die nicht ontologisch fixiert werden kann, treibt die Analyse aufs Erscheinen, das wiederum nicht Phänomen eines Anderen, etwa des hinter ihm verborgenen Dinges an sich, genannt zu werden verdient. "Etwas um seines Erscheinens willen in seinem Erscheinen zu vernehmen - das ist ein Schwerpunkt aller ästhetischer Wahrnehmungen."
Da stehen wir unvermittelt an der Schwelle des Heideggerschen Grundthemas, das nicht allein im Licht des Aufsatzes vom Ursprung des Kunstwerks zu verstehen ist, obwohl etwa die Gadamersche Fortsetzung hier angeknüpft hat. In Heideggers Einführung in die Metaphysik von 1935 (publiziert 1953) steht zu lesen: "Das Sein, Erscheinen, läßt aus der Verborgenheit heraustreten." So wird an das ursprüngliche Wahrheitskonzept der griechischen Aletheia erinnert. Ich möchte keinen Ärger stiften. Aber Seels elegante Bemühung, im Reich des Ästhetischen das Eigenrecht eines als autonom zu würdigenden Erscheinens zu verteidigen, grenzt unmittelbar an die "Lichtung" im Schwarzwald. Seel: "Denn gefragt ist gerade nach der Seinsart des Erscheinens." Und öfters ähnlich.
Es gibt noch eine andere Möglichkeit, die Seel durchaus im Blick hat, wenn er den Paragraphen eins der Kantischen Kritik der Urteilskraft zitiert. Dort wird die Analyse des Geschmacksurteils, auf die Kant, ausgehend von seiner Erkenntnistheorie, die Ästhetik gründen will, mit der Verstärkung des "Lebensgefühls" des Subjekts gekoppelt, ohne daß diese subjektive Selbststeigerung eine praktische Dimension des Handelns eröffnete oder den anthropologischen Affektionen gegenüber dem "Angenehmen" zuzurechnen wäre. Die tiefsinnige Bemerkung Kants, der weitere folgen, wird oft überlesen. "Das ästhetische Interesse" - oder, wenn wir Kants Wortwahl folgen wollen, das besondere ästhetische Desinteresse - "beruht auf dem Verlangen, der Gegenwart des eigenen Daseins wahrnehmend inne zu sein . . . Ohne ästhetisches Bewußtsein ist kein Bewußtsein der eigenen Gegenwart möglich . . . ein Sinn für das Hier und Jetzt des eigenen Lebens."
Wie nun? Wollen wir im Felde der Ästhetik der Sonderqualität eines "Erscheinens" Tribut zollen, das neben der sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit als Offenbarung eigener Realität philosophische Aufmerksamkeit verlangt? Oder suchen wir nach der intensiven Präsenz der eigenen Subjektivität im Vollzug des ästhetischen Erlebens? (Was mit Nietzsches dionysischem Charakter zu verwechseln der Vornehmheit des Autors fern liegt.)
Eine neue Argumentationslinie kommt ins Spiel, wenn dieses an phänomenologischen Beschreibungen reiche und in exemplarischen Veranschaulichungen starke Buch sich mit Arthur Dantos ästhetischer Reflexionseinladung à la Hegel auseinandersetzt. Bezugspunkt sind natürlich die seit Duchamps Ready-mades notorischen Flaschentrockner und Schneeschaufeln oder Warhols Imitate von Suppendosen und Waschmittelkartons im Museum. Kein wahrnehmbarer Unterschied zwischen Ding und Kunstwerk ist dabei festzuhalten. Die ästhetische Auszeichnung verdankt sich vollends dem Geniestreich des Artisten. Das fordert die Kraft des Nachdenkens über das produzierte Rätsel beim Rezipienten heraus. Danto habe die prominente Gestik der modernen Kunst mißverstanden, meint dagegen Seel. "Es sind zwischen Kunst und Nichtkunst changierende Objekte - und ebendarum subversive Objekte der Kunst. Sie sehen aus wie banale Gegenstände und sind doch so inszeniert, daß sie ein anderes Erscheinen gewinnen als diese . . . Es folgt nur, daß die für das Sehen jedes außerkünstlerischen Objekts ausreichende Wahrnehmung für die Wahrnehmung eines Kunst-Objekts nicht ausreichend ist." Das mag zutreffen.
In der überlieferten Einteilung der ästhetischen Systeme kam Wortkunst zuletzt vor, weil sie von der massiven Dinglichkeit und Raumfülle, welche Architektur auszeichnet, am weitesten entfernt steht. Diesem Ordnungsprinzip will Seel nicht folgen. "Die Gegenwart, die im Text der Literatur in Erscheinung tritt, ist nicht das Hier und Jetzt eines leibzentrierten Raumes, sie ist das Hier und Jetzt einer historischen Zeit: sie wird spürbar an der Schwingung, die seine Sprache in der unseren erzeugt." Hierzu wäre von einer elaborierten Texttheorie der Dekonstruktivisten sicher mehr zu sagen. Die hermeneutische Dimension der Geschichte rückt immerhin ins Visier. Allerdings wird deutlich, daß Seels Vorstellungskraft entgegen der traditionellen Textversessenheit vom neuen Medium Film okkupiert wird. Dem "Flimmern und Rauschen" widmet er einen langen Abschnitt.
Essays setzen irgendwo ein und hören irgendwo auf. Es gibt auch Bücher, die nach Hunderten von Seiten den Leser im Ungefähren stehen lassen. Das ist hier leider der Fall. Es fehlt am letzten Arbeitsgang des Straffens, Säuberns, Beseitigens von Wiederholungen und geordneten Abschließens. Dergleichen ist mühsam und verzögert eventuell das Erscheinungsdatum. Trotzdem empfiehlt sich Seels Buch durch Lesbarkeit und kluge Prosa, eine Fülle von subtilen Beobachtungen und Analysen sowie einen philosophisch erkennbaren Gravitationspunkt, um den alles kreist.
Martin Seel: "Ästhetik des Erscheinens". Carl Hanser Verlag, München 2000. 326 S., geb., 45,- DM.
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Aufregung in der Gefahrenzone: Martin Seel treibt den roten Ball in den Strafraum der Ästhetik / Von Rüdiger Bubner
Ein Urenkel Adornos wandelt auf Heideggers Pfaden. Das werden die strengen Grenzhüter ungern sehen, die es immer noch gibt. Allerdings ist das Regiment in der Philosophie insgesamt liberaler, ja geradewegs pluralistisch geworden. Was man vor Jahrzehnten nur um den Preis der Exkommunikation hätte anrühren dürfen, wird heute diskursiv breit ausgeteilt.
Martin Seel ist mit mehreren Büchern zur Ästhetik bekannt geworden, die originell und stets lesenswert sind. Freilich variieren sie, genau genommen, ein Thema. Und das ist die von Adorno unbestimmt gelassene Frage nach der Stellung der Ästhetik in der Philosophie überhaupt. Ist Ästhetik ein abgegrenzter Teil der Philosophie, oder bildet sie zumindest in der Moderne den Königsweg des Denkens? Vielleicht gelingt Seel mit den vorliegenden Untersuchungen zum Problem des "Erscheinens" in ästhetischer Perspektive eine Art Abschluß der Fragekette. Das würde seine hochsensible und gedanklich einfallsreiche Intelligenz für andere Themen öffnen.
Den Ausgangspunkt bildet die alte Überzeugung, daß Ästhetik mit dem Besonderen in seiner Besonderheit zu tun habe. Das entzieht sich offenkundig allen theoretischen Verallgemeinerungen. Im knappen historischen Präludium zeigt Seel die Genese seines Problems von der cognitio sensitiva her, welche der Schulphilosoph und Namensgeber der "Ästhetik", Baumgarten, für das Rätsel vorsah. Die fragliche Erkenntnis der Besonderheit muß das Besondere als solches hervortreten lassen - dieser rote Ball des Nachbarjungen Oscar auf dem grünen Rasen, so lautet das Beispiel, an dem Seel seine Distinktionen durchspielt. Von der Besonderheit, die nicht ontologisch fixiert werden kann, treibt die Analyse aufs Erscheinen, das wiederum nicht Phänomen eines Anderen, etwa des hinter ihm verborgenen Dinges an sich, genannt zu werden verdient. "Etwas um seines Erscheinens willen in seinem Erscheinen zu vernehmen - das ist ein Schwerpunkt aller ästhetischer Wahrnehmungen."
Da stehen wir unvermittelt an der Schwelle des Heideggerschen Grundthemas, das nicht allein im Licht des Aufsatzes vom Ursprung des Kunstwerks zu verstehen ist, obwohl etwa die Gadamersche Fortsetzung hier angeknüpft hat. In Heideggers Einführung in die Metaphysik von 1935 (publiziert 1953) steht zu lesen: "Das Sein, Erscheinen, läßt aus der Verborgenheit heraustreten." So wird an das ursprüngliche Wahrheitskonzept der griechischen Aletheia erinnert. Ich möchte keinen Ärger stiften. Aber Seels elegante Bemühung, im Reich des Ästhetischen das Eigenrecht eines als autonom zu würdigenden Erscheinens zu verteidigen, grenzt unmittelbar an die "Lichtung" im Schwarzwald. Seel: "Denn gefragt ist gerade nach der Seinsart des Erscheinens." Und öfters ähnlich.
Es gibt noch eine andere Möglichkeit, die Seel durchaus im Blick hat, wenn er den Paragraphen eins der Kantischen Kritik der Urteilskraft zitiert. Dort wird die Analyse des Geschmacksurteils, auf die Kant, ausgehend von seiner Erkenntnistheorie, die Ästhetik gründen will, mit der Verstärkung des "Lebensgefühls" des Subjekts gekoppelt, ohne daß diese subjektive Selbststeigerung eine praktische Dimension des Handelns eröffnete oder den anthropologischen Affektionen gegenüber dem "Angenehmen" zuzurechnen wäre. Die tiefsinnige Bemerkung Kants, der weitere folgen, wird oft überlesen. "Das ästhetische Interesse" - oder, wenn wir Kants Wortwahl folgen wollen, das besondere ästhetische Desinteresse - "beruht auf dem Verlangen, der Gegenwart des eigenen Daseins wahrnehmend inne zu sein . . . Ohne ästhetisches Bewußtsein ist kein Bewußtsein der eigenen Gegenwart möglich . . . ein Sinn für das Hier und Jetzt des eigenen Lebens."
Wie nun? Wollen wir im Felde der Ästhetik der Sonderqualität eines "Erscheinens" Tribut zollen, das neben der sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit als Offenbarung eigener Realität philosophische Aufmerksamkeit verlangt? Oder suchen wir nach der intensiven Präsenz der eigenen Subjektivität im Vollzug des ästhetischen Erlebens? (Was mit Nietzsches dionysischem Charakter zu verwechseln der Vornehmheit des Autors fern liegt.)
Eine neue Argumentationslinie kommt ins Spiel, wenn dieses an phänomenologischen Beschreibungen reiche und in exemplarischen Veranschaulichungen starke Buch sich mit Arthur Dantos ästhetischer Reflexionseinladung à la Hegel auseinandersetzt. Bezugspunkt sind natürlich die seit Duchamps Ready-mades notorischen Flaschentrockner und Schneeschaufeln oder Warhols Imitate von Suppendosen und Waschmittelkartons im Museum. Kein wahrnehmbarer Unterschied zwischen Ding und Kunstwerk ist dabei festzuhalten. Die ästhetische Auszeichnung verdankt sich vollends dem Geniestreich des Artisten. Das fordert die Kraft des Nachdenkens über das produzierte Rätsel beim Rezipienten heraus. Danto habe die prominente Gestik der modernen Kunst mißverstanden, meint dagegen Seel. "Es sind zwischen Kunst und Nichtkunst changierende Objekte - und ebendarum subversive Objekte der Kunst. Sie sehen aus wie banale Gegenstände und sind doch so inszeniert, daß sie ein anderes Erscheinen gewinnen als diese . . . Es folgt nur, daß die für das Sehen jedes außerkünstlerischen Objekts ausreichende Wahrnehmung für die Wahrnehmung eines Kunst-Objekts nicht ausreichend ist." Das mag zutreffen.
In der überlieferten Einteilung der ästhetischen Systeme kam Wortkunst zuletzt vor, weil sie von der massiven Dinglichkeit und Raumfülle, welche Architektur auszeichnet, am weitesten entfernt steht. Diesem Ordnungsprinzip will Seel nicht folgen. "Die Gegenwart, die im Text der Literatur in Erscheinung tritt, ist nicht das Hier und Jetzt eines leibzentrierten Raumes, sie ist das Hier und Jetzt einer historischen Zeit: sie wird spürbar an der Schwingung, die seine Sprache in der unseren erzeugt." Hierzu wäre von einer elaborierten Texttheorie der Dekonstruktivisten sicher mehr zu sagen. Die hermeneutische Dimension der Geschichte rückt immerhin ins Visier. Allerdings wird deutlich, daß Seels Vorstellungskraft entgegen der traditionellen Textversessenheit vom neuen Medium Film okkupiert wird. Dem "Flimmern und Rauschen" widmet er einen langen Abschnitt.
Essays setzen irgendwo ein und hören irgendwo auf. Es gibt auch Bücher, die nach Hunderten von Seiten den Leser im Ungefähren stehen lassen. Das ist hier leider der Fall. Es fehlt am letzten Arbeitsgang des Straffens, Säuberns, Beseitigens von Wiederholungen und geordneten Abschließens. Dergleichen ist mühsam und verzögert eventuell das Erscheinungsdatum. Trotzdem empfiehlt sich Seels Buch durch Lesbarkeit und kluge Prosa, eine Fülle von subtilen Beobachtungen und Analysen sowie einen philosophisch erkennbaren Gravitationspunkt, um den alles kreist.
Martin Seel: "Ästhetik des Erscheinens". Carl Hanser Verlag, München 2000. 326 S., geb., 45,- DM.
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