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Georg Lukács war einer der großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts und gilt weithin als der bedeutendste Philosoph in der Geschichte des Marxismus. Der vorliegende Band erschließt anhand einer Auswahl seiner Schriften, darunter auch viele weniger bekannte Texte, seine theoretischen Stationen: Von den frühen ästhetischen Versuchen über die für den westlichen Marxismus bedeutsame Praxisphilosophie der mittleren Periode bis hin zur noch zu entdeckenden Ontologie des Spätwerks. Auf diesem Weg entsteht das Bild eines engagierten Denkers, dessen Radikalität, systematische Fassungskraft und Mut zur Selbstkorrektur noch heute beeindrucken. …mehr

Produktbeschreibung
Georg Lukács war einer der großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts und gilt weithin als der bedeutendste Philosoph in der Geschichte des Marxismus. Der vorliegende Band erschließt anhand einer Auswahl seiner Schriften, darunter auch viele weniger bekannte Texte, seine theoretischen Stationen: Von den frühen ästhetischen Versuchen über die für den westlichen Marxismus bedeutsame Praxisphilosophie der mittleren Periode bis hin zur noch zu entdeckenden Ontologie des Spätwerks. Auf diesem Weg entsteht das Bild eines engagierten Denkers, dessen Radikalität, systematische Fassungskraft und Mut zur Selbstkorrektur noch heute beeindrucken.
Autorenporträt
Georg Lukács war einer der großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts und gilt weithin als der bedeutendste Philosoph in der Geschichte des Marxismus. Rüdiger Dannemann ist Vorsitzender der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft sowie Herausgeber des Lukács-Jahrbuchs (seit 2012) und der Georg Lukács Werkauswahl in Einzelbänden. Axel Honneth, geboren 1949, ist Jack C. Weinstein Professor of the Humanities an der Columbia University in New York. 2015 wurde er mit dem Ernst-Bloch-Preis, 2016 für Die Idee des Sozialismus mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch ausgezeichnet. 2021 hielt er in Berlin seine vielbeachteten Benjamin-Lectures zum Thema des Buches Der arbeitende Souverän.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Dieter Thomä wartet noch ein bisschen auf die Biografie über Georg Lukacs und vertreibt sich die Zeit bis dahin mit den zum 50. Todestag des Philosophen erscheinenden Texten, Nachrufen, Rezensionen, Polemiken, Dankesreden. Die versammelten Texte weisen laut Thoma Grundzüge von Lukacs' Hauptwerken auf, etwa die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Individuum und Allgemeinheit, von Sein und Bewusstsein und von Theorie und Praxis. Aktualisierungen des Autors sind laut Rezensent anhand der Texte ebenfalls möglich. So lässt sich Lukacs im Streit um politisch korrekte Sprache "einsetzen", meint er.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.06.2021

Im Gleichschritt mit der Praxis

Seine frühen Werke machten ihn berühmt, ihm selbst galten sie später als verfehlt: Ein Band präsentiert Georg Lukács mit unbekannteren, aber zentrale Motive seines Denkens erhellenden Texten.

Mitten im Leben war dieser Mensch vom Tod umfangen. Seine Jugendliebe Irma Seidler brachte sich um. Als Volkskommissar der kurzlebigen ungarischen Räterepublik ließ er 1919 Deserteure erschießen. Im Moskauer Exil wurde er Zeuge der stalinistischen Schauprozesse, denen viele seiner innerparteilichen Freunde und Feinde zum Opfer fielen. Sein Bruder wurde 1945 im Konzentrationslager Mauthausen ermordet. Imre Nagy, in dessen Reformregierung er 1956 als Minister für Volksbildung eingetreten war, wurde nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands hingerichtet. "Nur soviel: ich lebe. Und das heißt, dass ich nunmehr am Leben bleiben werde", schrieb Georg Lukács 1911, mit sechsundzwanzig Jahren. Am Leben blieb er bis zum 4. Juni 1971 - mitgefangen, mitgehangen in einem Jahrhundert der Gewalt. Dickfellig schlug er sich durch die Zeit, eigensinnig erfasste er sie in Gedanken.

Die Biographie, die dieses äußerlich zerrissene, innerlich geschlossene Leben verdient hätte, ist zurzeit wohl noch in Arbeit. Stattdessen erscheint zum heutigen fünfzigsten Todestag ein Band mit Texten von Lukács. Nach der klugen Entscheidung der Herausgeber versammelt er "nicht Ausschnitte aus Hauptwerken, sondern vorrangig weniger bekannte, aber symptomatische Texte" des Philosophen. Darunter sind freche Nachrufe auf Wilhelm Dilthey ("Es wäre eine Übertreibung, Diltheys Tod als unersetzlichen Verlust zu beklagen") und Georg Simmel ("Er war ein Monet der Philosophie, auf den bis jetzt noch kein Cézanne gefolgt ist"), kühle Rezensionen von Büchern Sigmund Freuds und Carl Schmitts, eine skrupulöse Abhandlung über den "Bolschewismus als moralisches Problem", eine Polemik gegen Philosophen, die sich ins "Grand Hotel Abgrund" verziehen, ein oberlehrerhaftes Plädoyer für den literarischen "Realismus", eine Warnung vor der "verhängnisvollen Spaltung von Sozialismus und Demokratie" aus dem Jahr 1946, eine bewegende Dankesrede zum Goethepreis der Stadt Frankfurt 1970, ein Spiegel-Gespräch über die Studentenbewegung und den Kalten Krieg. Es sei nicht verschwiegen, dass Lukács in diesem Gespräch "die größte Skepsis in Bezug auf die Redefreiheit in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zum Ausdruck brachte.

Mit Lukács' Hauptwerken, deren Grundzüge in dieser Textsammlung durchaus erkennbar werden, hat es seine eigene Bewandtnis. Sein Aufstieg zum Ruhm begann mit der 1914/15 verfassten "Theorie des Romans", in der er die "transzendentale Obdachlosigkeit" des Menschen durch die "abgerundete Totalität" beheben wollte, die er in der Kunst vorgebildet sah. Noch einflussreicher war das Buch "Geschichte und Klassenbewusstsein" von 1923, das nach dem unbestechlichen Zeugnis Maurice Merleau-Pontys "eine Zeitlang die Bibel dessen war, was man den ,westlichen' Kommunismus nannte". Darin wurde das Gefühl der Verlorenheit zu der Erfahrung des Selbstverlusts unter der Herrschaft des Kapitalismus zugespitzt. Dieser "Verdinglichung" haben übrigens die Herausgeber der vorliegenden Ausgabe, Axel Honneth und Rüdiger Dannemann, eigene Studien gewidmet.

Mit jenen beiden Büchern hat sich über Lukács' Lebenswerk der Fluch des frühen Gelingens gelegt, denn die vielen Bücher, die er danach schrieb, lösten ein ungleich schwächeres Echo aus (Dannemann beharrt arg unbeholfen darauf, sie hätten "potentiell Reaktualisierungspotential"). Außerdem versuchte Lukács ebenso beharrlich wie vergeblich, seine Frühschriften schlechtzumachen. Gegenüber der Theorie des Romans, die er ein "in jeder Hinsicht reaktionäres Werk" nannte, empfahl er die Haltung "schroffster Ablehnung", "Geschichte und Klassenbewusstsein" hielt er "aufrichtig und sachlich für verfehlt" mit Blick auf die Entwicklung der "echten marxistischen Methode".

Sosehr Lukács sich gegen sein junges Alter Ego sträubte, so sehr ist er sich doch treu geblieben. Wie der auf Oktober 1910 datierte Brief an Leo Popper über "Form und Wesen des Essays" zeigt, sind die Grundmotive seines Denkens von Anfang an präsent. Es sind deren drei.

In diesem frühen Text operiert Lukács mit der Gegenüberstellung von "Tatsachen und ihren Zusammenhängen" einerseits, "Seelen und Schicksalen" andererseits. Oder anders gesagt: Er stellt die der "Wissenschaft" zugängliche "empirische Wahrheit" neben das "ethische Wollen": das Sein neben das Bewusstsein. Mit der Spannung zwischen den objektiven Verhältnissen und dem subjektiven "Sprung" in die "Freiheit" tut sich Lukács dann als Marxist - wie all seine Gesinnungsgenossen - schwer. In "Geschichte und Klassenbewusstsein" lässt er das Proletariat vom Objekt zum Subjekt werden, das sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf von Verelendung und Verdinglichung zieht. Dieses "Subjekt-Objekt" der Geschichte soll sich dem "naturgesetzlichen Walten" der Ökonomie, den "wirklichen bewegenden Kräfte der Geschichte" unterwerfen und dabei an die "Schwelle seines eigenen Bewusstseins", an die "Schwelle des Sieges" herantreten. Der revolutionäre Elan dieser Kunstfigur bleibt freilich derart unzuverlässig, dass Lukács später eher auf Parteidisziplin setzt. Immerhin darf man ihm zugutehalten, dass er die Freiheit nicht als unerreichbare "Frucht" oder fernes "Resultat" ansieht, sondern in jedem "Moment der Entwicklung", im Junktim von "Sozialismus" und "Demokratie" erfahrbar machen will.

Wie man Balzac zum literarischen Vorbild promoviert

Das zweite Grundmotiv betrifft nicht das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt, sondern dasjenige zwischen Individuum und Allgemeinheit. Seinen subtilen Ausdruck findet es im frühen Brief über den "Essay" anhand einer Akzentverschiebung beim Umgang mit dem "Leben". Wenn man "das Leben" anspreche, nehme man es - so meint er - als einzelnes, individuelles in den Blick; wenn man dagegen auf "das Leben" schaue, wende man sich ihm in seiner ganzen Fülle und kollektiven Verfasstheit zu. Diese Verschiebung ist folgenschwer, denn sie führt Lukács zur Abwehr der "Ideologie" der "individuellen Freiheit" und zur Feier der Gemeinschaft als "organisches Ganzes", "solidarische Einheit" und "wirkliche Volkstümlichkeit".

Glanz und Elend seiner Philosophie liegen hier nur Millimeter auseinander. Erst das Elend: Vor Lukács' Augen finden deshalb nur diejenigen Schriftsteller Gnade, die mit dem Überblick über das große Ganze protzen. So befördert er Honoré de Balzac, der sich die Rolle des allwissenden Autor-Königs, des royalistischen Realisten anmaßt, zum Vorbild für zeitgenössische Literaten. Was er dann über Letztere - etwa über James Joyce - schreibt, ist erschütternd platt. Und doch ist Lukács' Schritt vom Individuum zur Allgemeinheit auch von Glanz umgeben. Dass die Orientierung am "gesellschaftlichen Sein" einem humanen Impuls entspringt, ergibt sich aus folgenden Sätzen: "Es gibt keine Individuen ... Dieses Individuum oder jenes, welches du willst, ist Repräsentant einer ganzen Gattung. Im Grunde sind wir alle kollektive Wesen, wir mögen uns stellen, wie wir wollen. Denn wie weniges haben und sind wir, das wir im reinsten Sinne unser Eigentum nennen! Wir müssen alle empfangen und lernen, sowohl von denen, die vor uns waren, als von denen die mit uns sind." Hier spricht freilich nicht Lukács selbst, sondern er zitiert seinen Gewährsmann Johann Wolfgang von Goethe.

Das dritte Grundmotiv, das Lukács umtreibt, betrifft das Verhältnis von Theorie und Praxis. Schon im Brief über den "Essay" aus dem Jahr 1910 drängt es ihn von der "Stellungnahme dem Leben gegenüber" zu der "Möglichkeit, es selbst umzuformen". Dies nimmt er ernster als fast all seine Kollegen im zwanzigsten Jahrhundert.

Seine Treue zur Kommunistischen Partei war eine Überlebensfrage

Er verwandelt sich nicht nur in einen politischen Philosophen, sondern wird Revolutionär, Aktivist, Parteifunktionär. Nur im Einklang oder Gleichschritt mit der Praxis ist Theorie für ihn erträglich und ertragreich. Die bequeme Distanz der "Intelligenz" - ein Wort, das er fast nur negativ verwendet - ist Lukács zuwider. So polemisiert er gegen Philosophen wie Schopenhauer, Nietzsche und Adorno, die sich, wie er meint, im "Grand Hotel Abgrund" eingerichtet haben und denen er einen "salto vitale ins Lager des revolutionären Proletariats, in eine lichtvolle Zukunft" empfiehlt.

Wer darüber wettert, dass Lukács über fünf Jahrzehnte der Kommunistischen Partei die Treue hielt, mag das Recht oder die Selbstgerechtigkeit auf seiner Seite haben. Für Lukács war diese Treue einfach eine Überlebensfrage - für ihn persönlich und für die Menschheit. Er hielt zeitlebens an dem welthistorischen Urteil fest, dass Hitler ohne den Widerstand der Kommunisten, ohne die Sowjetunion, ohne Stalin zum "Herrscher Europas und der Welt" aufgestiegen wäre. Ungerührt nahm er hin, dass die Kommunisten ihm seine Treue schlecht vergalten und die Nichtkommunisten sie ihm übel nahmen.

Zwei kleine Funde aus dem hier besprochenen Band können von denen, die gern mit dem Feuer spielen, für aktuelle Debatten umfunktioniert werden. Zum Ersten lässt sich Lukács als Zeuge im aktuellen Streit um die politisch korrekte Sprache einsetzen: Gewisse "Ideologen vergessen", so warnt er, "dass sie die wirklich bestehende Welt keineswegs bekämpfen, wenn sie nur die Phrasen dieser Welt bekämpfen." Zum Zweiten entpuppt sich Lukács als Feind des Regietheaters, denn er beklagt sich darüber, dass ein "Klassiker" wie Schillers "Don Karlos" in "hochmütiger" Weise "zerpflückt" und die "ruhmvolle literarische Vergangenheit des deutschen Volkes" mit Füßen getreten werde. Wie auch immer man zu solchen Aktualisierungen stehen mag: Zur Tragik von Lukács' Leben und Werk gehört, dass er beim Versuch des Schulterschlusses mit der Weltgeschichte oft verlassen dastand.

In der nächsten Auflage könnte man einen Druckfehler bereinigen, der freilich so schön ist, dass er fast als erhaltenswert gelten muss. Marx habe die Ware als "vertracktes Ding" voll "theologischer Macken" bezeichnet, so heißt es jetzt. "Theologische Mucken", so lautet das Original.

DIETER THOMÄ

Georg Lukács: "Ästhetik, Marxismus, Ontologie".

Ausgewählte Texte.

Hrsg. von Rüdiger

Dannemann

und Axel Honneth.

Suhrkamp Verlag,

Berlin 2021. 572 S., br., 28,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Nach der klugen Entscheidung der Herausgeber versammelt er 'nicht Ausschnitte aus Hauptwerken, sondern vorrangig weniger bekannte, aber symptomatische Texte' des Philosophen. ... Glanz und Elend seiner Philosophie liegen hier nur Millimeter auseinander.« Dieter Thomä Frankfurter Allgemeine Zeitung 20210604