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Produktdetails
  • Verlag: Suhrkamp
  • Seitenzahl: 519
  • Abmessung: 38mm x 127mm x 205mm
  • Gewicht: 588g
  • ISBN-13: 9783518582220
  • Artikelnr.: 06286028
  • Herstellerkennzeichnung
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.09.1996

Nicht nur schön, sondern auch ganz schön gut
Josef Früchtls Unterweisung im ästhetischen Denken stellt die Moral über die Bilder

Die moderne Ästhetik hat es schwer. Seit der Glaube an philosophische Systeme untergegangen ist, muß sie endgültig für sich selbst stehen. Jetzt kann sie sich nicht mehr ihren Platz in einer Ecke eines großen metaphysischen Gebäudes zuweisen lassen. Gleichzeitig allerdings wird sie dadurch nolens volens der programmatischen Rolle moderner Kunst gerecht, die ihre Autonomie gegenüber Natur, Gesellschaft und Tradition zu betonen versteht. Das interesselose Wohlgefallen, eine nicht auf Nutzen ausgerichtete Affinität zum Schönen, die Kant in seiner "Kritik der Urteilskraft" zum zentralen Moment ästhetischer Erfahrung bestimmt hat, wirkt wie eine Prophezeiung heutiger künstlerischer Manifeste. Es gibt dabei nur einen kleinen Schönheitsfehler: Kant hat mit seiner Ästhetik selbst einen überaus anspruchsvollen Zweck verfolgt. Das war die Beantwortung der dritten seiner grundlegenden philosophischen Fragen: "Was darf ich hoffen?"

Denn der ästhetische Teil der "Kritik der Urteilskraft" leitet lediglich zur Erörterung der Teleologie über. Dadurch, daß Kant in der Schönheit eine Analogie zur göttlichen Ordnung erkennt - als seien schöne Gegenstände zweckmäßig strukturiert -, dient sie dem Menschen als Symptom dafür, daß er mit seiner Vernunft nicht allein ist, daß die Welt ihm den passenden Rahmen bietet, in dem er seine Handlungen vollziehen kann. Entscheidend ist somit der Übergang vom Schönen zum Sittlichen, von der Ästhetik zur Ethik, wobei letztere im Kantischen System eindeutig den höheren Stellenwert hat.

Können somit Kants Überlegungen im nachmetaphysischen Zeitalter noch aktuell sein? Dieser Frage geht ein voluminöses Buch von Josef Früchtl nach, das sich der Rehabilitierung der ästhetischen Philosophie gerade im Hinblick auf ihre Bedeutung für moralische Urteile verschrieben hat. Hier ist Kants Philosophie natürlich Ausgangs- und Endpunkt aller Erörterung, auch wenn er aus den angeführten Gründen nur eine "marginalästhetische Ethik" vertritt, während Früchtl in seinem Differenzierungsmodell dem "perfektionsästhetischen" Ansatz den Vorrang gibt, der im Geschmack die Vollendung moralischer Urteilsarbeit sieht, also die Ethik in der Ästhetik münden läßt.

Neben diesen zwei Verhältnisbestimmungen von Ästhetik und Ethik unterscheidet der Frankfurter Philosoph noch eine "paritätsästhetische" und eine "fundamentalästhetische" Richtung. Erstere sieht Ethik und Ästhetik als gleichwertig an, muß damit aber ein labiles Gleichgewicht postulieren, das fortwährend umzuschlagen droht: entweder in eine perfektionsästhetische oder eine marginalästhetische Ethik, je nachdem, ob die Ästhetik beim Verlassen des Gleichgewichts das größere Gewicht erhält oder nicht. Die fundamentalästhetische Ethik dagegen sieht allein in der Ästhetik die Möglichkeit, überhaupt zu moralischen Urteilen zu gelangen. Solche Ansätze wirken leider etwas weltfremd, wie es beispielsweise die Versuche Gernot Böhmes, eine ökologische Ästhetik zu entwickeln, belegen.

Somit konkurrieren marginalästhetische mit perfektionsästhetischen Ansätzen um den Vorrang, und Früchtl berücksichtigt vor allem die letzteren, weil er in ihnen die herrschende Theoriebildung der Gegenwart erkennt. Dabei unterscheidet er zwei Ausgangspunkte: Einerseits rekurriert die perfektionsästhetische Ethik auf postmoderne Überlegungen, vor allem auf die ästhetischen Theorien Michel Foucaults und Richard Rortys. Andererseits kann sie auch Resultat neoaristotelischer Denkanstrengung sein, für die bei Früchtl exemplarisch Hans-Georg Gadamer und Martha C. Nussbaum stehen.

Jedem dieser vier Exponenten moderner ästhetischer Theorie widmet Früchtl deshalb eine eingehende Erörterung, die aber immer auch bei bestimmten Begriffen exzentrisch wird und dann die jeweiligen Theorien in den generellen ästhetischen Diskurs rückbindet. So wird Foucaults "Ästhetik der Existenz" zum Ausgangspunkt einer Klärung des Verhältnisses von Leben und Kunst, die sich am Begriff des "Stils" orientiert. Rortys Plädoyer für eine auf die Rhetorik zurückgenommene Philosophie nach dem Vorbild der Literatur bietet die Folie für eine digressive Diskussion der Darstellungsformen des Leidens. Gadamers hermeneutisch begründete Antiästhetik führt zur Darstellung der Geschichte von Takt und Höflichkeit im ästhetischen Diskurs, und Nussbaums Versuch, eine am Modell der Tragödie geschulte Ethik zu begründen, gestattet Früchtl eine ausgiebige Erörterung der Anerkennungsproblematik. Es sind gerade diese parenthetisch in den Text eingebetteten Passagen, die den Übergang von der Ästhetik zur Ethik erst deutlich machen und somit für Früchtls Bemühung um eine Rehabilitierung ästhetischer Ethik zentral sind.

Neben diesen teilweise hermetischen, aber immer luziden Einführungen in das Denken der vier Perfektionsästheten vergißt der Autor keineswegs, auch anderen Vertretern dieser Richtung, etwa Adorno oder Schiller, und diversen Konkurrenten die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen. Diese Leistung ist um so bewundernswerter, als Früchtl bei seinen umfangreichen Paraphrasen nicht in einen trockenen akademisch-philosophischen Duktus verfällt, sondern sich eine ironiegetränkte Sprache bewahrt, die, ergänzt durch vielfältige Exempla und diverse Rekapitulationen, auch höchsten didaktischen Ansprüchen genügt. Die Freude an der Lektüre erleichtert dem Leser die Durchdringung komplexer Passagen ganz erheblich und löst zugleich den Anspruch ästhetischer Philosophie ein, selbst nicht unter ein gewisses ästhetisches Niveau zu fallen.

Allerdings hat Früchtl mit seinem Buch keine Ästhetik geschrieben, sondern eine Anleitung zum ästhetischen Denken vorgelegt. Die schwache Seite seines Textes liegt in der weitgehenden Ausblendung des Phänomens Kunst. Bedingt durch die Präferenzen der berücksichtigten Ästhetiker, liegt der Schwerpunkt bei den verbliebenen Beispielen auf der Literatur, obwohl Früchtl nicht müde wird, die prinzipielle Gleichrangigkeit von bildender Kunst und vor allem Musik für ästhetische Erwägungen zu betonen.

Hier wäre der Ort gewesen, sich von der durchaus originellen Lektüre von Klassikern zu lösen und selbst zu versuchen, die ästhetische Theorie zu bereichern, statt lediglich ihre Bedingungen zu analysieren. Daß Früchtl das Zeug dazu hat, beweisen seine gelegentlichen diesbezüglichen Aperçus zur Genüge. Aber die Frankfurter Schule hat sich seltsamerweise nach Adorno nicht mehr an einer komplexen Ästhetik versucht, und offenbar scheut auch ihr jüngster Sproß die begriffliche Anstrengung, die dieses Projekt erfordern würde.

Das große Finale seines Buchs bestreitet Früchtl dann allein mit Kant. Hatte der Verfasser zuvor die perfektionsästhetische Ethik bevorzugt, gewinnt nun der marginalästhetische Übervater Kant plötzlich an Attraktivität. Das resultiert indes aus einer Transformation Kants zum zumindest perfektionsästhetisch angerührten Denker. Früchtl arbeitet den Begründungszusammenhang des kategorischen Imperativs heraus und erhält als Motiv für die Unterwerfung des Menschen unter dieses Gebot die "Anregung der ethischen Kreativität" als Leistung der Phantasie. Denn die reflektierende Urteilskraft als ästhetisches Phänomen entscheidet über die Realisierung des kategorischen Imperativs, weil der Mensch sich in je konkreten Situationen betreffs der Anwendung seiner Maximen entscheiden muß: Er sucht also zu einer besonderen Situation die allgemeingültige Maxime.

Damit aber findet bei Kant, so wie Früchtl ihn sieht, die Ethik ihren Inhalt durch die Ästhetik, und der von den Vertretern der Postmoderne oder des Neo-aristotelismus abgelehnte Rigorist aus Königsberg erweist sich als durchaus moderner Ethiker, der keinesfalls das Individuum unter die Kuratel unflexibler Maximen stellen will, sondern im Rahmen des kategorischen Imperativs Raum für die Urteilskraft und ihr Geschmacksurteil läßt. Das sittliche Urteil folgt dann diesem nach, behält aber dennoch seine höhere Valenz. So wird aus dem Marginalästhetiker doch kein Perfektionsästhetiker und aus Kants Theorie auch kein neues Paradigma der Moderne. Aber es wird wieder deutlich, daß in allen modernen Paradigmata ein gut Teil Kant enthalten ist. ANDREAS PLATTHAUS

Josef Früchtl: "Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil". Eine Rehabilitierung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 519 S., geb., 78,- DM.

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