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Haben die großen Schriftsteller das Problem der Zeit genauer erfasst als die Philosophen? Parallel zu den großen philosophischen Systemen der Positivität im frühen 19. Jahrhundert hat sich die Darstellung der negativen Zeiterfahrung als ein dominierendes Thema der Literatur durchgesetzt. Dem lauten JA der Philosophie setzen sie ihr wohlformuliertes Nein entgegen. Karl Heinz Bohrer folgt der dunklen Linie, die sich von Leopardi über Kafka bis in die Gegenwart zieht, um die Struktur von Bewusstseinszeit und ihre imaginative Bearbeitung zu analysieren.

Produktbeschreibung
Haben die großen Schriftsteller das Problem der Zeit genauer erfasst als die Philosophen? Parallel zu den großen philosophischen Systemen der Positivität im frühen 19. Jahrhundert hat sich die Darstellung der negativen Zeiterfahrung als ein dominierendes Thema der Literatur durchgesetzt. Dem lauten JA der Philosophie setzen sie ihr wohlformuliertes Nein entgegen. Karl Heinz Bohrer folgt der dunklen Linie, die sich von Leopardi über Kafka bis in die Gegenwart zieht, um die Struktur von Bewusstseinszeit und ihre imaginative Bearbeitung zu analysieren.
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Autorenporträt
Karl Heinz Bohrer, 1932 in Köln geboren, am 4.8.2021 in in seiner Wahlheimat London gestorben, war 1984-1997 Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Bielefeld und seit 2003 Visiting Professor an der Stanford University. Von 1984 bis 2012 war er Herausgeber des MERKUR. Im Carl Hanser Verlag erschienen zuletzt: Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken (EA, 2011),Granatsplitter. Erzählungen einer Jugend (2012), Ist Kunst Illusion? (EA, 2015) und Imaginationen des Bösen. Zur Begründung einer ästhetischen Kategorie (EA, 2016).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002

Zernichtet ist der Augenblick
Karl Heinz Bohrer adelt die Literatur / Von Jochen Hieber

Es sei nicht verheimlicht, daß das neue Buch von Karl Heinz Bohrer durch seine Gelehrsamkeit beeindruckt. Es sei angezeigt, daß es gleichwohl von einem ganz unakademischen Furor geprägt, ja durchdrungen ist. Dieser Autor will weit mehr als die bloß neue Deutung überlieferter Texte. Er will der Philosophie ihre Unfähigkeit zeigen, mit der grundständigen Leere des Lebens zurechtzukommen - und er adelt die Literatur, indem er vor allem zwei ihrer für ihn deshalb außergewöhnlichsten Vertreter, dem Italiener Giacomo Leopardi und dem Prager Franz Kafka, bescheinigt, daß sie auf ästhetische Weise vermochten, was intellektuell stets mißlang. Bohrers These also lautet, daß "die Differenz zwischen philosophischer und imaginativer Rede als Differenz zwischen Lebensversöhnung und konsequenter Negativität auftritt".

Prüfstein seines Verfahrens ist, wie beide, Dichter wie Denker, mit dem kleinsten Zeitmaß umgehen: mit dem Augenblick, dem Jetzt. "Ich erlebe eine Freude: wie?" fragt Leopardi im "Zibaldone", dem erst zwischen 1898 und 1907, siebzig Jahre nach seinem Tod, veröffentlichten "Gedankenbuch". Und er antwortet: "In dem Augenblicke, da ich sie erfahre, befriedigt die Freude mich nicht, und da sie mein Verlangen nicht stillt, ist sie auch noch nicht Freude." Bevor indes die Freude Freude werden kann, ist der Augenblick auch schon vorüber. Wenn aber der Augenblick selbst entwertet ist, sind auch die Bezüge des Jetzt zum Einst und zum Bald, zu Vergangenheit und Zukunft, zernichtet - das Reflektieren des Augenblicks erweist diesen als notwendig defizitär. Demgegenüber sind alle Rettungsversuche der Philosophie von Hegels "wahrhaftem Jetzt" über Nietzsches "emphatischen Augenblick" bis zu Heideggers "Idee einer ekstatischen Zeitlichkeit" nur Ausweis einer intellektuellen Flucht vor dem Unausweichlichen, dem Nichts.

Im neuen Buch setzt der Bielefelder Literaturprofessor Karl Heinz Bohrer konsequent fort, was er mit den Studien "Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit" (1994), "Der Abschied. Theorie der Trauer" (1996) und "Die Grenzen des Ästhetischen" (1998) schon entschieden auf dem Weg gebracht hat: die Destruktion jeder Art von "Besänftigung unserer Sehnsuchtsbewegung nach Glück". Und er radikalisiert seine Sicht des unglücklichen Bewußtseins, indem er dessen "Grundlosigkeit" konstatiert, es also nicht im jeweils geschichtlichen Umfeld betrachtet, sondern als existentielle Konstante gerade bei jenen Autoren begreift, die ausschließlich im Schreiben mit dem Leben fertig werden können. Keiner hat diese Situation klarer und schärfer formuliert als Franz Kafka in einer Tagebuchnotiz: "Derjenige, der mit dem Leben nicht lebendig fertig wird, braucht eine Hand, um die Verzweiflung über sein Schicksal ein wenig abzuwehren, . . . mit der anderen Hand aber kann er eintragen, was er unter den Trümmern sieht . . ., er ist doch tot zu Lebzeiten und der eigentlich Überlebende."

So weit, so ertragreich. Und nur folgerichtig, daß Bohrer sich anschickt, die Verhinderer der Negativität dingfest zu machen - seine dunklen Heroen der Nichtigkeit erstrahlen danach nur desto heller. "Philosophische Positivität" heißt das Kapitel, das Bohrer dafür reserviert. Besonders bemerkenswert daran ist, daß neben Hegel, Nietzsche und Heidegger auch, gerade auch Theodor W. Adorno, der Verfasser der "Negativen Dialektik", dem Verdacht anheimfällt, dem Positiven ein Hintertürchen offenzuhalten. Denn er, Adorno, habe seine heillosen Diagnosen letztlich auf den Menschen von heute bezogen, auf "das in der Massengesellschaft entfremdete Individuum" - unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen, suggeriere er damit, könne der Negativismus überwunden werden.

Je länger man in diesem Buch liest, desto obsessiver wollen einem Bohrers Argumente erscheinen. Für ihn steht fest, daß angesichts des je individuellen Sterbens die Erfahrung des zernichteten Augenblicks - und damit Kafkas Tod zu Lebzeiten - die äußerste Position ist, die eingenommen werden kann, ja muß. Wer sie nicht einnimmt, verfällt dem Verdikt der falschen Versöhnlichkeit. Der Systemzwang, in den Bohrer dabei gerät, macht dann auch vor der problematischen Interpretation jener Zitate nicht halt, die er seinen Gewährsleuten Kafka und Leopardi verdankt. Leopardi konstatiert etwa, daß von dunklen Dichtern ästhetischer Glanz ausgehe: "Das ist das Eigentümliche der wahrhaft großen Werke, daß sie auch dann, wenn sie die Nichtigkeit aller Dinge vor Augen führen . . ., stets zum Troste gereichen." Für Bohrer sagt Leopardi hier vor allem, daß bedeutende Dichtung "immer" einhergehe mit der Darstellung des Nichtigen. Leopardi aber sagt "auch dann", keineswegs "immer".

Ästhetischer Glanz geht von Bohrers Stil nicht aus. Im Gegenteil, ob seines nominalistischen Jargons und seiner oft nicht enden wollenden, sich in sich selbst verschachtelden Sätze ist man, erschöpft ans Ende gelangt, recht geneigt, dem klassischen Argument des Skeptizismus nachzuhängen, nach welchem es eines ist zu philosophieren, ein anderes aber zu leben. Auch wenn das Leben außerhalb der ästhetischen Negativität für Bohrer gewiß banal ist.

Karl Heinz Bohrer: "Ästhetische Negativität". Carl Hanser Verlag, München 2002. 422 S., geb., 24,90 .

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Ludger Heidbrink begnügt sich im wesentlich mit einer referierenden Kritik des Buchs, um nur am Ende leichte Zweifel anzumelden. Wie die anderen Rezensenten des Buchs auch beschreibt er zunächst Bohrers (von außen etwas banal wirkenden) Begriff der bloß verfließenden Zeit, der haltlosen Gegenwart, in der wir angeblich stecken und die von den Philosophen - und zwar selbst von Nietzsche, Heidegger oder Adorno - in einer Art professioneller Blindheit verkannt, ja verharmlost werde. Nur die Literatur blicke ihr ins Gesicht. Einen "antiphilosophischen Affekt" macht Heidbrink bei Bohrer aus und wirft ihm außerdem Unklarheit vor, denn er hat Zweifel daran, ob die Gegenwart als bloß verschwindender Moment überhaupt wahrgenommen werden kann: "Der Zustand des negativen Augenblicks ist nicht lebbar, er bleibt ein imaginatives Konstrukt". Und da hilft nicht mal Kafka.

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"Es sei nicht verheimlicht, dass das neue Buch von Karl-Heinz Bohrer durch seine Gelehrsamkeit beeindruckt." Jochen Hieber, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.03.2002

"Karl Heinz Bohrer hat mit "Ästhetische Negativität" sein opus magnum literaturtheoretischer Reflexion vorgelegt." Rudi Thiessen, Die Welt, 6.04.2002

"Bohrers neues Buch ruft uns also zurück in die schwarze Moderne, die die postmoderne Kunst gerade hinter sich lassen wollte." Norbert Bolz, Frankfurter Rundschau, 20.03.02