Schon daß seit Baudelaire über Mallarme, Proust, Apollinaire, Picasso, Giacometti bis Yves Bonnefoy eine Traditionslinie bedeutender moderner Kunst und Dichtung sich unmißverständlich zum Gedanken des Werks und seiner normativen ästhetischen Kraft bekannte, dürfte Grund genug sein, die Frage nach der ästhetischen Legitimität werkhaft konzipierter Kunst offenzuhalten und die Möglichkeit, ja Verbindlichkeit werkhaft gebundener Kunst neu zu bedenken.
Die Logik des Ästhetischen ist fundamental und durch keine ästhetische Reflexion noch durch ästhetischen Voluntarismus außer Kraft setzbar, es sei denn um den Preis des Ästhetischen selbst.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.02.1998Das Klassische stirbt niemals aus
Elegisch: Karlheinz Stierle beschwört die Einheit des Werks
Mit kaum bezweifelter Autorität prägte in den siebziger und achtziger Jahren die Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik" die Diskussion um die Methoden der Geisteswissenschaften. Daß nun nach Hans Robert Jauß mit "Wege des Verstehens" (1994) der zweite Protagonist dieser Gruppe eine Summe seines Lebenswerks vorlegt, zeigt das Ende dieser Epoche an. Die Postmoderne hatte den Autor in Frage gestellt, die dekonstruktive Literaturtheorie die Grundlage des Sinnverstehens und damit die Hermeneutik selber in Zweifel gezogen. Die Öffnung zu diesen Ansätzen hatte die Gruppe noch selbst vollzogen. Jedoch erschien es bei Jauß schließlich so, als sei der Igel der Hermeneutik immer schon "all da" gewesen und dem dekonstruktiven Hasen beim Wettlauf schnell die Luft ausgegangen.
Mit der Betonung der Offenheit der Werke, ihrer Abhängigkeit voneinander und einer Produktivität ohne Subjekt schien auch der herkömmliche Begriff des Werks überflüssig geworden zu sein. Eine vorschnelle Verabschiedung - meint Karlheinz Stierle. Und so ist es das Ziel seines Buches, die "Verbindlichkeit werkhaft gebundener Kunst neu zu bedenken". Verstehen als Interpretation habe nach wie vor die Aufgabe, Zugänge zum Werk zu eröffnen, das Stierle als "Relais der gesellschaftlichen Kommunikation und des gesellschaftlichen Selbstverständnisses im öffentlichen Raum" begreift. Das Fortbestehen des Werkcharakters begründet der Hermeneut mit der eigentümlichen "ästhetischen Rationalität" der Werke. Die Funktionsweise dieser ästhetischen Rationalität wird von vornherein streng von allen Systemhypothesen im Gefolge Niklas Luhmanns geschieden, die für Stierle allenfalls eine Form scheinobjektiver Rechthaberei darstellen. Der ästhetischen Rationalität als Selbstbespiegelung des Werks ist dagegen das Moment der spekulativen Entgrenzung wesentlich. Folglich ist auch die Deutung nicht ohne Überschreitung der materialen und faktischen Wirklichkeit möglich. Sie muß sich zugleich gegenüber der inneren Notwendigkeit und dem objektiven Gehalt des Werks bewähren.
Wesentlich stärker als bei Jauß erscheint bei Stierle das literaturwissenschaftliche Verstehen als eine Tätigkeit, die Distanzen setzt: "Das Kunstwerk ist kognitiv uneinholbar." Jeder Versuch der Annäherung schafft daher neue Distanzen, jedoch können diese selber zu einer Vertiefung und Bereicherung der ästhetischen Erfahrung führen. In diesem Wechselspiel von Annäherung und Distanzierung sieht Stierle ein Potential der Widerständigkeit, der immer neuen symbolischen Auseinandersetzung der Subjekte mit ihren natürlichen und gesellschaftlichen Ordnungen. Damit unterzieht er den Begriff der ästhetischen Erfahrung einer kritischen Neubewertung, in der weder Adornos These von der notwendigen Negativität der modernen Kunst noch Jauß' Rehabilitierung des Kunstgenusses besonders gut wegkommen. Vor allem Jauß' Versuch, den "Kunstgenuß des Normalverbrauchers" möglichst bruchlos mit dem Verständnis des Experten zu versöhnen, steht Stierle höchst skeptisch gegenüber. Aus dem "Schlaraffenland der kommunikativen Funktion", das die Massenmedien dem Normalverbraucher bieten, führe kein Weg zu einer im Kommunikativen eben nicht aufgehenden Kunst.
Mehrfach kommt Stierle auf den spontaneistischen Kunsthistoriker Max Imdahl und seine Entgegensetzung des "sehenden Sehens" und des "wiedererkennenden Sehens" zu sprechen, ohne in deren Widersprüchlichkeit lange herumzustochern. Auch das sehende Sehen macht die Distanz zwischen Tradition und aktueller Erfahrung nicht vergessen und muß zugeben, daß es keine unmittelbare Erfahrung ist, und es entzweit sich noch einmal, wenn es Sprache werden soll. Um so nachdrücklicher weist die Analyse auf das am Werk hin, was keine Rede eindeutig abbilden kann: die ästhetische Rationalität in ihrer reflexiven Zuwendung auf sich selbst. So hat für Stierle die Arbeit des Interpreten nach wie vor eine dienende Funktion - nicht anders als die literarische Kritik. Sie schafft Voraussetzungen, sich den Werken in Konzentration zuzuwenden, um in ihnen das Verhältnis des Sichtbaren zum Unsichtbaren zu bestimmen, aus dem allein die widersprüchlichen Problemlagen des Lebens verstanden werden können. Stierle scheut sich daher nicht, den "ästhetisch-praktischen Status" der Interpretation über den wissenschaftlichen zu erheben.
Die Interpretation muß dadurch Stierle zufolge keineswegs beliebig und damit überflüssig werden. Seine Analysen einzelner Werke und Probleme zeigen immer wieder, daß das Erfassen der Werkgestalt nicht allein eine Sache subjektiver Rezeption ist. Die "Krise der Lesekultur" und das von Stierle offensichtlich bedauerte Verschwinden des Bildungsbürgertums setzen freilich den professionellen Deuter in eine "wenig komfortable Lage". Verloren geben aber will Stierle dennoch nichts, vielmehr begreift er seine Rehabilitierung des Werkbegriffs selbst als eine Strategie zur Veränderung. Wandel soll offenbar dadurch geschaffen werden, daß man dem Wandel widersteht.
Schon die Namen der Autoren und Künstler, denen Stierle die meiste Aufmerksamkeit widmet - Dante, Perrault, Diderot, Lessing, Hölderlin, Baudelaire, Mallarmé, Valéry, Proust und Claude Simon; Giotto, Delacroix, Mantegna und Poussin -, zeigen, daß dies ein Unternehmen von beträchtlicher Delikatesse ist. In der Tat verleugnet Stierle nicht, daß seine Absicht, in der Analyse der ästhetischen Rationalität die Einheit des Werks zu erweisen, auf eine Rehabilitierung und Erneuerung des Klassizismus hinausläuft. Mit Friedrich Schlegel sieht er noch das Moderne und auch Postmoderne als "grenzenlos wachsende Klassizität". Gerade durch den Rückgriff auf klassizistische Verfahrensweisen könne sich die moderne Kunst gegen ihre Bedrängnisse durchsetzen: "Werkhafte Verdichtung ist noch immer die größte Chance, sich im Raum des Kulturgedächtnisses zu erhalten." Das Klassische würde so zum Widerstand gegen den Herrschaftsanspruch gegenwärtiger, zerstreuender Aktualität. Damit freilich käme Stierle dem gebrochenen Begriff der Klassizität bei Adorno oder Peter Szondi wieder näher, als er vielleicht möchte. In Erwartung des Goethejahrs wird man diesem Konzept mit Skepsis begegnen, denn klassizistische Rückstände sind nach wie vor das größte Hindernis der Rezeption und Verbreitung gegenwärtiger Kunst und Literatur. Den Ausführungen dieses klugen und distanzierten Hermeneuten folgt man dennoch mit Genuß und Gewinn. FRIEDMAR APEL
Karlheinz Stierle: "Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff". Wilhelm Fink Verlag, München 1997. 518 S., br., 78,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Elegisch: Karlheinz Stierle beschwört die Einheit des Werks
Mit kaum bezweifelter Autorität prägte in den siebziger und achtziger Jahren die Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik" die Diskussion um die Methoden der Geisteswissenschaften. Daß nun nach Hans Robert Jauß mit "Wege des Verstehens" (1994) der zweite Protagonist dieser Gruppe eine Summe seines Lebenswerks vorlegt, zeigt das Ende dieser Epoche an. Die Postmoderne hatte den Autor in Frage gestellt, die dekonstruktive Literaturtheorie die Grundlage des Sinnverstehens und damit die Hermeneutik selber in Zweifel gezogen. Die Öffnung zu diesen Ansätzen hatte die Gruppe noch selbst vollzogen. Jedoch erschien es bei Jauß schließlich so, als sei der Igel der Hermeneutik immer schon "all da" gewesen und dem dekonstruktiven Hasen beim Wettlauf schnell die Luft ausgegangen.
Mit der Betonung der Offenheit der Werke, ihrer Abhängigkeit voneinander und einer Produktivität ohne Subjekt schien auch der herkömmliche Begriff des Werks überflüssig geworden zu sein. Eine vorschnelle Verabschiedung - meint Karlheinz Stierle. Und so ist es das Ziel seines Buches, die "Verbindlichkeit werkhaft gebundener Kunst neu zu bedenken". Verstehen als Interpretation habe nach wie vor die Aufgabe, Zugänge zum Werk zu eröffnen, das Stierle als "Relais der gesellschaftlichen Kommunikation und des gesellschaftlichen Selbstverständnisses im öffentlichen Raum" begreift. Das Fortbestehen des Werkcharakters begründet der Hermeneut mit der eigentümlichen "ästhetischen Rationalität" der Werke. Die Funktionsweise dieser ästhetischen Rationalität wird von vornherein streng von allen Systemhypothesen im Gefolge Niklas Luhmanns geschieden, die für Stierle allenfalls eine Form scheinobjektiver Rechthaberei darstellen. Der ästhetischen Rationalität als Selbstbespiegelung des Werks ist dagegen das Moment der spekulativen Entgrenzung wesentlich. Folglich ist auch die Deutung nicht ohne Überschreitung der materialen und faktischen Wirklichkeit möglich. Sie muß sich zugleich gegenüber der inneren Notwendigkeit und dem objektiven Gehalt des Werks bewähren.
Wesentlich stärker als bei Jauß erscheint bei Stierle das literaturwissenschaftliche Verstehen als eine Tätigkeit, die Distanzen setzt: "Das Kunstwerk ist kognitiv uneinholbar." Jeder Versuch der Annäherung schafft daher neue Distanzen, jedoch können diese selber zu einer Vertiefung und Bereicherung der ästhetischen Erfahrung führen. In diesem Wechselspiel von Annäherung und Distanzierung sieht Stierle ein Potential der Widerständigkeit, der immer neuen symbolischen Auseinandersetzung der Subjekte mit ihren natürlichen und gesellschaftlichen Ordnungen. Damit unterzieht er den Begriff der ästhetischen Erfahrung einer kritischen Neubewertung, in der weder Adornos These von der notwendigen Negativität der modernen Kunst noch Jauß' Rehabilitierung des Kunstgenusses besonders gut wegkommen. Vor allem Jauß' Versuch, den "Kunstgenuß des Normalverbrauchers" möglichst bruchlos mit dem Verständnis des Experten zu versöhnen, steht Stierle höchst skeptisch gegenüber. Aus dem "Schlaraffenland der kommunikativen Funktion", das die Massenmedien dem Normalverbraucher bieten, führe kein Weg zu einer im Kommunikativen eben nicht aufgehenden Kunst.
Mehrfach kommt Stierle auf den spontaneistischen Kunsthistoriker Max Imdahl und seine Entgegensetzung des "sehenden Sehens" und des "wiedererkennenden Sehens" zu sprechen, ohne in deren Widersprüchlichkeit lange herumzustochern. Auch das sehende Sehen macht die Distanz zwischen Tradition und aktueller Erfahrung nicht vergessen und muß zugeben, daß es keine unmittelbare Erfahrung ist, und es entzweit sich noch einmal, wenn es Sprache werden soll. Um so nachdrücklicher weist die Analyse auf das am Werk hin, was keine Rede eindeutig abbilden kann: die ästhetische Rationalität in ihrer reflexiven Zuwendung auf sich selbst. So hat für Stierle die Arbeit des Interpreten nach wie vor eine dienende Funktion - nicht anders als die literarische Kritik. Sie schafft Voraussetzungen, sich den Werken in Konzentration zuzuwenden, um in ihnen das Verhältnis des Sichtbaren zum Unsichtbaren zu bestimmen, aus dem allein die widersprüchlichen Problemlagen des Lebens verstanden werden können. Stierle scheut sich daher nicht, den "ästhetisch-praktischen Status" der Interpretation über den wissenschaftlichen zu erheben.
Die Interpretation muß dadurch Stierle zufolge keineswegs beliebig und damit überflüssig werden. Seine Analysen einzelner Werke und Probleme zeigen immer wieder, daß das Erfassen der Werkgestalt nicht allein eine Sache subjektiver Rezeption ist. Die "Krise der Lesekultur" und das von Stierle offensichtlich bedauerte Verschwinden des Bildungsbürgertums setzen freilich den professionellen Deuter in eine "wenig komfortable Lage". Verloren geben aber will Stierle dennoch nichts, vielmehr begreift er seine Rehabilitierung des Werkbegriffs selbst als eine Strategie zur Veränderung. Wandel soll offenbar dadurch geschaffen werden, daß man dem Wandel widersteht.
Schon die Namen der Autoren und Künstler, denen Stierle die meiste Aufmerksamkeit widmet - Dante, Perrault, Diderot, Lessing, Hölderlin, Baudelaire, Mallarmé, Valéry, Proust und Claude Simon; Giotto, Delacroix, Mantegna und Poussin -, zeigen, daß dies ein Unternehmen von beträchtlicher Delikatesse ist. In der Tat verleugnet Stierle nicht, daß seine Absicht, in der Analyse der ästhetischen Rationalität die Einheit des Werks zu erweisen, auf eine Rehabilitierung und Erneuerung des Klassizismus hinausläuft. Mit Friedrich Schlegel sieht er noch das Moderne und auch Postmoderne als "grenzenlos wachsende Klassizität". Gerade durch den Rückgriff auf klassizistische Verfahrensweisen könne sich die moderne Kunst gegen ihre Bedrängnisse durchsetzen: "Werkhafte Verdichtung ist noch immer die größte Chance, sich im Raum des Kulturgedächtnisses zu erhalten." Das Klassische würde so zum Widerstand gegen den Herrschaftsanspruch gegenwärtiger, zerstreuender Aktualität. Damit freilich käme Stierle dem gebrochenen Begriff der Klassizität bei Adorno oder Peter Szondi wieder näher, als er vielleicht möchte. In Erwartung des Goethejahrs wird man diesem Konzept mit Skepsis begegnen, denn klassizistische Rückstände sind nach wie vor das größte Hindernis der Rezeption und Verbreitung gegenwärtiger Kunst und Literatur. Den Ausführungen dieses klugen und distanzierten Hermeneuten folgt man dennoch mit Genuß und Gewinn. FRIEDMAR APEL
Karlheinz Stierle: "Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff". Wilhelm Fink Verlag, München 1997. 518 S., br., 78,- DM.
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