Die Bewegung Black Lives Matter hat die Lebenswelten Schwarzer Menschen auch in Europa in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Doch was die Geschichte anbelangt, bleibt die Schwarze Präsenz auf dem Kontinent weiterhin ausgespart. Mit ihrer fulminanten historischen Gesamtdarstellung, die von Schweden über Deutschland bis nach Griechenland führt, füllt Olivette Otele endlich diesen allzu weißen Fleck in der Geschichtsschreibung Europas.Otele erzählt von Personenschicksalen und Schauplätzen der Begegnung, vom engen Austausch zwischen Afrika und Europa, der mit den römischen Expansionsbewegungen begann und im historischen Verlauf heute oftmals vergessene Schwarze Heilige, Herrscher und Intellektuelle hervorbrachte. Auf diese Weise macht sie die Konjunkturen der mitnichten immer gleichbleibenden Unterdrückung Schwarzer Menschen fassbar: den Terror der Sklaverei, Schwarze Körperlichkeit und ihre Exotisierung, ebenso aber auch die Schwarzen Widerstandsbewegungen und Bruderschaften, diefür die Freiheit kämpften und die Vorgeschichte der Proteste unserer Tage darstellen.Mit politischer Verve, aber mit Blick für die Ambivalenzen zeichnet Otele das revolutionäre Bild eines immer schon »afrikanischen« Europas, das nötig ist, um die Auseinandersetzungen der Gegenwart und der Zukunft zu verstehen.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Jens Balzer empfiehlt das Buch der britischen Historikerin Olivette Otele über afroeuropäische Biografien aus zwei Jahrtausenden. Inwieweit solche Lebensgeschichten und Legenden wie die des Gelehrten Juan Latino in Granada, des schwarzen Märtyrers Mauritius oder auch die heutiger Rapperinnen europäische Kultur und Geschichte geprägt haben und wie sich allmählich Ideen eines rassischen Unterschieds durchsetzen, erörtert Otele laut Balzer in einer gelungenen Verbindung aus Exzeptionellem und Exemplarischen. Etwas weniger Spunghaftigkeit und mehr Stringenz hätten dem Buch nicht geschadet, erklärt Balzer.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.03.2022Die Spur des Mauritius
Olivette Otele über afrikanische Europäer
Als die amerikanische Autorin Gretchen Gerzina vor mehr als dreißig Jahren bei der Recherche zu ihrem Buch "Black London" auf der Suche nach einem Exemplar von Peter Fryers Pionierstudie zur langen Geschichte schwarzer Menschen in Großbritannien eine Londoner Buchhandlung betrat, beschied sie die Verkäuferin, vor 1945 hätten gar keine Schwarzen in Großbritannien gelebt. Ob eine solche Episode heute noch denkbar ist? In den vergangenen Jahren erschienen jedenfalls zahlreiche substanzielle historische Darlegungen zu "afrikanischen Europäern". Ihre Geschichte kann daher schwerlich als "unerzählt" gelten, wie der Untertitel von Olivette Oteles Studie behauptet. Ihr Buch ist gleichwohl willkommen, denn es bietet eine breit angelegte, gut zugängliche Synthese der Geschichte von Afroeuropäern von der Antike bis in die Gegenwart, die neben aus der Forschung bereits bekannten Aspekten viele neue Facetten beiträgt. Besonderes Augenmerk legt die Verfasserin darauf, wie sich auf Religion, "Rasse", Klasse und Geschlecht basierende soziale Hierarchien über die Zeit beständig wandelten, aber weiterhin höchst wirkmächtig sind.
Die in Kamerun geborene, in Frankreich aufgewachsene und ausgebildete Autorin war die erste schwarze Geschichtsprofessorin in Großbritannien und bekleidet seit zwei Jahren den neu geschaffenen Lehrstuhl für die Geschichte der Sklaverei an der Universität Bristol, in jener Stadt also, in der wenige Monate vor Oteles Berufung Demonstrierende die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston ins Hafenbecken warfen. Damit wollten sie auf der Verbindung zwischen der Vergangenheit der Sklavenhandelsnation England und dem aktuellen Rassismus verweisen, ein Thema, das im Zentrum von Oteles wissenschaftlicher und politischer Arbeit steht.
Zu den Vorzügen von Oteles Studie gehört die Verknüpfung der Geschichten von "gewöhnlichen" und "außergewöhnlichen" Persönlichkeiten, um auf diese Weise die Komplexität des afroeuropäischen Erbes deutlich zu machen. Dabei holt sie zeitlich weit aus. Außergewöhnlich etwa waren das sagenumwobene Leben und vor allem Nachleben von Mauritius, einem vermeintlich in Ägypten geborenen römischen Legionär, der 287 n. Chr. auf Befehl von Kaiser Maximian in Gallien hingerichtet wurde, weil er, so die Erzählung, Jupiter nicht habe huldigen wollen und sich zudem gesträubt habe, an der Christenverfolgung teilzunehmen. Die Legende vom "Heiligen Mauritius" verbreitete sich im Mittelalter in vielen Teilen Europas und fand ihren Ausdruck etwa in einer im dreizehnten Jahrhundert errichteten Statue im Magdeburger Dom. Seine afrikanischen Züge, schreibt Otele, hätten für seine Zeitgenossen kein Problem dargestellt, da er selbst Ausdruck der grenzüberschreitenden gemeinsamen Werte war, die durch das starke Römische Reich verkörpert wurden. Schwarze Heilige hätten im mittelalterlichen Europa eine eine bemerkenswerte und zugleich ambivalente Rolle gespielt. Ihre damalige Wahrnehmung verweise etwa auf sich langsam verändernde Vorstellungen von "Rasse", die bereits Aspekte späterer rigider Definitionen vorwegnahmen.
Im Kontext des transatlantischen Sklavenhandels wurden Afrikaner dann auf der untersten Stufe der Rassenhierarchien platziert. Der europäische Wettbewerb um Waren und Sklavenmärkte transformierte die Beziehungen zwischen Europa und Afrika nachhaltig. Dies illustriert Otele etwa am Beispiel des afroniederländischen Geistlichen Jacobus Capitein, der 1742 an der Universität Leiden eine Dissertation mit dem Titel "Über die Sklaverei als nicht im Widerspruch zu christlicher Freiheit stehend" verteidigte und im Anschluss als Missionar nach Westafrika ging, wo er später desillusioniert und hoch verschuldet starb.
Im abschließenden Kapitel des Buches untersucht die Autorin, inwiefern Gender und im Besonderen dem Afrofeminismus eine wichtige Bedeutung bei der Herausbildung afroeuropäischer Identitäten zukommen. Sie beleuchtet des Weiteren die Diskrepanzen innerhalb der Europäischen Union im Umgang mit Diskriminierung und endet mit einem klaren Appell: Der Weg der Gleichberechtigung von schwarzen Menschen in Europa könne nur durch Zugang zu politischer Macht und einer bedeutsamen Repräsentation in allen Disziplinen, Branchen und Institutionen erreicht werden. ANDREAS ECKERT
Olivette Otele: "Afrikanische Europäer". Eine unerzählte Geschichte.
Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer. Wagenbach Verlag, Berlin 2022. 304 S., geb., 28,- Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Olivette Otele über afrikanische Europäer
Als die amerikanische Autorin Gretchen Gerzina vor mehr als dreißig Jahren bei der Recherche zu ihrem Buch "Black London" auf der Suche nach einem Exemplar von Peter Fryers Pionierstudie zur langen Geschichte schwarzer Menschen in Großbritannien eine Londoner Buchhandlung betrat, beschied sie die Verkäuferin, vor 1945 hätten gar keine Schwarzen in Großbritannien gelebt. Ob eine solche Episode heute noch denkbar ist? In den vergangenen Jahren erschienen jedenfalls zahlreiche substanzielle historische Darlegungen zu "afrikanischen Europäern". Ihre Geschichte kann daher schwerlich als "unerzählt" gelten, wie der Untertitel von Olivette Oteles Studie behauptet. Ihr Buch ist gleichwohl willkommen, denn es bietet eine breit angelegte, gut zugängliche Synthese der Geschichte von Afroeuropäern von der Antike bis in die Gegenwart, die neben aus der Forschung bereits bekannten Aspekten viele neue Facetten beiträgt. Besonderes Augenmerk legt die Verfasserin darauf, wie sich auf Religion, "Rasse", Klasse und Geschlecht basierende soziale Hierarchien über die Zeit beständig wandelten, aber weiterhin höchst wirkmächtig sind.
Die in Kamerun geborene, in Frankreich aufgewachsene und ausgebildete Autorin war die erste schwarze Geschichtsprofessorin in Großbritannien und bekleidet seit zwei Jahren den neu geschaffenen Lehrstuhl für die Geschichte der Sklaverei an der Universität Bristol, in jener Stadt also, in der wenige Monate vor Oteles Berufung Demonstrierende die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston ins Hafenbecken warfen. Damit wollten sie auf der Verbindung zwischen der Vergangenheit der Sklavenhandelsnation England und dem aktuellen Rassismus verweisen, ein Thema, das im Zentrum von Oteles wissenschaftlicher und politischer Arbeit steht.
Zu den Vorzügen von Oteles Studie gehört die Verknüpfung der Geschichten von "gewöhnlichen" und "außergewöhnlichen" Persönlichkeiten, um auf diese Weise die Komplexität des afroeuropäischen Erbes deutlich zu machen. Dabei holt sie zeitlich weit aus. Außergewöhnlich etwa waren das sagenumwobene Leben und vor allem Nachleben von Mauritius, einem vermeintlich in Ägypten geborenen römischen Legionär, der 287 n. Chr. auf Befehl von Kaiser Maximian in Gallien hingerichtet wurde, weil er, so die Erzählung, Jupiter nicht habe huldigen wollen und sich zudem gesträubt habe, an der Christenverfolgung teilzunehmen. Die Legende vom "Heiligen Mauritius" verbreitete sich im Mittelalter in vielen Teilen Europas und fand ihren Ausdruck etwa in einer im dreizehnten Jahrhundert errichteten Statue im Magdeburger Dom. Seine afrikanischen Züge, schreibt Otele, hätten für seine Zeitgenossen kein Problem dargestellt, da er selbst Ausdruck der grenzüberschreitenden gemeinsamen Werte war, die durch das starke Römische Reich verkörpert wurden. Schwarze Heilige hätten im mittelalterlichen Europa eine eine bemerkenswerte und zugleich ambivalente Rolle gespielt. Ihre damalige Wahrnehmung verweise etwa auf sich langsam verändernde Vorstellungen von "Rasse", die bereits Aspekte späterer rigider Definitionen vorwegnahmen.
Im Kontext des transatlantischen Sklavenhandels wurden Afrikaner dann auf der untersten Stufe der Rassenhierarchien platziert. Der europäische Wettbewerb um Waren und Sklavenmärkte transformierte die Beziehungen zwischen Europa und Afrika nachhaltig. Dies illustriert Otele etwa am Beispiel des afroniederländischen Geistlichen Jacobus Capitein, der 1742 an der Universität Leiden eine Dissertation mit dem Titel "Über die Sklaverei als nicht im Widerspruch zu christlicher Freiheit stehend" verteidigte und im Anschluss als Missionar nach Westafrika ging, wo er später desillusioniert und hoch verschuldet starb.
Im abschließenden Kapitel des Buches untersucht die Autorin, inwiefern Gender und im Besonderen dem Afrofeminismus eine wichtige Bedeutung bei der Herausbildung afroeuropäischer Identitäten zukommen. Sie beleuchtet des Weiteren die Diskrepanzen innerhalb der Europäischen Union im Umgang mit Diskriminierung und endet mit einem klaren Appell: Der Weg der Gleichberechtigung von schwarzen Menschen in Europa könne nur durch Zugang zu politischer Macht und einer bedeutsamen Repräsentation in allen Disziplinen, Branchen und Institutionen erreicht werden. ANDREAS ECKERT
Olivette Otele: "Afrikanische Europäer". Eine unerzählte Geschichte.
Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer. Wagenbach Verlag, Berlin 2022. 304 S., geb., 28,- Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main