Meisterhaft verknüpft Pitts Reportage und literarischen Essay zu einem zeitgenössischen Porträt eines Weltteils auf der Suche nach seiner postkolonialen Identität. Pitts erzählt von afropäischen Schriftstellern wie Dumas dem Älteren und Puschkin, von Musikern, Aktivisten, Restaurantbesitzern oder einfachen Arbeitern. Er zeigt, wie sehr sie die Gesellschaften und die Kultur dieses Kontinents geprägt haben und prägen. Ein so einfühlsames wie aktuelles Buch, das den Blick auf Europa verändert.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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Johny Pitts berichtet vom afrikanischen Anteil am urbanen Leben in Europa.
Von David Kampmann
Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Dieser Weisheit folgt auch Johny Pitts. Der in Sheffield im Norden Englands geborene und aufgewachsene Sohn einer weißen Engländerin und eines Afroamerikaners macht den Titel seines Buches dabei zum Programm: "Afropäisch", ein Kofferwort, das eine eigene Art von Kultur anzeigen soll. Pitts will beleuchten, wie stark Migration aus Afrika und überhaupt Migranten mit schwarzer Hautfarbe den Kontinent Europa geprägt haben; und wie sich quer durch Europa, teils durch klare, wenn auch inoffizielle Segregation, eine eigene Form von Kultur entwickeln konnte.
Zu diesem Zweck sieht sich Pitts in Europas Metropolen um. Sein Buch hat über weite Strecken die Qualität einer guten Reportage, welche die Leser mitten hineinversetzt in "afropäische" Welten. Der Autor beschreibt die Akzente einzelner Akteure mit stupender Detailtreue, geht auf die (koloniale) Geschichte der besuchten Städte ein und nennt Beispiele einer vom Kolonialismus geprägten Alltags- wie Popkultur.
Gleichwohl hat Pitts stellenweise zu oberflächlich recherchiert. So schreibt er die 1960 erreichte Unabhängigkeit Kongos der Simba-Rebellion zu, die aber von 1964 bis 1967 dauerte und das noch junge Land im Herzen Afrikas mitnichten unabhängiger machte. Den Ursprung der Hausbesetzerszene in Deutschland siedelt Pitts in der DDR kurz vor dem Mauerfall an, knapp zwei Jahrzehnte nachdem sie sich in der Bundesrepublik etabliert hatte. Die Wurzel des kolonialen Wettlaufs um Afrika sieht er in der Berliner "Kongokonferenz" von 1884, obwohl diese schon als Reaktion auf einen Wettbewerb der westlichen Kolonialmächte einberufen wurde. Zudem verfällt Pitts gern in voreilige Polemik, etwa wenn er einen Vergleich zieht zwischen der Politik der Vereinigten Staaten im Nahen Osten und der Ausbeutung Kongos durch Belgien.
Pitts bereist zunächst Paris, Brüssel und Amsterdam - Großstädte ehemaliger und lange währender Kolonialreiche, die auch durch Migranten mit schwarzer Hautfarbe und deren Kultur wesentlich geprägt sind. Doch bereits in Berlin zeigen sich die Grenzen seines Vorhabens. So besteht die Hälfte des entsprechenden Kapitels aus der Beschreibung einer Demonstration linker Aktivisten im Bezirk Friedrichshain, bei der Pitts auch auf den Rassismus in Deutschland eingeht, der mit der Wiedervereinigung sichtbarer wurde.
Von hier aus geht es weiter zu Afrikanern der Berliner Kulturszene. Im Vergleich zu vorherigen Stationen wirkt dieser Abschnitt jedoch recht bemüht. Schließlich langt der Autor in Russland an, wo es nennenswerte afrikanische Gemeinden kaum gibt. Pitts befasst sich hier vor allem mit dem Engagement der ehemaligen Sowjetunion auf dem afrikanischen Kontinent, das auch viele afrikanische Studenten in das damalige Reich des Kommunismus brachte. Die wenigen Afrikaner, die es in Moskau gibt und ihm von ständiger Angst vor einem Rassismus berichten, der durch eine unzuverlässige Staatsgewalt noch geschürt wird, beschreibt er dafür äußerst einprägsam.
Von Russland aus begibt sich der Autor nach Südfrankreich und schließlich Portugal. Bevor er jedoch das kulturelle Leben in Marseille beschreibt, widmet er mehrere Kapitel Protagonisten, die an der Côte d'Azur ihre Zeit verbrachten. Einer von ihnen ist Mobutu Sese Seko, der dort ein luxuriöses Anwesen besaß und bis 1997 Diktator von Zaire, der heutigen Demokratischen Republik Kongo, war. Kulturell prägend für die Region dürfte er allerdings kaum geworden sein. Bei allen Vorzügen, welche die lebendigen Schilderungen dieser Reise durch europäische Städte aufweisen: In Sachen "afropäische" Kultur kann das Buch nicht ganz halten, was es verspricht.
Johny Pitts: "Afropäisch". Eine Reise durch das schwarze Europa.
Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 461 S., geb., 26,- [Euro].
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