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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.01.2019

Psyche eines Kontinents
Felwine Sarrs Essay „Afrotopia“ und die Frage, ob Afrika sich auf sich
selbst besinnen müsste, um dem Neokolonialismus entgegenzutreten
VON JÖRG HÄNTZSCHEL
Wie wenig man in Europa auch von Afrika weiß, eines weiß fast jeder: „Afrika“ gibt es nicht mehr. Wer den riesigen Kontinent so benennt, unterschlägt nicht nur die gewaltigen Unterschiede zwischen den 54 Ländern, als seien sie nicht der Rede wert; er steht auch im Verdacht, das kolonialistische Bild vom indifferent-chaotischen „schwarzen Kontinent“ zu erneuern.
Umso überraschter ist man, dass der 46-jährige senegalesische Wirtschaftswissenschaftler und Essayist Felwine Sarr das A-Wort sogar im Titel seines heute auf deutsch erscheinenden Manifests „Afrotopia“ führt, eines der in den letzten Jahren meistbeachteten Werke in der Postkolonialismusdebatte. Sarrs Sprechen von Afrika, von den „afrikanischen Völkern“, vom „afrikanischen Menschen“ führt direkt in den Kern seiner Argumentation.
Vor rund 50 Jahren wurden die letzten europäischen Kolonien in Afrika in die Unabhängigkeit entlassen. Doch obwohl sie seit Jahrzehnten politisch und wirtschaftlich autonom sind, stecken viele der Länder in einer Dauerkrise. Diese Krise wiederum, so Sarr, bestätigt und aktualisiert laufend die uralten Stereotypen von Afrika als einem finsteren, katastrophischen Ort und vom Afrikaner als minderwertigem Menschen, der sich selbst nicht zu helfen weiß – das Bild also, das bei den Europäern maßgeblich dazu beitrug, Sklavenhandel und Kolonialismus zu legitimieren.
Afrikas Krise hält aber nicht nur die westlichen Vorurteile am Leben, es hält auch bei den Afrikanern die Wunden offen, die eigentlich längst hätten verheilt sein können.
Sarr versucht in seinem Essay, mit den Legenden aufzuräumen, die diese negative Feedback-Schleife am Laufen halten: Ja, die korrupten Potentaten, die nach der Unabhängigkeit vielerorts an die Macht kamen, tragen große Schuld an Afrikas Problemen. Doch in Europa, wo sich bis heute die Vorstellung hält, man habe Afrika die Zivilisation gebracht, vergesse man zu oft, wie groß der eigene Anteil an Afrikas Krise sei. Dass ein Kontinent, der nach einigen Schätzungen direkt und indirekt 225 Millionen Menschen durch den Sklavenhandel verloren habe, Jahrhunderte brauche, um sich zu erholen, dass die Nachfolgerstaaten von Belgisch-Kongo, das in der Kolonialzeit die Hälfte seiner Bewohner verloren habe, bis heute geschwächt seien, liege auf der Hand, ganz zu schweigen vom nicht quantifizierbaren Verlust von Arbeitskraft und Bodenschätzen an europäische Geschäftemacher und Konzerne, deren heutige Marktmacht nicht selten direkt auf die Ausbeutung Afrikas zurückgeht.
Doch es sind weniger die Europäer, die Sarr aufklären will, als die Afrikaner, die das dystopische Bild von ihrem Kontinent oft unhinterfragt vom Westen übernehmen. Dies führt dann zu einer Perpetuierung des Kolonialismus mit anderen Mitteln: wenn afrikanische Länder Konzernen aus Europa oder den USA gegen schnelles Geld Abbaurechte für Bodenschätze abtreten; oder wenn sie sich von China um den Preis der eigenen Unabhängigkeit Häfen oder Eisenbahntrassen bauen lassen.
Hinter all dem steht Sarrs Befund, dass die Afrikaner die geistige Selbstermächtigung, die die politische Unabhängigkeit hätte begleiten müssen, nie vollzogen haben. Sie haben nicht nur die westliche Wirtschaftsideologie mit ihrem Glauben an Fortschritt und Wachstum nie in Zweifel gezogen, sie haben auch deren Universalitätsanspruch übernommen.
Um in der Welt anerkannt zu werden, schien ihnen nichts anderes zu bleiben, als sich in die Rolle des minderbemittelten Schülers der westlichen Nationen zu fügen, der auf das Lob der Lehrer hofft, weil er „die Lektion gut gelernt und das Gelernte … richtig angewandt“ hat. „Man wünscht sich, in derselben Stimmlage zu spielen wie die anderen Musiker, möchte auch auf dem Familienfoto zu sehen sein, genauso gekleidet wie die anderen.“ Doch diese Lehrer, die westlichen Industrienationen, haben in den letzten Jahren dramatisch an Autorität verloren. Die von ihnen verursachte Klimakatastrophe, die Krise ihrer Demokratien, die soziale Ungerechtigkeit, das Unbehagen an der Globalisierung: All das mehrt die Zweifel an der bis vor kurzem als alternativlos geltenden westlichen Marktwirtschaft.
Für Sarr ist spätestens jetzt der Moment gekommen, an dem Afrika nach der politischen auch seine geistige Unabhängigkeit erstreiten muss. Ausgangspunkt müsse dafür die Einsicht sein, dass Afrikas ausbleibende Erfolge in westlichem Wirtschaften – trotz der jungen Bevölkerungen, trotz des Reichtums an Bodenschätzen – nicht auf die Unfähigkeit Afrikas zurückzuführen sei, sondern darauf, dass dieses Wirtschaftssystem im Dauerkonflikt stehe mit Afrikas Kultur.
Sarr bezieht sich dabei unter anderem auf Frantz Fanon, der vom Psychotherapeuten zum postkolonialen Vordenker wurde. Wie Fanon bedient sich nun auch Sarr bei seiner Diagnose des afrikanischen Leidens bei psychoanalytischen Konzepten.
Wenn Afrika sich aus seiner gegenwärtigen Falle befreien, sein ganzes Potenzial erschließen wolle, dann müsse es seine Minderwertigkeitskomplexe überwinden und eine eigene, neue Praxis des Wirtschaftens und Lebens entwickeln, die nicht nur westliche Werte und Methoden enthielte, sondern vor allem auch die afrikanischen Traditionen revitalisieren würde, die lange als primitiv diskreditiert wurden. Heute erscheinen sie aber wieder zukunftsweisend, weil sie Prinzipien wie Nachhaltigkeit, Gemeinwohl oder Achtsamkeit folgten, lange bevor der Westen begonnen hat, sie in seinen Kapitalismus einzubauen. Am Ende der afrikanischen „Kulturrevolution“ muss für Afrika die „Wiederherstellung des eigenen Spiegelbilds“ stehen.
Sarr hat seinen Essay schon 2016 geschrieben, lange bevor er im letzten Jahr gemeinsam mit der Berliner Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy im Auftrag des französischen Präsidenten Macron die Modalitäten für die Rückgabe von aus Afrika geraubten Objekten auslotete (Ende März soll der Bericht auf deutsch erscheinen). Dennoch ist „Afrotopia“ durchaus als eine Art Grundlage dessen zu lesen, was Savoy und Sarr jenseits der Restitutionsfrage postulieren: Afrika kann erst dann aufblühen, wenn es die Entfremdung und das Abgeschnittensein von seiner eigenen Kultur hinter sich lässt.
Natürlich weiß Sarr, wie leicht man sein Pochen auf die afrikanische Tradition und seine Kritik an der Globalisierung als Rückwärtsgewandtheit missverstehen kann, als „identitären Rückzug“. Und wie angreifbar er sich bei seinem westlichen Publikum mit seinen Attacken gegen die Postmoderne macht, an die man sich hier eher als eine fröhliche Ära erinnert. Seinem düsteren Bild vom Westen hat man dennoch wenig entgegenzusetzen. Wie auch seinen Zahlen. In einem Vierteljahrhundert wird Afrika ein Viertel der Weltbevölkerung beheimaten. Wer wollte da so überheblich sein, sich über die Emphase zu mokieren, mit der er die Revolution ausruft, an deren Ende Afrika „wieder das spirituelle Zentrum der Welt“ sein wird?
Felwine Sarr: Afrotopia. Aus dem Französischen von Max Henninger. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019. 175 Seiten, 20 Euro.
In Europa vergesse man oft den
eigenen Anteil an Afrikas Krise,
argumentiert Sarr
Das Pochen auf afrikanische
Traditionen könnte man als
rückwärtsgewandt missverstehen
Felwine Sarr lehrt Wirtschaftswissenschaften in Saint-Louis, Senegal. Gemeinsam mit Bénédicte Savoy bereitet er im Auftrag von Emmanuel Macron die Rückgabe von Raubkunst nach Afrika vor.
Foto: P.Normand/Opale/Leemage/laif
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.02.2019

Wie gut, wenn der Kapitalismus nicht recht funktioniert
Stereotype andersherum: Felwine Sarr baut afrikanische Gesellschaften als zukunftsträchtigen Gegensatz zum Westen auf

Im Jahr 2000 betitelte der britische "Economist" eine seiner Ausgaben mit der Schlagzeile "Afrika. Der hoffnungslose Kontinent". Elf Jahre später hob dieselbe Zeitschrift zu einem Loblied auf den kürzlich noch abgeschriebenen Erdteil an und verkündete auf ihrem Cover den "Aufstieg Afrikas". Dieses Beispiel bestätigt die Beobachtung von Felwine Sarr, der die heutigen Afrika-Diskurse von einer Doppelbewegung beherrscht sieht: "Glauben an eine strahlende Zukunft einerseits, Bestürzung angesichts einer chaotisch wirkenden Gegenwart andererseits". Das Hauptproblem liegt für den Wirtschaftsprofessor aus dem senegalesischen Saint-Louis darin, dass die wirkungsmächtigen Visionen über Afrika immer die Visionen der anderen seien. Sarr, als Mitautor des Berichts an den französischen Präsidenten über die Modalitäten der Rückgabe von aus Afrika geraubten Objekten zu rezenter Berühmtheit gelangt, hält gängigen Bildern in seinem Essay die Notwendigkeit einer "Revolution der Paradigmen und Praktiken" entgegen, die mehr sein müsse, als das koloniale Wissensarchiv zu korrigieren.

Mit viel Verve und breiten Pinselstrichen trägt Sarr zunächst ein bekanntes Argument vor. Bei der Unabhängigkeit der afrikanischen Länder vor nun beinahe sechs Jahrzehnten habe es sich letztlich nur um eine formelle Anerkennung der Souveränität gehandelt. Die mit dem Kolonialismus verknüpften tief eingegrabenen Herrschaftsformen zum Verschwinden zu bringen sei jedoch ein langer Prozess, in dem auch die Sprache, das Wissen, der Blick auf sich selbst, die Mentalitäten und die Psychen dekolonisiert werden müssten. Kurzum: Afrika sollte nicht länger den Westen kopieren, vielmehr endlich seine Minderwertigkeitskomplexe hinter sich lassen und ein eigenes "afrikanisches Zivilisationskonzept" entfalten, das sich frei mache von einer kapitalistischen Entwicklungsideologie, die mit der Kultur des Kontinents, so Sarr, auf Kriegsfuß stehe.

Afrikanische Politiker und Eliten hätten sich lange wie leicht minderbemittelte Schüler der westlichen Nationen verhalten, die auf das Lob der Lehrer hoffen. Angesichts der "Sinnkrise einer technizistischen Gesellschaft" sei es nun an der Zeit, dass sich der mit Rohstoffen üppig ausgestattete Kontinent auf seinen verschütteten geistigen Reichtum besinne. Dabei müsse Afrika, dessen Bewohner bislang am wenigsten in das Ökosystem eingreifen, aus den Fehlern der anderen lernen. Und da sich die Welt den afrikanischen Ressourcen zuwende, habe Afrika sogar die Gelegenheit, eine zivilisatorische Wende durchzusetzen: "durch die Weigerung, die tradierten Modelle der Wohlstandsproduktion und -akkumulation zu verstetigen".

Seinen Ruf nach der Mobilisierung eigener afrikanischer Traditionen verbindet der Autor mit ebenso essentialistischen wie unkritischen Vorstellungen. Sarr ahnt diese Kritik zwar voraus, seine Antwort auf sie fällt aber nicht überzeugend aus. "Jedes Mal, wenn sich ein Kulturkonzept als (gesamt-)afrikanisch versteht, wird das Gespenst des Essentialismus beschworen oder auch das der kulturellen Diversität des Kontinents", beschwert er sich. Dagegen sei man bereit, die Existenz einer asiatischen oder chinesischen Kultur oder die einer deutschen Philosophie einzuräumen. Wie er selbst vorführt, bestimmen Stereotype und Alteritätskonstruktionen jedoch weiterhin den westlichen Diskurs über Afrika, sind also beileibe kein einfach zu negierendes Gespenst. Eine kritische Afrika-Wissenschaft hat sich zudem intensiv und mit guten Argumenten bemüht, den Eindruck, Afrika sei so ganz anders als der Rest der Welt, sei die erklärungsbedürftige Abweichung vom Normalfall, zu korrigieren. Sarr hingegen geht einen anderen, problematischen Weg: Er beschwört im Stil älterer panafrikanischer Denker wie Cheikh Anta Diop eine kontinentweite kulturelle Einheit, die er mit höchst positiven Attributen ausstattet, die es vom Westen unterscheide und an die es nun anzuknüpfen gelte.

Auf diese Weise zeichnet er nicht zuletzt ein höchst unkritisches Bild "traditioneller" Gesellschaften, die sich angeblich dadurch ausgezeichnet haben, dass "Produktion, Verteilung und Güterbesitz von einer Sozialethik bestimmt waren, deren Ziel darin bestand, allen die Grundlagen des Lebens zu garantieren". Interessanter sind Sarrs Ausführungen zur Jugend, der er die entscheidende Rolle in einem künftig selbstbewussten Afrika zumisst. Sie fordere nunmehr den ihr gebührenden Respekt und sei nicht länger bereit, sich in das "pathologische Verhältnis" einzufügen, das noch ihre Elterngeneration gegenüber den ehemaligen Kolonialherren gepflegt habe. Der von Sarr konstatierte Zorn dieser Generation rührt aber nicht zuletzt daher, dass viele trotz guter Ausbildung keine bezahlte Tätigkeit finden können.

In etwa drei Jahrzehnten wird Afrika rund ein Viertel der Weltbevölkerung stellen. Sarr schreibt zwar auch von der großen Aufgabe, aus dieser "demografischen Dividende" eine produktive Ressource zu machen, hebt jedoch hervor, dass der Kontinent dadurch im Begriff sei, eine zentrale Position im globalen Machtgefüge einzunehmen. "Afrotopia" gibt sich als Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins, die Zukunft des Kontinents zu gestalten und dabei auf "westliche Experten" weitgehend zu verzichten.

ANDREAS ECKERT

Felwine Sarr: "Afrotopia".

Aus dem Französischen von Max Henninger. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019. 176 S. geb., 20,- [Euro].

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»Mit «Afrotopia» entwirft der Senegalese Felwine Sarr eine selbstbestimmte Zukunftsvision von Afrika.« - Sieglinde Geisel, republic.ch Sieglinde Geisel Republik (CH) 20190513