Zwischen Mitternacht und Morgengrauen - eine magische Reise durch das nächtliche Tokyo
Geschichten zwischen Mitternacht und Morgengrauen: Murakami begleitet seine Helden eine Nacht lang und zeichnet ein eindrucksvolles, geheimnisvoll schillerndes Großstadtporträt: Die 19-jährige Mari, ihre schöne, aber unglückliche Schwester Eri, der unscheinbare Posaunist, die Prostituierte aus einem Love Hotel und ein gewissenloser Freier streifen durch das nächtliche Tokyo. Sie alle sind umgeben von Geheimnissen, die gelüftet werden wollen, noch ehe der Tag anbricht.
Geschichten zwischen Mitternacht und Morgengrauen: Murakami begleitet seine Helden eine Nacht lang und zeichnet ein eindrucksvolles, geheimnisvoll schillerndes Großstadtporträt: Die 19-jährige Mari, ihre schöne, aber unglückliche Schwester Eri, der unscheinbare Posaunist, die Prostituierte aus einem Love Hotel und ein gewissenloser Freier streifen durch das nächtliche Tokyo. Sie alle sind umgeben von Geheimnissen, die gelüftet werden wollen, noch ehe der Tag anbricht.
"Wie ein bittersüßer Blues aus den träumerischen Tiefen des Unterbewusstseins." Die Welt
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.04.2006Stundenweiser Horror
Es riecht nach Geheimnis: Haruki Murakami als Voyeur
Im Hintergrund spielt "Go Away Little Girl" vom Orchester Percy Faith. "Natürlich hört niemand zu." Eine junge Frau, vermutlich Erstsemester, sitzt nachts in einem der austauschbar anonymen Restaurants der "Denny's"-Kette und liest. Eine Szene wie aus einem Bild von Hopper, wäre die Beleuchtung nicht so seelenlos, und wäre der Laden nicht fast voll besetzt. Eine Spätherbstnacht im Vergnügungsviertel einer Großstadt, es könnte Shibuya in Tokio sein. Auf tritt ein schlaksiger junger Mann mit Posaunenkasten, der das lesende Mädchen anspricht. Mari heißt sie, die jüngere Schwester von Eri. Jene war seine Klassenkameradin, ungewöhnlich hübsch und mit dem Zeug zum Model. Der junge Mann bestellt sich Hühnchensalat. Aus der kurz angebundenen Mari wird er nicht recht schlau. Warum sie allein in der Stadt herumhängt, jetzt, wo kein Zug mehr fährt, verrät sie ihm ebensowenig wie ihre Lektüre. Vielleicht kann er sie aber gegen fünf Uhr morgens noch einmal hier treffen, wenn er nach seiner Probe mit der Band wieder Hunger hat. Inzwischen hören wir "The April Fools" von Burt Bacharach.
Haruki Murakamis neuer Roman, 2004 in Japan, nun in deutscher Übersetzung erschienen, breitet einen Teppich von BGM - wie man die allgegenwärtige Hintergrundbeschallung in Japan nennt - unter seiner Story aus. Wir kennen das schon aus anderen Werken. Diesmal liefert ein Stück - "Five Spot After Dark" mit dem Posaunisten Curtis Fuller - sogar den Titel des Buchs. "Afterdark" ist aber vor allem visuell angelegt. Man hat das Gefühl, als Leser zum Kameraauge gemacht zu werden: von der nächtlichen Vogelschau über die pulsierende Stadt, die sich über das Leuchtreklamen-Meer des Vergnügungsviertels auf das lesende Mädchen einzoomt, bis zu einer weiteren Filmtotalen am Ende, die schließlich auf zuckenden Gesichtszügen in einem engen Zimmer endet. Von Beginn an sieht sich der Leser in eine voyeuristische Perspektive gedrängt.
Schauplatzwechsel. "Es ist dunkel im Zimmer. Aber unsere Augen gewöhnen sich allmählich daran. Im Bett schläft eine Frau. Eine sehr schöne junge Frau. Es ist Maris ältere Schwester Eri. (...) Wir betrachten sie. Oder vielleicht sollten wir sagen, wir stellen einen Blick auf sie. Unser Blick ist zum Auge einer schwebenden Kamera geworden, mit der wir uns frei im Zimmer bewegen können." Für den Rest des Kapitels tastet unser Blick das Zimmer ab. Geheimnisvoll scheint der tiefe Schlaf der jungen Frau zu sein, geheimnisvoll das Flimmern auf dem Fernsehbildschirm.
Damit ist die Szenerie fixiert: Die Geschichte einer Nacht mit alternierenden Kapiteln von zwei Schwestern - die eine liest, die andere schläft. Und während die Dinge um Mari in Bewegung geraten, so daß sie das "Denny's" zeitweilig verläßt, verlagern sich im Zimmer der schlafenden Schwester die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Virtualität. So wie in anderen Werken des Autors, etwa in "Mister Aufziehvogel" beim Durchgang durch eine Brunnenwand, Übergänge in eine virtuelle Realität stattfinden, beginnt hier die Welt des Zimmers mit der auf dem Bildschirm zu interagieren und in sie überzugehen. Intermedialität ist das Stichwort, das Simulieren, die Verdoppelung von Welten und das Ineinanderübergehen und Verschmelzen verschiedener Bilder, die zeigen, was ist und was zugleich nicht ist. Es fehlen auch nicht zahlreiche Anspielungen aufs Kino.
Das alles riecht nach einem typisch postmodernen Roman. Doch "Afterdark" ist ungleich leichtgewichtiger als seine Vorgänger, auch wenn das Buch, wie üblich bei Murakami, geheimnisvoll und banal zugleich anmutet. Und so kommt wieder einmal die Frage auf, ob dieser Autor eigentlich mehr zu bieten hat als eine am minimalistischen Stil eines Raymond Carver, dessen Gesamtwerk er ins Japanische übersetzt hat, orientierte modische Variante der jugendlich-konsumweltlichen Großstadterzählung.
Auffällig ist, was in der Diskussion über arabische Literatur mit dem Ausdruck "Pretranslation" belegt wurde, die Tendenz zeitgenössischer Autoren, kulturelle Spezifika möglichst zu meiden, um das Werk für eine globale Vermarktung anzulegen. Zur Strategie der "Vorübersetzung" gehören Erläuterungen von Dingen oder Verhaltensweisen, die sich für eine einheimische Leserschaft von selbst verstehen. So wird etwa das Love-Hotel "Alphaville", "ein Hotel für Paare - eine Absteige", ausführlich erläutert: "Es funktioniert so, daß die Gäste sich im Flur Fotos von den Zimmern anschauen, sich eines aussuchen, das ihnen gefällt, per Knopfdruck die Nummer eingeben und automatisch den Schlüssel erhalten. Dann steigen sie in den Aufzug und fahren zu ihrem Zimmer. Sie müssen niemandem begegnen und mit niemandem sprechen. Man kann stundenweise oder für eine Nacht bezahlen." Die architektonische und technologische Kulisse von "Afterdark" ist ohnehin weitgehend globalisiert. Aber auch die Figuren, sofern wir sie überhaupt kennenlernen, sind diesmal blaß. Und der leichte Schauer, der uns wohl nach Art des gegenwärtig in Japan populären Neue-Medien-Horrors bei den rätselhaften Fernsehbildern befallen soll, will sich nicht recht einstellen.
Die Kritik war sich im Falle Murakamis nie einig. Für die einen verkörpert seine Literatur mit den ewig jugendlichen Selbstsuchern stets nur die hedonistische Egozentrik einer an Politik und Gesellschaft desinteressierten Lifestyle-Unterhaltung. In dieser Hinsicht hat ihn sein Landsmann Kenzaburo Oe, Nobelpreisträger von 1994, öffentlich kritisiert. Für die anderen sind Marukamis Erzählungen sowohl vollständig real und plausibel als auch irreal und fantastisch. Sie richten sich in der Konsumwelt aufs bequemste ein und unterlaufen sie zugleich. Mit dem Erscheinen von "Mister Aufziehvogel" schien sich sogar Oe, jedenfalls zeitweilig, mit Murakami versöhnt zu haben, denn dieser erhielt dafür aus den Händen des Nobelpreisträgers eine renommierte literarische Auszeichnung. Dasselbe Werk war allerdings für einen anderen prominenten Kritiker in Japan Anlaß zu der Vermutung, Murakami sei nun endgültig der Stoff ausgegangen. Einigkeit ist nicht in Sicht.
Der neue Roman spült Wasser auf die Mühlen der Kritiker. Hat Murakami diese etwas schal geratene Erzählung nur eingeschoben, um seine Produktionsmaschinerie in Gang zu halten? Seine Fangemeinde wird auch dieses Buch nicht missen wollen - und darauf warten, daß der Autor mit seinem nächsten Werk die Skeptiker widerlegt.
IRMELA HIJIYA-KIRSCHNEREIT
Haruki Murakami: "Afterdark". Roman. Aus dem Japanischen übersetzt von Ursula Gräfe. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2005. 237 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es riecht nach Geheimnis: Haruki Murakami als Voyeur
Im Hintergrund spielt "Go Away Little Girl" vom Orchester Percy Faith. "Natürlich hört niemand zu." Eine junge Frau, vermutlich Erstsemester, sitzt nachts in einem der austauschbar anonymen Restaurants der "Denny's"-Kette und liest. Eine Szene wie aus einem Bild von Hopper, wäre die Beleuchtung nicht so seelenlos, und wäre der Laden nicht fast voll besetzt. Eine Spätherbstnacht im Vergnügungsviertel einer Großstadt, es könnte Shibuya in Tokio sein. Auf tritt ein schlaksiger junger Mann mit Posaunenkasten, der das lesende Mädchen anspricht. Mari heißt sie, die jüngere Schwester von Eri. Jene war seine Klassenkameradin, ungewöhnlich hübsch und mit dem Zeug zum Model. Der junge Mann bestellt sich Hühnchensalat. Aus der kurz angebundenen Mari wird er nicht recht schlau. Warum sie allein in der Stadt herumhängt, jetzt, wo kein Zug mehr fährt, verrät sie ihm ebensowenig wie ihre Lektüre. Vielleicht kann er sie aber gegen fünf Uhr morgens noch einmal hier treffen, wenn er nach seiner Probe mit der Band wieder Hunger hat. Inzwischen hören wir "The April Fools" von Burt Bacharach.
Haruki Murakamis neuer Roman, 2004 in Japan, nun in deutscher Übersetzung erschienen, breitet einen Teppich von BGM - wie man die allgegenwärtige Hintergrundbeschallung in Japan nennt - unter seiner Story aus. Wir kennen das schon aus anderen Werken. Diesmal liefert ein Stück - "Five Spot After Dark" mit dem Posaunisten Curtis Fuller - sogar den Titel des Buchs. "Afterdark" ist aber vor allem visuell angelegt. Man hat das Gefühl, als Leser zum Kameraauge gemacht zu werden: von der nächtlichen Vogelschau über die pulsierende Stadt, die sich über das Leuchtreklamen-Meer des Vergnügungsviertels auf das lesende Mädchen einzoomt, bis zu einer weiteren Filmtotalen am Ende, die schließlich auf zuckenden Gesichtszügen in einem engen Zimmer endet. Von Beginn an sieht sich der Leser in eine voyeuristische Perspektive gedrängt.
Schauplatzwechsel. "Es ist dunkel im Zimmer. Aber unsere Augen gewöhnen sich allmählich daran. Im Bett schläft eine Frau. Eine sehr schöne junge Frau. Es ist Maris ältere Schwester Eri. (...) Wir betrachten sie. Oder vielleicht sollten wir sagen, wir stellen einen Blick auf sie. Unser Blick ist zum Auge einer schwebenden Kamera geworden, mit der wir uns frei im Zimmer bewegen können." Für den Rest des Kapitels tastet unser Blick das Zimmer ab. Geheimnisvoll scheint der tiefe Schlaf der jungen Frau zu sein, geheimnisvoll das Flimmern auf dem Fernsehbildschirm.
Damit ist die Szenerie fixiert: Die Geschichte einer Nacht mit alternierenden Kapiteln von zwei Schwestern - die eine liest, die andere schläft. Und während die Dinge um Mari in Bewegung geraten, so daß sie das "Denny's" zeitweilig verläßt, verlagern sich im Zimmer der schlafenden Schwester die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Virtualität. So wie in anderen Werken des Autors, etwa in "Mister Aufziehvogel" beim Durchgang durch eine Brunnenwand, Übergänge in eine virtuelle Realität stattfinden, beginnt hier die Welt des Zimmers mit der auf dem Bildschirm zu interagieren und in sie überzugehen. Intermedialität ist das Stichwort, das Simulieren, die Verdoppelung von Welten und das Ineinanderübergehen und Verschmelzen verschiedener Bilder, die zeigen, was ist und was zugleich nicht ist. Es fehlen auch nicht zahlreiche Anspielungen aufs Kino.
Das alles riecht nach einem typisch postmodernen Roman. Doch "Afterdark" ist ungleich leichtgewichtiger als seine Vorgänger, auch wenn das Buch, wie üblich bei Murakami, geheimnisvoll und banal zugleich anmutet. Und so kommt wieder einmal die Frage auf, ob dieser Autor eigentlich mehr zu bieten hat als eine am minimalistischen Stil eines Raymond Carver, dessen Gesamtwerk er ins Japanische übersetzt hat, orientierte modische Variante der jugendlich-konsumweltlichen Großstadterzählung.
Auffällig ist, was in der Diskussion über arabische Literatur mit dem Ausdruck "Pretranslation" belegt wurde, die Tendenz zeitgenössischer Autoren, kulturelle Spezifika möglichst zu meiden, um das Werk für eine globale Vermarktung anzulegen. Zur Strategie der "Vorübersetzung" gehören Erläuterungen von Dingen oder Verhaltensweisen, die sich für eine einheimische Leserschaft von selbst verstehen. So wird etwa das Love-Hotel "Alphaville", "ein Hotel für Paare - eine Absteige", ausführlich erläutert: "Es funktioniert so, daß die Gäste sich im Flur Fotos von den Zimmern anschauen, sich eines aussuchen, das ihnen gefällt, per Knopfdruck die Nummer eingeben und automatisch den Schlüssel erhalten. Dann steigen sie in den Aufzug und fahren zu ihrem Zimmer. Sie müssen niemandem begegnen und mit niemandem sprechen. Man kann stundenweise oder für eine Nacht bezahlen." Die architektonische und technologische Kulisse von "Afterdark" ist ohnehin weitgehend globalisiert. Aber auch die Figuren, sofern wir sie überhaupt kennenlernen, sind diesmal blaß. Und der leichte Schauer, der uns wohl nach Art des gegenwärtig in Japan populären Neue-Medien-Horrors bei den rätselhaften Fernsehbildern befallen soll, will sich nicht recht einstellen.
Die Kritik war sich im Falle Murakamis nie einig. Für die einen verkörpert seine Literatur mit den ewig jugendlichen Selbstsuchern stets nur die hedonistische Egozentrik einer an Politik und Gesellschaft desinteressierten Lifestyle-Unterhaltung. In dieser Hinsicht hat ihn sein Landsmann Kenzaburo Oe, Nobelpreisträger von 1994, öffentlich kritisiert. Für die anderen sind Marukamis Erzählungen sowohl vollständig real und plausibel als auch irreal und fantastisch. Sie richten sich in der Konsumwelt aufs bequemste ein und unterlaufen sie zugleich. Mit dem Erscheinen von "Mister Aufziehvogel" schien sich sogar Oe, jedenfalls zeitweilig, mit Murakami versöhnt zu haben, denn dieser erhielt dafür aus den Händen des Nobelpreisträgers eine renommierte literarische Auszeichnung. Dasselbe Werk war allerdings für einen anderen prominenten Kritiker in Japan Anlaß zu der Vermutung, Murakami sei nun endgültig der Stoff ausgegangen. Einigkeit ist nicht in Sicht.
Der neue Roman spült Wasser auf die Mühlen der Kritiker. Hat Murakami diese etwas schal geratene Erzählung nur eingeschoben, um seine Produktionsmaschinerie in Gang zu halten? Seine Fangemeinde wird auch dieses Buch nicht missen wollen - und darauf warten, daß der Autor mit seinem nächsten Werk die Skeptiker widerlegt.
IRMELA HIJIYA-KIRSCHNEREIT
Haruki Murakami: "Afterdark". Roman. Aus dem Japanischen übersetzt von Ursula Gräfe. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2005. 237 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Dieser Roman des "Vielschreibers" Haruki Murakami überzeugt Martin Krumbholz, der sich ansonsten durchaus für die "angenehme Leichtigkeit" und die "atmosphärischen Valeurs" seiner Werke erwärmen kann, nicht. "Offensichtlich" habe sich der japanische Bestsellerautor an amerikanischen Filmen orientiert, indem er mehrere Handlungsstränge und Figuren "punktuell" einander berühren lässt, glaubt der Rezensent, dem allzu vieles in diesem Roman zu "undeutlich" bleibt. Krumbholz kritisiert, dass die angestrebte "filmische Suggestion" zu "angestrengt und vergeblich" wirkt und er hat irgendwie das Gefühl, manches in diesem Roman in anderen Büchern des Autors "schon ähnlich und besser" gelesen zu haben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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