Produktdetails
- Verlag: J'AI LU
- ISBN-13: 9782290239933
- Artikelnr.: 67615137
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.03.2019Der Psychologe braucht eine Therapie
Pariser Tage und Nächte: Das Debüt der Dänin Anne Cathrine Bomann
Sie sind selten, die Wunder des Literaturbetriebs, aber es gibt sie. Im März 2017 erscheint der schmale Roman oder vielmehr die Erzählung "Agathe" einer Dänin namens Anne Cathrine Bomann. Und zwar in einem Zuschussverlag, in der Provinz, in einer kleinen Sprache, die Autorin ist unbekannt, das Buch ihr erstes. Natürlich passierte erst mal gar nichts. Mittlerweile, so wird gemeldet, sind die Rechte in siebzehn Länder verkauft.
Mal abgesehen von den Anstrengungen der ehrgeizigen Autorin und einer rührigen Agentur - vielleicht ist es doch kein Wunder. Wer nämlich so knapp, pointiert und mit einer Prise Humor schreibt und in einer kleinen Vorrede mit dem gespreizten, aber auch verlockenden Titel "Mathema" (was so viel wie Lehre oder Wissen bedeutet) davon berichtet, wie der Ich-Erzähler, ein 72 Jahre alter Psychologe, ungeduldig seinem Ruhestand entgegenfiebert und die letzten Wochen und Therapiegespräche zählt wie ein Wehrpflichtiger seine restlichen Tage und dabei auf ausfallende Patienten hofft, weil sich dadurch die Zahl verringert - der hat die Leser sofort auf seiner Seite.
Eigentlich brauchte der namenlose Herr selbst eine Therapie. Er ist altersdepressiv und verbittert, hat zunehmend Panikattacken, zweifelt an seinem Können und seiner Bestimmung, lauscht den Monologen seiner Patienten "geistesabwesend" und zeichnet dabei zerrupfte Spatzen mit gebrochenen Flügeln. Er blickt auf ein trostloses Leben zurück, hat keine Familie und keine Freunde. Die einzige Person, die er regelmäßig sieht, ist seine Sprechstundenhilfe Madame Surrugue, sie ist für ihn so unentbehrlich "wie der Diwan oder mein Sessel".
Wer Menschen mit Dingen gleichstellt, kann nur einsam sein. Das Leben sagt ihm nichts, und was er im Ruhestand machen soll, weiß er auch nicht. Die Erstausgabe von Sartres Roman "Der Ekel" liegt seit Jahren ungelesen auf dem Couchtisch. Hier hätte der Doktor lernen können, wie der Abscheu vor dem Dasein zum Antrieb zur Freiheit wird - aber er liest ihn ja nicht.
Eines Tages kommt eine neue Patientin, Agathe Zimmermann, eine Deutsche, die Ende der zwanziger Jahre zum Studium nach Frankreich gekommen war. Schon 1935 war sie wegen manischer Depression in einer Nervenheilanstalt, sie ist selbstmordgefährdet. Unser Doktor will sie nicht behandeln, in den paar Wochen, die er noch zu arbeiten habe, sei ihr nicht zu helfen, meint er. Madame Surrugue gibt ihr trotzdem einen Termin.
Agathe wird zum Wendepunkt seines Daseins. Vielleicht zum ersten Mal im Leben hat der alte Psychologe Interesse an einer anderen Person. Das ist manchmal etwas simpel geschildert. Dass er etwa die Gespräche mit ihr, zunächst widerstrebend geführt, schon in der vierten Sitzung genießt, kommt etwas plötzlich. Und seine dramatische Erkenntnis: "Ich habe noch nie jemanden geliebt", schon in Tolstois "Kosaken" das Eingeständnis einer kranken Seele, schon bei Tolstoi das Synonym für "Ich habe noch nie gelebt" -, diese Erkenntnis war vielleicht zu erwarten, und trotzdem ist sie überraschend und nicht nur eine Floskel. Die Erzählung ist sonderbar zeitlos, historische Angaben werden geflissentlich vermieden. Dass die Geschichte in der Vergangenheit spielt, wird einem schnell klar, man hört nämlich das Klappern der Schreibmaschine, ein Therapiegespräch kostet 30 Francs, und der ungelesene "Ekel" von Sartre erschien schon 1938.
Aber kein Hinweis auf Krieg, Besatzung, Nachkriegszeit. Nur durch das schnell zu überlesende Datum auf einer Mitteilung von Madame Surrugue, sie müsse "aus persönlichen Gründen" eine Weile der Arbeit fernbleiben, erfahren wir, dass wir uns im Jahr 1948 befinden; Und zwar irgendwo bei Paris; offenbar handelt es sich um Fontenay-sous-Bois, einen westlichen Pariser Vorort.
Die Autorin, Jahrgang 1983, ist selbst Psychologin. Dadurch hat der schmale Roman ein kundiges Fundament; manchmal stören aber auch ein paar fachliche Binsenweisheiten: "Ich meine, dass Sie sich für außergewöhnlich halten, gleichzeitig aber für vollkommen unbedeutend." Oder: "Sie sollten versuchen, sich selbst ein bisschen mehr zu lieben." Oder: "Sie müssen lernen, sich zu sehen, Agathe." Auch Klischee und Kitsch webt Bomann in ihr Debüt. Aber ziemlich unauffällig, das ist schon professionell.
Im Ganzen bleibt der Text für eine Debütantin jedenfalls erstaunlich. Mit sparsamsten Mitteln, mit wenigen messerscharfen Strichen zeichnet sie ihre Personen - den namenlosen Psychologen, seine Patientin Agathe, aber auch die Nebenfiguren wie Madame Surrugue oder ihren todkranken Mann: Alle sind sie vollständige Charaktere. Das Gleiche gilt für Umgebung und Atmosphäre; es ist gut vorstellbar, dass Anne Cathrine Bomann eine fleißige Simenon-Leserin ist. Simenon freilich schrieb seine Romane bekanntlich in höchstens vier Wochen. Bomann hat vier Jahre gebraucht.
PETER URBAN-HALLE
Anne Cathrine Bomann: "Agathe". Roman.
Aus dem Dänischen von Franziska Hüther. Hanser Verlag, München 2019. 157 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Pariser Tage und Nächte: Das Debüt der Dänin Anne Cathrine Bomann
Sie sind selten, die Wunder des Literaturbetriebs, aber es gibt sie. Im März 2017 erscheint der schmale Roman oder vielmehr die Erzählung "Agathe" einer Dänin namens Anne Cathrine Bomann. Und zwar in einem Zuschussverlag, in der Provinz, in einer kleinen Sprache, die Autorin ist unbekannt, das Buch ihr erstes. Natürlich passierte erst mal gar nichts. Mittlerweile, so wird gemeldet, sind die Rechte in siebzehn Länder verkauft.
Mal abgesehen von den Anstrengungen der ehrgeizigen Autorin und einer rührigen Agentur - vielleicht ist es doch kein Wunder. Wer nämlich so knapp, pointiert und mit einer Prise Humor schreibt und in einer kleinen Vorrede mit dem gespreizten, aber auch verlockenden Titel "Mathema" (was so viel wie Lehre oder Wissen bedeutet) davon berichtet, wie der Ich-Erzähler, ein 72 Jahre alter Psychologe, ungeduldig seinem Ruhestand entgegenfiebert und die letzten Wochen und Therapiegespräche zählt wie ein Wehrpflichtiger seine restlichen Tage und dabei auf ausfallende Patienten hofft, weil sich dadurch die Zahl verringert - der hat die Leser sofort auf seiner Seite.
Eigentlich brauchte der namenlose Herr selbst eine Therapie. Er ist altersdepressiv und verbittert, hat zunehmend Panikattacken, zweifelt an seinem Können und seiner Bestimmung, lauscht den Monologen seiner Patienten "geistesabwesend" und zeichnet dabei zerrupfte Spatzen mit gebrochenen Flügeln. Er blickt auf ein trostloses Leben zurück, hat keine Familie und keine Freunde. Die einzige Person, die er regelmäßig sieht, ist seine Sprechstundenhilfe Madame Surrugue, sie ist für ihn so unentbehrlich "wie der Diwan oder mein Sessel".
Wer Menschen mit Dingen gleichstellt, kann nur einsam sein. Das Leben sagt ihm nichts, und was er im Ruhestand machen soll, weiß er auch nicht. Die Erstausgabe von Sartres Roman "Der Ekel" liegt seit Jahren ungelesen auf dem Couchtisch. Hier hätte der Doktor lernen können, wie der Abscheu vor dem Dasein zum Antrieb zur Freiheit wird - aber er liest ihn ja nicht.
Eines Tages kommt eine neue Patientin, Agathe Zimmermann, eine Deutsche, die Ende der zwanziger Jahre zum Studium nach Frankreich gekommen war. Schon 1935 war sie wegen manischer Depression in einer Nervenheilanstalt, sie ist selbstmordgefährdet. Unser Doktor will sie nicht behandeln, in den paar Wochen, die er noch zu arbeiten habe, sei ihr nicht zu helfen, meint er. Madame Surrugue gibt ihr trotzdem einen Termin.
Agathe wird zum Wendepunkt seines Daseins. Vielleicht zum ersten Mal im Leben hat der alte Psychologe Interesse an einer anderen Person. Das ist manchmal etwas simpel geschildert. Dass er etwa die Gespräche mit ihr, zunächst widerstrebend geführt, schon in der vierten Sitzung genießt, kommt etwas plötzlich. Und seine dramatische Erkenntnis: "Ich habe noch nie jemanden geliebt", schon in Tolstois "Kosaken" das Eingeständnis einer kranken Seele, schon bei Tolstoi das Synonym für "Ich habe noch nie gelebt" -, diese Erkenntnis war vielleicht zu erwarten, und trotzdem ist sie überraschend und nicht nur eine Floskel. Die Erzählung ist sonderbar zeitlos, historische Angaben werden geflissentlich vermieden. Dass die Geschichte in der Vergangenheit spielt, wird einem schnell klar, man hört nämlich das Klappern der Schreibmaschine, ein Therapiegespräch kostet 30 Francs, und der ungelesene "Ekel" von Sartre erschien schon 1938.
Aber kein Hinweis auf Krieg, Besatzung, Nachkriegszeit. Nur durch das schnell zu überlesende Datum auf einer Mitteilung von Madame Surrugue, sie müsse "aus persönlichen Gründen" eine Weile der Arbeit fernbleiben, erfahren wir, dass wir uns im Jahr 1948 befinden; Und zwar irgendwo bei Paris; offenbar handelt es sich um Fontenay-sous-Bois, einen westlichen Pariser Vorort.
Die Autorin, Jahrgang 1983, ist selbst Psychologin. Dadurch hat der schmale Roman ein kundiges Fundament; manchmal stören aber auch ein paar fachliche Binsenweisheiten: "Ich meine, dass Sie sich für außergewöhnlich halten, gleichzeitig aber für vollkommen unbedeutend." Oder: "Sie sollten versuchen, sich selbst ein bisschen mehr zu lieben." Oder: "Sie müssen lernen, sich zu sehen, Agathe." Auch Klischee und Kitsch webt Bomann in ihr Debüt. Aber ziemlich unauffällig, das ist schon professionell.
Im Ganzen bleibt der Text für eine Debütantin jedenfalls erstaunlich. Mit sparsamsten Mitteln, mit wenigen messerscharfen Strichen zeichnet sie ihre Personen - den namenlosen Psychologen, seine Patientin Agathe, aber auch die Nebenfiguren wie Madame Surrugue oder ihren todkranken Mann: Alle sind sie vollständige Charaktere. Das Gleiche gilt für Umgebung und Atmosphäre; es ist gut vorstellbar, dass Anne Cathrine Bomann eine fleißige Simenon-Leserin ist. Simenon freilich schrieb seine Romane bekanntlich in höchstens vier Wochen. Bomann hat vier Jahre gebraucht.
PETER URBAN-HALLE
Anne Cathrine Bomann: "Agathe". Roman.
Aus dem Dänischen von Franziska Hüther. Hanser Verlag, München 2019. 157 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Knapp, pointiert und mit einer Prise Humor." Peter Urban-Halle, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.03.19
"Vom Cover bis zum letzten Satz ein feines Werk mit Nachhall." Meike Schnitzler, Brigitte, 27.02.19
"Eine Geschichte, die brillant davon erzählt, dass es nie zu spät für hoffnungsvolle Aufbrüche ist." Rainer Moritz, Chrismon, Juni 2019
"Fabelhaft ... Anne C. Bomann entwirft liebenswerte Charaktere mit 'Amélie'-Flair." Barbara, März 2019
"Die dänische Autorin Anne-Cathrine Bomann lässt ihren 72-jährigen Ich-Erzähler mit satirischer Brillanz als wortkargen Verdränger voller Angst vor seinen Patienten auftreten." Stern, 31.01.19
"Anne Cathrine Bomann schreibt in klaren, konkreten Bildern, sehr dicht und doch voller Leichtigkeit. Wie sie den Psychiater durch ein erstarrtes Leben dümpeln lässt, hat viel leisen Witz ... Beim Lesen entsteht das Gefühl, einen französischen Film mit tollen Schauspielern zu sehen. Die Dialoge wirken echt und enthüllennur ganz langsam die Geheimnisse von Agathe und ihrem Psychiater ... Am Ende wird das entspannte, schmale Büchlein zu einem richtigen Gutfühl-Roman ... und ganz viel angedeutetem Glück. Ein Buch, das man mehrmals lesen kann." Stefan Keim, WDR 4 "Bücher", 12.02.19
"Bomanns kleiner, reizvoller Roman 'Agathe' [...] ihr lapidares Erzählen geht vorzüglich auf, ein Auf-Lücke- Erzählen, eine unaufdringliche, manierfreie Antupftechnik ... " Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau, 20.04.19
"Feine Lektüre: Die Dänin Anne Cathrine Bomann schreibt wunderbar leicht und zärtlich ... über die Sehnsucht nach Nähe und Freundschaft." Andrea Sell, Gala, 17.01.19
"Ein kleines Buch voller Lust am Dasein. Schön!" Donna, Januar 2019
"Vom Cover bis zum letzten Satz ein feines Werk mit Nachhall." Meike Schnitzler, Brigitte, 27.02.19
"Eine Geschichte, die brillant davon erzählt, dass es nie zu spät für hoffnungsvolle Aufbrüche ist." Rainer Moritz, Chrismon, Juni 2019
"Fabelhaft ... Anne C. Bomann entwirft liebenswerte Charaktere mit 'Amélie'-Flair." Barbara, März 2019
"Die dänische Autorin Anne-Cathrine Bomann lässt ihren 72-jährigen Ich-Erzähler mit satirischer Brillanz als wortkargen Verdränger voller Angst vor seinen Patienten auftreten." Stern, 31.01.19
"Anne Cathrine Bomann schreibt in klaren, konkreten Bildern, sehr dicht und doch voller Leichtigkeit. Wie sie den Psychiater durch ein erstarrtes Leben dümpeln lässt, hat viel leisen Witz ... Beim Lesen entsteht das Gefühl, einen französischen Film mit tollen Schauspielern zu sehen. Die Dialoge wirken echt und enthüllennur ganz langsam die Geheimnisse von Agathe und ihrem Psychiater ... Am Ende wird das entspannte, schmale Büchlein zu einem richtigen Gutfühl-Roman ... und ganz viel angedeutetem Glück. Ein Buch, das man mehrmals lesen kann." Stefan Keim, WDR 4 "Bücher", 12.02.19
"Bomanns kleiner, reizvoller Roman 'Agathe' [...] ihr lapidares Erzählen geht vorzüglich auf, ein Auf-Lücke- Erzählen, eine unaufdringliche, manierfreie Antupftechnik ... " Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau, 20.04.19
"Feine Lektüre: Die Dänin Anne Cathrine Bomann schreibt wunderbar leicht und zärtlich ... über die Sehnsucht nach Nähe und Freundschaft." Andrea Sell, Gala, 17.01.19
"Ein kleines Buch voller Lust am Dasein. Schön!" Donna, Januar 2019