A reassessment of the 20th century exploring topics such as the breakdown of the Old World, the lack of international accord, the failure of the Arts in recent years and the influence of the Third World.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungMann ohne Club
Als die Mitglieder der englischen Social History Society unlängst ihr Jahrestreffen abhielten, wurde spontan eine Sitzung über den marxistischen Historiker Eric Hobsbawm anberaumt. Und wie selbstverständlich begann sie mit einer Umbildung der Sitzordnung. Man setzte sich in einen demokratischen Kreis. Anlaß der Sitzung war Hobsbawms jüngstes Buch, "Age of Extremes" - eine Weltgeschichte dieses Jahrhunderts, von der Oktoberrevolution bis zu den Auswirkungen, welche die Auflösung der Sowjetunion und das Ende des Kalten Krieges gehabt haben. Das Buch ist als "Nachruf auf die bolschewistische Revolution" bezeichnet worden. Es ist Zeugnis der verlorenen Hoffnung Hobsbawms. Eine Verwirklichung des sozialistischen Ideals in Europa wäre für ihn die Vollendung der Aufklärung gewesen.
Aber jener demokratische Kreis hatte Mühe mit dem Sujet. Den wenigen, die das Buch ganz gelesen hatten, hatte es gefallen. Aber sie konnten nicht recht sagen, warum: Im Detail waren sie immer wieder anderer Meinung als der Autor und fanden viele Elemente seiner Darstellung haarsträubend falsch.
Hobsbawm ist nicht nur seit seinem vierzehnten Lebensjahr Marxist. Er zählt auch zu jenen, die weder durch den sowjetischen Einmarsch in Ungarn noch durch Dubceks gewaltsame Absetzung dazu bewogen wurden, aus der Partei auszutreten. Daran hatte man sich im Lauf der Zeit gewöhnt. Daß der Mann aber heutzutage, wo doch die Niederlage des sowjetischen Systems stattgefunden hat, immer noch nicht von seinem Standpunkt abrückt, wirkt wie eine Provokation. Vor allem ein Fernsehinterview im vergangenen Jahr hat das intellektuelle England erregt: Da saß ein alerter, verglichen mit Hobsbawm jugendlicher Historiker und tat alles, um Hobsbawm das offenbar so wertvolle "Ich habe mich geirrt" zu entlocken. Aber der Siebenundsiebzigjährige gab nicht nach: "Es gibt Clubs", sagte er mit Hinblick auf die Ex-Kommunisten, "in denen ich nicht Mitglied sein will." Und auf die weiteren Vorhaltungen hin wiegte er nur den Kopf.
Die Leute wundern sich über Hobsbawm um so mehr, als dieser über den real existierenden Sozialismus alles andere als Gutes zu sagen hat. Außerdem hat er in "Age of Extremes" Kategorien aufgegeben, in denen er zeitlebens gedacht hat. So braucht er den Begriff der "Klasse" in seiner Darstellung des zwanzigsten Jahrhunderts nicht. Er hat zwar nie historische Prozesse restlos auf ökonomische Umstände reduziert, aber selbst seine mit Sozial-und Kulturtheorien ausstaffierte Idee vom Klassenkampf spielt im jüngsten Buch kaum eine Rolle. Für Hobsbawm war die Existenz der Sowjetunion eine inspirierende Herausforderung. Sie gilt ihm als der wesentliche Antrieb für die westlichen Staaten, um vom ökonomischen "laissez faire" abzulassen und an seine Stelle eine soziale Marktwirtschaft zu setzen.
In einem Vortrag sprach er 1993 davon, wie es sei, die Geschichte der eigenen Lebensepoche zu schreiben: "Ein großer Teil meines Lebens, vermutlich fast mein ganzes bewußt gelebtes Leben, war einer Hoffnung gewidmet, die enttäuscht wurde, und einer Sache, die durchgefallen ist." Jegliche Verbindung zwischen der historischen Realität und dem politischen Ideal ist gekappt. Wenn Hobsbawm seine Ideale nicht aufgibt, weiß er doch, daß es für sie gegenwärtig keine Anknüpfungspunkte gibt. Der Journalist und Osteuropa-Spezialist Neal Ascherson hat vermutet, daß hinter Hobsbawms Treue zur marxistischen Idee eine Loyalität zu Freunden und Vorbildern stehe, die er während seiner Studienjahre in Cambridge gekannt und verehrt hat. Ascherson, der selbst in Cambridge studierte, kennt sich da aus. Daneben steht freilich der Umstand, daß Hobsbawm heute wie je entschieden für staatliche Wirtschaftsplanung eintritt. Als eine Ironie der Geschichte erscheint ihm, daß soziale Marktwirtschaften mit diesem Instrument so viel besser reüssierten als sozialistische Länder.
In der Runde von Sozialhistorikern, die sich über Hobsbawm unterhielten, wurde er mit dem Pferd Clover in Georg Orwells "Farm der Tiere" verglichen. In Orwells Parabel auf die Russische Revolution verrichtet Clover alle Arbeit auf der Farm anstandslos und im Glauben an das große Projekt. So rechtschaffen emsig wie Clover sei auch Eric Hobsbawm. Die Historiker fanden, daß "Age of Extremes" von einer düsteren Gestimmtheit des Autors zeuge. Während der Niederschrift, so berichtete einer, habe Hobsbawm im Gespräch die gegenwärtige Lage Europas mit derjenigen Roms kurz vor dem Einfall der Hunnen verglichen. In dem Buch ist davon freilich nicht die Rede.
Ein anderer meinte, daß Hobsbawms Rolle als Jazz-Kritiker viel über ihn aussage. "Aber Jazz hört für ihn mit Miles Davis auf", erklärte der Redner, "er kann mit allem, was danach kommt, nichts anfangen." Es war den Anwesenden nicht ganz klar, ob sie schließen sollten, daß Hobsbawms Charakterisierung der Zeit seit 1973 als Epoche einer globalen ökonomischen und sozialen Krise damit zusammenhängt, daß er Free Jazz nicht mag.
In der Tat sieht Hobsbawms Prognose für die Zukunft nicht gut aus. Anders als für den liberalen Optimisten Francis Fukuyama, der das Ende des Kalten Krieges als das "Ende der Geschichte" feierte, sind für Hobsbawm die Dinge offen. Und die Welt hat die Wechselfälle der Geschichte bitter nötig. "Wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll", heißt es am Ende seines Buches, "dann kann sie nicht darin bestehen, daß wir die Vergangenheit oder die Gegenwart fortschreiben." Solche Versuche könnten nur fehlschlagen, die Gesellschaft müsse sich ändern. Die Alternative dazu "ist Finsternis". FRANZISKA AUGSTEIN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als die Mitglieder der englischen Social History Society unlängst ihr Jahrestreffen abhielten, wurde spontan eine Sitzung über den marxistischen Historiker Eric Hobsbawm anberaumt. Und wie selbstverständlich begann sie mit einer Umbildung der Sitzordnung. Man setzte sich in einen demokratischen Kreis. Anlaß der Sitzung war Hobsbawms jüngstes Buch, "Age of Extremes" - eine Weltgeschichte dieses Jahrhunderts, von der Oktoberrevolution bis zu den Auswirkungen, welche die Auflösung der Sowjetunion und das Ende des Kalten Krieges gehabt haben. Das Buch ist als "Nachruf auf die bolschewistische Revolution" bezeichnet worden. Es ist Zeugnis der verlorenen Hoffnung Hobsbawms. Eine Verwirklichung des sozialistischen Ideals in Europa wäre für ihn die Vollendung der Aufklärung gewesen.
Aber jener demokratische Kreis hatte Mühe mit dem Sujet. Den wenigen, die das Buch ganz gelesen hatten, hatte es gefallen. Aber sie konnten nicht recht sagen, warum: Im Detail waren sie immer wieder anderer Meinung als der Autor und fanden viele Elemente seiner Darstellung haarsträubend falsch.
Hobsbawm ist nicht nur seit seinem vierzehnten Lebensjahr Marxist. Er zählt auch zu jenen, die weder durch den sowjetischen Einmarsch in Ungarn noch durch Dubceks gewaltsame Absetzung dazu bewogen wurden, aus der Partei auszutreten. Daran hatte man sich im Lauf der Zeit gewöhnt. Daß der Mann aber heutzutage, wo doch die Niederlage des sowjetischen Systems stattgefunden hat, immer noch nicht von seinem Standpunkt abrückt, wirkt wie eine Provokation. Vor allem ein Fernsehinterview im vergangenen Jahr hat das intellektuelle England erregt: Da saß ein alerter, verglichen mit Hobsbawm jugendlicher Historiker und tat alles, um Hobsbawm das offenbar so wertvolle "Ich habe mich geirrt" zu entlocken. Aber der Siebenundsiebzigjährige gab nicht nach: "Es gibt Clubs", sagte er mit Hinblick auf die Ex-Kommunisten, "in denen ich nicht Mitglied sein will." Und auf die weiteren Vorhaltungen hin wiegte er nur den Kopf.
Die Leute wundern sich über Hobsbawm um so mehr, als dieser über den real existierenden Sozialismus alles andere als Gutes zu sagen hat. Außerdem hat er in "Age of Extremes" Kategorien aufgegeben, in denen er zeitlebens gedacht hat. So braucht er den Begriff der "Klasse" in seiner Darstellung des zwanzigsten Jahrhunderts nicht. Er hat zwar nie historische Prozesse restlos auf ökonomische Umstände reduziert, aber selbst seine mit Sozial-und Kulturtheorien ausstaffierte Idee vom Klassenkampf spielt im jüngsten Buch kaum eine Rolle. Für Hobsbawm war die Existenz der Sowjetunion eine inspirierende Herausforderung. Sie gilt ihm als der wesentliche Antrieb für die westlichen Staaten, um vom ökonomischen "laissez faire" abzulassen und an seine Stelle eine soziale Marktwirtschaft zu setzen.
In einem Vortrag sprach er 1993 davon, wie es sei, die Geschichte der eigenen Lebensepoche zu schreiben: "Ein großer Teil meines Lebens, vermutlich fast mein ganzes bewußt gelebtes Leben, war einer Hoffnung gewidmet, die enttäuscht wurde, und einer Sache, die durchgefallen ist." Jegliche Verbindung zwischen der historischen Realität und dem politischen Ideal ist gekappt. Wenn Hobsbawm seine Ideale nicht aufgibt, weiß er doch, daß es für sie gegenwärtig keine Anknüpfungspunkte gibt. Der Journalist und Osteuropa-Spezialist Neal Ascherson hat vermutet, daß hinter Hobsbawms Treue zur marxistischen Idee eine Loyalität zu Freunden und Vorbildern stehe, die er während seiner Studienjahre in Cambridge gekannt und verehrt hat. Ascherson, der selbst in Cambridge studierte, kennt sich da aus. Daneben steht freilich der Umstand, daß Hobsbawm heute wie je entschieden für staatliche Wirtschaftsplanung eintritt. Als eine Ironie der Geschichte erscheint ihm, daß soziale Marktwirtschaften mit diesem Instrument so viel besser reüssierten als sozialistische Länder.
In der Runde von Sozialhistorikern, die sich über Hobsbawm unterhielten, wurde er mit dem Pferd Clover in Georg Orwells "Farm der Tiere" verglichen. In Orwells Parabel auf die Russische Revolution verrichtet Clover alle Arbeit auf der Farm anstandslos und im Glauben an das große Projekt. So rechtschaffen emsig wie Clover sei auch Eric Hobsbawm. Die Historiker fanden, daß "Age of Extremes" von einer düsteren Gestimmtheit des Autors zeuge. Während der Niederschrift, so berichtete einer, habe Hobsbawm im Gespräch die gegenwärtige Lage Europas mit derjenigen Roms kurz vor dem Einfall der Hunnen verglichen. In dem Buch ist davon freilich nicht die Rede.
Ein anderer meinte, daß Hobsbawms Rolle als Jazz-Kritiker viel über ihn aussage. "Aber Jazz hört für ihn mit Miles Davis auf", erklärte der Redner, "er kann mit allem, was danach kommt, nichts anfangen." Es war den Anwesenden nicht ganz klar, ob sie schließen sollten, daß Hobsbawms Charakterisierung der Zeit seit 1973 als Epoche einer globalen ökonomischen und sozialen Krise damit zusammenhängt, daß er Free Jazz nicht mag.
In der Tat sieht Hobsbawms Prognose für die Zukunft nicht gut aus. Anders als für den liberalen Optimisten Francis Fukuyama, der das Ende des Kalten Krieges als das "Ende der Geschichte" feierte, sind für Hobsbawm die Dinge offen. Und die Welt hat die Wechselfälle der Geschichte bitter nötig. "Wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll", heißt es am Ende seines Buches, "dann kann sie nicht darin bestehen, daß wir die Vergangenheit oder die Gegenwart fortschreiben." Solche Versuche könnten nur fehlschlagen, die Gesellschaft müsse sich ändern. Die Alternative dazu "ist Finsternis". FRANZISKA AUGSTEIN
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