Eine poetische Zeitreise
Anne Weber begibt sich auf eine Entdeckungsreise, die in die befremdende und faszinierende Welt ihres Urgroßvaters und damit in die Abgründe und Höhenflüge einer ganzen Epoche führt. Florens Christian Rang - im Buch Sanderling genannt - war Jurist, Pfarrer in zwei Dörfern bei Posen, Schriftsteller und Philosoph. Er korrespondierte mit Hugo von Hofmannsthal, war befreundet mit Martin Buber und Walter Benjamin. Doch auf der Reise zu diesem Urgroßvater stellt sich immer wieder ein gewaltiges Hindernis in den Weg: die deutsche und familiäre Vergangenheit, wie sie nach Sanderlings Tod weiterging. 'Ahnen' ist eine ebenso poetische wie reflektierte Zeitreise, die zugleich von den Sehnsüchten und dem Schmerz der Gegenwart erzählt.
Anne Weber begibt sich auf eine Entdeckungsreise, die in die befremdende und faszinierende Welt ihres Urgroßvaters und damit in die Abgründe und Höhenflüge einer ganzen Epoche führt. Florens Christian Rang - im Buch Sanderling genannt - war Jurist, Pfarrer in zwei Dörfern bei Posen, Schriftsteller und Philosoph. Er korrespondierte mit Hugo von Hofmannsthal, war befreundet mit Martin Buber und Walter Benjamin. Doch auf der Reise zu diesem Urgroßvater stellt sich immer wieder ein gewaltiges Hindernis in den Weg: die deutsche und familiäre Vergangenheit, wie sie nach Sanderlings Tod weiterging. 'Ahnen' ist eine ebenso poetische wie reflektierte Zeitreise, die zugleich von den Sehnsüchten und dem Schmerz der Gegenwart erzählt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.2015Das Dickicht wird umso dichter, je tiefer sie eindringt
"Zeitreisetagebuch" nennt Anne Weber ihr neues Buch "Ahnen". Es ist eine Spurensuche nach ihrem Urgroßvater, die zur Selbstbefragung wird - ein Erkenntnisprozess, der auch literarisch fasziniert.
Man ahnt etwas, wenn man den Titel "Ahnen" liest. Anne Webers neues Buch widmet sich einem ihrer Vorfahren, dem Urgroßvater väterlicherseits, und sie hat eine Vermutung zu diesem Mann. Um die doppelte Bedeutung des Titels explizit zu machen: Sie ahnt etwas über ihren Ahnen. Was sie ahnt? Dass er mehr mit ihr zu tun haben dürfte, als sie selbst es sich eingestehen mag.
Das ist erst einmal in einem banalen Sinne wahr. Wer sich Bilder dieses Florens Christian Rang ansieht und dann das neueste Autorenfoto von Anne Weber, wie es sich im Buch findet, heranzieht, der staunt über die Ähnlichkeit. Anne Weber ist ihrem Urgroßvater wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie trüge auch seinen Namen, wäre sie 1964 nicht als uneheliche Tochter des Enkels von Rang geboren worden. Da war der Ahnherr schon vierzig Jahre tot, aber sein Sohn, Anne Webers Großvater, akzeptierte die illegitime Enkelin nicht als Mitglied der Familie. So erfuhr die heutige Schriftstellerin eine Kränkung durch die Rangs, die in ein ambivalentes Verhältnis mündete, zu dessen Klärung Anne Weber nun "Ahnen" geschrieben hat.
Berühmt geworden und vielfach ausgezeichnet sind Anne Webers Romane. "Luft und Liebe" und "Tal der Herrlichkeiten" waren die letzten beiden, dazwischen entstand noch die biographische Studie zum Goethe-Sohn August, doch auch das war kein Sachbuch, sondern ein hochliterarisches Kunststück, mit dem sich Anne Weber aber gleichwohl für ihre eigene Ahnenforschung munitionierte: durch eine Einfühlung in ihren Gegenstand, der im Falle August von Goethes allerdings nicht durch ein persönliches Interesse motiviert wurde, das über Neugier hinausging.
Dass Anne Weber sich auf die Spur von Florens Christian Rang begab, war länger bekannt. Die Zahl derjenigen, die sich heute noch mit dem 1864 geborenen protestantischen Theologen beschäftigen, der in seinen späten Jahren eine Privatreligion schuf und mit ansonsten inkompatibel erscheinenden Größen wie Hofmannsthal, Benjamin oder Buber korrespondierte und befreundet war, ist überschaubar, und jede Person, die in dieses spezielle geistesgeschichtliche Feld eindringt, wird rasch registriert. Doch Anne Weber ließ sich Zeit bei ihren Studien, zumal ja kein weiterer Roman dabei herauskommen sollte, sondern eine Selbstauskunft über den Umweg eines Ahnherrn, dessen Vorfahrschaft zunächst einmal rein biographisch war, sich bei intensiverer Beschäftigung aber als immer vielfältiger erwies. Bezeichnend, dass sie ihm einen nom de plume in ihrem Buch gab: Sanderling, nach einem sehr beweglichen Strandvogel des Wattenmeers. Aber der deutsche "Sonderling" klingt darin allemal auch an.
"Zeitreisetagebuch" hat Anne Weber als Textgattung für "Ahnen" gewählt, doch das ist nur für ihre Methode wahr, nicht für den Inhalt. Es handelt sich nicht um einen chronologischen Nachvollzug ihrer Lektüren, Forschungen und Erkundungen zum Leben von Florens Christian Rang alias Sanderling, sondern um die Beschreibung des Wegs zu ihm, der im Buch anders verläuft als bei der wirklichen Recherche. "Mein Weg in die Vergangenheit", heißt es ziemlich zu Beginn, "wird über eine Fülle von Papieren, Plätzen und Begegnungen führen." Und erst aus dem, was diese drei Komponenten wechselseitig miteinander anstellen, ergibt sich das, was "Ahnen" bietet: ein durch die Fakten und Vermutungen zugewuchertes "Dickicht der Zeit", durch das Anne Weber ihren Pfad sucht.
Hinter ihr wächst alles sofort wieder zu, so dass es kein Zurück mehr gibt. Und das, was die Autorin über die Vergangenheit in Erfahrung bringt, sorgt für kräftigen Dünger ihrer Imagination, so dass auch neben und vor ihr das Dickicht immer dichter zu werden scheint, je tiefer sie eindringt. Es handelt sich rasch nicht mehr nur um das autobiographische Interesse an einem Mann, der in der Familie derjenige war, der auch vom und fürs Schreiben lebte, sondern mit diesem ungewöhnlichen Geist der Kaiserzeit ersteht vor Anne Weber all das mit auf, was auf seine Epoche folgte. Einiges davon ist für sie so sehr Belastung, dass sie es nur metaphorisch zu fassen versucht, so etwa, wenn sie für die Schrecken der NS-Zeit das Bild vom "Riesengebirge" wählt, das sie von allem, was davor lag, trennt.
Wir haben es bei Anne Weber mit einer Schriftstellerin zu tun, die in zwei Sprachen schreibt, Deutsch und Französisch, und ihre Romane zumeist auch in diesen beiden Sprachen publiziert (sie übersetzt dann jeweils selbst). Entsprechend ist ihr Sprachgefühl: Es ist das einer Autorin, deren Erzähltes in beiden Sprachen Ausdruck finden muss und somit nicht aufs Metaphorische setzen kann. Das ist in "Ahnen" ganz anders; es ist, als wäre Anne Weber nun frei, sich eine neue Sprache zu suchen, und das ist auch nötig, weil sie hier unverhüllt als "Ich" auftritt, während in ihren Romanen bislang nur zu vermuten war, was darin eigener Erfahrung entsprach. Das bildhafte Sprechen gestattet ihr den Einzug einer Schranke zwischen sich selbst und den Lesern, ansonsten wäre die Unmittelbarkeit unerträglich für sie. Dass sie damit zugleich auch näher an die Sprache heranrückt, die ihr Urgroßvater geschrieben hat, ist da ein willkommener Nebeneffekt.
Was dieses Buch dadurch gewinnt, ist eine Allgemeingültigkeit, die verbrämt ist durch den Anschein einer ganz persönlichen Geschichte. Die Selbstbefragungen Anne Webers etwa zu ihrem Blick auf die Familien- oder auch Nationalgeschichte sind exemplarisch. So etwa die Sorge ihres Vaters bei jeder Beschäftigung mit der NS-Zeit, er könnte auf Spuren des damaligen Wirkens seines eigenen Vaters treffen - wer kennte nicht ein ähnliches Missbehagen, sofern man um Verstrickungen der eigenen Vorfahren im "Dritten Reich" weiß, aber nicht um deren Ausmaß? Worüber sich Anne Weber hier Rechenschaft ablegt, ist nicht weniger als die eigene Integrität: Was kann sie betreffs ihrer Familie und ihrer Nation akzeptieren, wovon muss sie sich lösen? Über die Klärung dieser Fragen entwickelt sie ein neues Selbstbewusstsein, das sowohl mit der Verletzung durch die einstige familiäre Ächtung als auch mit der Belastung durch die deutsche Vergangenheit umzugehen weiß.
Die Faszination, die dieser hier nachvollziehbar gemachte Erkenntnisprozess verschafft, ist groß. Allein das Finale von "Ahnen", eine Reise im Jahr 2013 in die Umgebung von Posen, wo Florens Christian Rang am Ende des neunzehnten Jahrhunderts als Pfarrer gearbeitet hat, fällt ab. Denn hier lässt sich Anne Weber zu sehr vom Schauplatz und ihrem gesicherten Wissen ums deutsch-polnische Verhältnis leiten, als dass die das Buch sonst so prägende produktive Unruhe des Denkens noch zur Geltung käme. Zudem findet sie ihre Schlussszene am Allerheiligentag auf den polnischen Friedhöfen. Ihre Verblüffung über Art und Intensität des Totengedenkens verblüfft selbst. Hier findet Anne Weber plakative Bilder, die nicht zur sonstigen Subtilität ihres literarischen Verfahrens passen: keine Metaphern mehr, sondern Reisebuchprosa.
Vor zwei Jahren ist erstaunlicherweise ein Buch über eine Reise nach Polen erschienen, das gleichfalls im Allerheiligentrubel kulminierte: Rutu Modans Comic "Das Erbe" (F.A.Z. vom 16. August 2013). Er erzählt die - fiktionale - Geschichte der Rückkehr einer alten Jüdin aus Israel in ihre frühere Heimat. Dass Anne Weber mit der Fahrt in die frühere Heimat ihres Urgroßvaters auf dasselbe Bild einer Erinnerungskultur zusteuert, ist bezeichnend. Beide Bücher erzählen von der Angst, sich den Gespenstern der Vergangenheit zu stellen. Nur braucht Anne Webers "Ahnen" den Trost eines ungebrochenen Verhältnisses zu den Toten gar nicht, denn ihr Buch ist gerade aus den Brüchen entstanden, nicht aus dem Bemühen um Versöhnung. Sie ist eben die Urenkelin eines Florens Christian Rang, die wie dieser ihren Zweifel mit der höheren Instanz allein ausmacht - "vatergeistallein" in der Verantwortung, wie der Urgroßvater in einem seiner Bücher die übliche Rede von "mutterseelenallein" ergänzt hatte. Anne Weber ist viel mehr als nur Fleisch von seinem Fleisch.
ANDREAS PLATTHAUS
Anne Weber: "Ahnen".
Ein Zeitreisetagebuch.
Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2015.
268 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Zeitreisetagebuch" nennt Anne Weber ihr neues Buch "Ahnen". Es ist eine Spurensuche nach ihrem Urgroßvater, die zur Selbstbefragung wird - ein Erkenntnisprozess, der auch literarisch fasziniert.
Man ahnt etwas, wenn man den Titel "Ahnen" liest. Anne Webers neues Buch widmet sich einem ihrer Vorfahren, dem Urgroßvater väterlicherseits, und sie hat eine Vermutung zu diesem Mann. Um die doppelte Bedeutung des Titels explizit zu machen: Sie ahnt etwas über ihren Ahnen. Was sie ahnt? Dass er mehr mit ihr zu tun haben dürfte, als sie selbst es sich eingestehen mag.
Das ist erst einmal in einem banalen Sinne wahr. Wer sich Bilder dieses Florens Christian Rang ansieht und dann das neueste Autorenfoto von Anne Weber, wie es sich im Buch findet, heranzieht, der staunt über die Ähnlichkeit. Anne Weber ist ihrem Urgroßvater wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie trüge auch seinen Namen, wäre sie 1964 nicht als uneheliche Tochter des Enkels von Rang geboren worden. Da war der Ahnherr schon vierzig Jahre tot, aber sein Sohn, Anne Webers Großvater, akzeptierte die illegitime Enkelin nicht als Mitglied der Familie. So erfuhr die heutige Schriftstellerin eine Kränkung durch die Rangs, die in ein ambivalentes Verhältnis mündete, zu dessen Klärung Anne Weber nun "Ahnen" geschrieben hat.
Berühmt geworden und vielfach ausgezeichnet sind Anne Webers Romane. "Luft und Liebe" und "Tal der Herrlichkeiten" waren die letzten beiden, dazwischen entstand noch die biographische Studie zum Goethe-Sohn August, doch auch das war kein Sachbuch, sondern ein hochliterarisches Kunststück, mit dem sich Anne Weber aber gleichwohl für ihre eigene Ahnenforschung munitionierte: durch eine Einfühlung in ihren Gegenstand, der im Falle August von Goethes allerdings nicht durch ein persönliches Interesse motiviert wurde, das über Neugier hinausging.
Dass Anne Weber sich auf die Spur von Florens Christian Rang begab, war länger bekannt. Die Zahl derjenigen, die sich heute noch mit dem 1864 geborenen protestantischen Theologen beschäftigen, der in seinen späten Jahren eine Privatreligion schuf und mit ansonsten inkompatibel erscheinenden Größen wie Hofmannsthal, Benjamin oder Buber korrespondierte und befreundet war, ist überschaubar, und jede Person, die in dieses spezielle geistesgeschichtliche Feld eindringt, wird rasch registriert. Doch Anne Weber ließ sich Zeit bei ihren Studien, zumal ja kein weiterer Roman dabei herauskommen sollte, sondern eine Selbstauskunft über den Umweg eines Ahnherrn, dessen Vorfahrschaft zunächst einmal rein biographisch war, sich bei intensiverer Beschäftigung aber als immer vielfältiger erwies. Bezeichnend, dass sie ihm einen nom de plume in ihrem Buch gab: Sanderling, nach einem sehr beweglichen Strandvogel des Wattenmeers. Aber der deutsche "Sonderling" klingt darin allemal auch an.
"Zeitreisetagebuch" hat Anne Weber als Textgattung für "Ahnen" gewählt, doch das ist nur für ihre Methode wahr, nicht für den Inhalt. Es handelt sich nicht um einen chronologischen Nachvollzug ihrer Lektüren, Forschungen und Erkundungen zum Leben von Florens Christian Rang alias Sanderling, sondern um die Beschreibung des Wegs zu ihm, der im Buch anders verläuft als bei der wirklichen Recherche. "Mein Weg in die Vergangenheit", heißt es ziemlich zu Beginn, "wird über eine Fülle von Papieren, Plätzen und Begegnungen führen." Und erst aus dem, was diese drei Komponenten wechselseitig miteinander anstellen, ergibt sich das, was "Ahnen" bietet: ein durch die Fakten und Vermutungen zugewuchertes "Dickicht der Zeit", durch das Anne Weber ihren Pfad sucht.
Hinter ihr wächst alles sofort wieder zu, so dass es kein Zurück mehr gibt. Und das, was die Autorin über die Vergangenheit in Erfahrung bringt, sorgt für kräftigen Dünger ihrer Imagination, so dass auch neben und vor ihr das Dickicht immer dichter zu werden scheint, je tiefer sie eindringt. Es handelt sich rasch nicht mehr nur um das autobiographische Interesse an einem Mann, der in der Familie derjenige war, der auch vom und fürs Schreiben lebte, sondern mit diesem ungewöhnlichen Geist der Kaiserzeit ersteht vor Anne Weber all das mit auf, was auf seine Epoche folgte. Einiges davon ist für sie so sehr Belastung, dass sie es nur metaphorisch zu fassen versucht, so etwa, wenn sie für die Schrecken der NS-Zeit das Bild vom "Riesengebirge" wählt, das sie von allem, was davor lag, trennt.
Wir haben es bei Anne Weber mit einer Schriftstellerin zu tun, die in zwei Sprachen schreibt, Deutsch und Französisch, und ihre Romane zumeist auch in diesen beiden Sprachen publiziert (sie übersetzt dann jeweils selbst). Entsprechend ist ihr Sprachgefühl: Es ist das einer Autorin, deren Erzähltes in beiden Sprachen Ausdruck finden muss und somit nicht aufs Metaphorische setzen kann. Das ist in "Ahnen" ganz anders; es ist, als wäre Anne Weber nun frei, sich eine neue Sprache zu suchen, und das ist auch nötig, weil sie hier unverhüllt als "Ich" auftritt, während in ihren Romanen bislang nur zu vermuten war, was darin eigener Erfahrung entsprach. Das bildhafte Sprechen gestattet ihr den Einzug einer Schranke zwischen sich selbst und den Lesern, ansonsten wäre die Unmittelbarkeit unerträglich für sie. Dass sie damit zugleich auch näher an die Sprache heranrückt, die ihr Urgroßvater geschrieben hat, ist da ein willkommener Nebeneffekt.
Was dieses Buch dadurch gewinnt, ist eine Allgemeingültigkeit, die verbrämt ist durch den Anschein einer ganz persönlichen Geschichte. Die Selbstbefragungen Anne Webers etwa zu ihrem Blick auf die Familien- oder auch Nationalgeschichte sind exemplarisch. So etwa die Sorge ihres Vaters bei jeder Beschäftigung mit der NS-Zeit, er könnte auf Spuren des damaligen Wirkens seines eigenen Vaters treffen - wer kennte nicht ein ähnliches Missbehagen, sofern man um Verstrickungen der eigenen Vorfahren im "Dritten Reich" weiß, aber nicht um deren Ausmaß? Worüber sich Anne Weber hier Rechenschaft ablegt, ist nicht weniger als die eigene Integrität: Was kann sie betreffs ihrer Familie und ihrer Nation akzeptieren, wovon muss sie sich lösen? Über die Klärung dieser Fragen entwickelt sie ein neues Selbstbewusstsein, das sowohl mit der Verletzung durch die einstige familiäre Ächtung als auch mit der Belastung durch die deutsche Vergangenheit umzugehen weiß.
Die Faszination, die dieser hier nachvollziehbar gemachte Erkenntnisprozess verschafft, ist groß. Allein das Finale von "Ahnen", eine Reise im Jahr 2013 in die Umgebung von Posen, wo Florens Christian Rang am Ende des neunzehnten Jahrhunderts als Pfarrer gearbeitet hat, fällt ab. Denn hier lässt sich Anne Weber zu sehr vom Schauplatz und ihrem gesicherten Wissen ums deutsch-polnische Verhältnis leiten, als dass die das Buch sonst so prägende produktive Unruhe des Denkens noch zur Geltung käme. Zudem findet sie ihre Schlussszene am Allerheiligentag auf den polnischen Friedhöfen. Ihre Verblüffung über Art und Intensität des Totengedenkens verblüfft selbst. Hier findet Anne Weber plakative Bilder, die nicht zur sonstigen Subtilität ihres literarischen Verfahrens passen: keine Metaphern mehr, sondern Reisebuchprosa.
Vor zwei Jahren ist erstaunlicherweise ein Buch über eine Reise nach Polen erschienen, das gleichfalls im Allerheiligentrubel kulminierte: Rutu Modans Comic "Das Erbe" (F.A.Z. vom 16. August 2013). Er erzählt die - fiktionale - Geschichte der Rückkehr einer alten Jüdin aus Israel in ihre frühere Heimat. Dass Anne Weber mit der Fahrt in die frühere Heimat ihres Urgroßvaters auf dasselbe Bild einer Erinnerungskultur zusteuert, ist bezeichnend. Beide Bücher erzählen von der Angst, sich den Gespenstern der Vergangenheit zu stellen. Nur braucht Anne Webers "Ahnen" den Trost eines ungebrochenen Verhältnisses zu den Toten gar nicht, denn ihr Buch ist gerade aus den Brüchen entstanden, nicht aus dem Bemühen um Versöhnung. Sie ist eben die Urenkelin eines Florens Christian Rang, die wie dieser ihren Zweifel mit der höheren Instanz allein ausmacht - "vatergeistallein" in der Verantwortung, wie der Urgroßvater in einem seiner Bücher die übliche Rede von "mutterseelenallein" ergänzt hatte. Anne Weber ist viel mehr als nur Fleisch von seinem Fleisch.
ANDREAS PLATTHAUS
Anne Weber: "Ahnen".
Ein Zeitreisetagebuch.
Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2015.
268 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Cornelia Geissler ist fasziniert von diesem Buch. Wie sich die Schriftstellerin Anne Weber darin auf die Suche nach den eigenen Wurzeln macht, ihren Ururgroßvater, den Theologen, Juristen und Philosophen Florens Christian Rang, und dessen Denken und Handeln versucht zu begreifen und es in den Zusammenhang stellt mit der deutschen Geschichte, scheint Geissler anders als andere Großvatergeschichten. Im Vordergrund, meint Geissler, steht das intellektuelle Interesse, die Frage, wie deutsches Selbstbewusstsein und deutscher Größenwahn zusammengehen. Webers gründliche Recherche in den Archiven und ihre Selbstbefragung ergeben für Geissler schließlich ein Zeitreisetagebuch von Format.
© Perlentaucher Medien GmbH
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stilistisch wunderbar, brillante, feine intelligente Art und Weise.[...] Ich habe diese Buch mit sehr viel Genuss gelesen und kann es nur herzlich empfehlen. Iris Radisch Zeit online 20150517