Ailin möchte rennen und springen und nicht nur so geziert trippeln können wie ihre älteren Schwestern. Darum wehrt sie sich als Fünfjährige mit allen Kräften, als ihr die Füße eingebunden werden sollen. Und da ihr Vater für die modernen Ideen, die sich auch in China um 1910 langsam ausbreiten, offen ist, unterstützt er sie. Ailins Füße bleiben unverkrüppelt. Doch damit ist sie in ihren Kreisen nicht mehr heiratsfähig, und nur in der Möglichkeit zu heiraten und Kinder zu gebären wird der Wert eines Mädchens gesehen. So muss Ailin neue Wege gehen, und das ganz alleine, denn der Vater, der als Einziger wirklich zu ihr hält, stirbt früh. Geradlinig und eindrucksvoll erzählt die Autorin, wie Ailin den Weg in ein freies Leben einschlägt. Im Kontakt und in der Auseinandersetzung mit der westlichen Kultur wird sie immer selbstständiger und lernt sich zu behaupten, gegen ihre Familie und für ihr eigenes Leben. Schließlich kommt sie als Kindermädchen einer amerikanischen Familie nach Ame rika. Dort bleibt sie und wird die Frau und gleichberechtigte Partnerin eines chinesischen Restaurantbesitzers - mit ihren großen Füßen!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2000Barfuß
China um 1920: "Ailins Weg"
Wie eine zusammengeklappte Scheibe Brot sehen die Füße von Ailins Schwester aus: Die Zehen wurden unter die Fußsohlen gezwungen. Nun trippeln sie standesgemäß, aber nicht unbeschwert, für das Schönheitsideal und die Tradition des alten China. Ailin möchte aber nicht humpeln, sondern hüpfen. Deswegen wehrt sie sich, als ihre Füße eingebunden werden sollen, und macht das, was Kinder tun, wenn sie keinen Ausweg sehen: Sie läuft von zu Hause fort.
Der Roman beginnt im China der zwanziger Jahre und begleitet Ailins Weg bis ins Erwachsenenalter hinein. Als kleines Mädchen ist Ailin ein echter Trotzkopf. Die chinesische Kinder- und Jugendbuchautorin Lensey Namioka hat mit ihr eine lebhafte Figur geschaffen, die zeigt, daß ein "Nein" von ganzem Herzen besser ist als jedes zittrige "Ja". Lensey Namioka hat die Praxis des Füße-Einbindens zwar nicht mehr am eigenen Leib erfahren, doch die Generation ihrer Mutter lief noch auf malträtierten Füßen.
Wenn nun Namioka von dieser Zeit erzählt, in der patriarchalische Strukturen das Leben der Mädchen und Frauen bestimmten, so schlägt sie dabei nicht den aufgeregten Brustton der Entrüstung an. Sie wertet nicht ab, sondern erzählt nüchtern und genau vom steinigen Weg einer Rebellion. Es sind die Memoiren einer Tochter aus gutem chinesischen Hause, die auch viel über das fernöstliche Land, die ferne Zeit und ein fremdes Leben zutage fördern. Dabei verzichtet Namioka auf jede blumige Exotik. Lieber läßt sie die handelnden Personen selbst zu Wort kommen. Die Dialoge geben dem Roman seine Lebendigkeit, die darüber hinweglesen läßt, daß die Geschichte nur mit wenig überraschenden Momenten aufwarten kann und sich manchmal alles ein wenig zu glatt ins andere fügt.
Das zentrale Thema - so empörend es ist - bietet heute wohl keinen Zündstoff mehr. Bei allen Lesern hierzulande wird Einigkeit herrschen über diese Barbarei. Wichtiger ist, wie Namioka, die selbst in den Vereinigten Staaten lebt, ganz nebenbei vom Fremdsein in der Welt erzählt. Was bei anderen Autoren reichlich angestrengt wirkt - Kindern und Jugendlichen die Ausländerfeindlichkeit aus- und die Toleranz einzureden -, gelingt Namioka wie hingetupft. Zunächst begegnet Ailin in China einer für sie äußerst seltsamen und gewöhnungsbedürftigen amerikanischen Familie. Später wandert sie, inzwischen eine junge Frau, in die Vereinigten Staaten aus. Als sie dort zum ersten Mal durch Chinatown geht, durchlebt sie mit flatterndem Herzen die Glücksgefühle bei der Begegnung mit vertrauten Gerüchen, Gesichtern und Gerichten. Und auch wenn wir das, wonach es Ailin so sehnlich verlangt, nicht essen mögen, spüren wir doch, wie wunderbar es sein muß, ein kleines Stück Heimat in der Fremde zu finden.
SHIRIN SOJITRAWALLA.
Lensey Namioka: "Ailins Weg". Aus dem Englischen von Anna Blankenburg. Anrich Verlag, Weinheim 2000. 188 S., geb., 22,- DM. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
China um 1920: "Ailins Weg"
Wie eine zusammengeklappte Scheibe Brot sehen die Füße von Ailins Schwester aus: Die Zehen wurden unter die Fußsohlen gezwungen. Nun trippeln sie standesgemäß, aber nicht unbeschwert, für das Schönheitsideal und die Tradition des alten China. Ailin möchte aber nicht humpeln, sondern hüpfen. Deswegen wehrt sie sich, als ihre Füße eingebunden werden sollen, und macht das, was Kinder tun, wenn sie keinen Ausweg sehen: Sie läuft von zu Hause fort.
Der Roman beginnt im China der zwanziger Jahre und begleitet Ailins Weg bis ins Erwachsenenalter hinein. Als kleines Mädchen ist Ailin ein echter Trotzkopf. Die chinesische Kinder- und Jugendbuchautorin Lensey Namioka hat mit ihr eine lebhafte Figur geschaffen, die zeigt, daß ein "Nein" von ganzem Herzen besser ist als jedes zittrige "Ja". Lensey Namioka hat die Praxis des Füße-Einbindens zwar nicht mehr am eigenen Leib erfahren, doch die Generation ihrer Mutter lief noch auf malträtierten Füßen.
Wenn nun Namioka von dieser Zeit erzählt, in der patriarchalische Strukturen das Leben der Mädchen und Frauen bestimmten, so schlägt sie dabei nicht den aufgeregten Brustton der Entrüstung an. Sie wertet nicht ab, sondern erzählt nüchtern und genau vom steinigen Weg einer Rebellion. Es sind die Memoiren einer Tochter aus gutem chinesischen Hause, die auch viel über das fernöstliche Land, die ferne Zeit und ein fremdes Leben zutage fördern. Dabei verzichtet Namioka auf jede blumige Exotik. Lieber läßt sie die handelnden Personen selbst zu Wort kommen. Die Dialoge geben dem Roman seine Lebendigkeit, die darüber hinweglesen läßt, daß die Geschichte nur mit wenig überraschenden Momenten aufwarten kann und sich manchmal alles ein wenig zu glatt ins andere fügt.
Das zentrale Thema - so empörend es ist - bietet heute wohl keinen Zündstoff mehr. Bei allen Lesern hierzulande wird Einigkeit herrschen über diese Barbarei. Wichtiger ist, wie Namioka, die selbst in den Vereinigten Staaten lebt, ganz nebenbei vom Fremdsein in der Welt erzählt. Was bei anderen Autoren reichlich angestrengt wirkt - Kindern und Jugendlichen die Ausländerfeindlichkeit aus- und die Toleranz einzureden -, gelingt Namioka wie hingetupft. Zunächst begegnet Ailin in China einer für sie äußerst seltsamen und gewöhnungsbedürftigen amerikanischen Familie. Später wandert sie, inzwischen eine junge Frau, in die Vereinigten Staaten aus. Als sie dort zum ersten Mal durch Chinatown geht, durchlebt sie mit flatterndem Herzen die Glücksgefühle bei der Begegnung mit vertrauten Gerüchen, Gesichtern und Gerichten. Und auch wenn wir das, wonach es Ailin so sehnlich verlangt, nicht essen mögen, spüren wir doch, wie wunderbar es sein muß, ein kleines Stück Heimat in der Fremde zu finden.
SHIRIN SOJITRAWALLA.
Lensey Namioka: "Ailins Weg". Aus dem Englischen von Anna Blankenburg. Anrich Verlag, Weinheim 2000. 188 S., geb., 22,- DM. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Die Memoiren einer Tochter aus gutem chinesischen Hause, die auch viel über das fernöstliche Land, die ferne zeit und ein fremdes Leben zutage fördern." FAZ
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Das zentrale Thema dieses Buches, findet Shirin Sojitrawalla, biete heute keinen Zündstoff mehr. Gemeint sind die Erlebnisse eines chinesischen Mädchens, das in den zwanziger Jahren von zu Hause weggelaufen ist, weil ihr die Füße eingebunden werden sollten. Wichtiger sei, wie Lensey Namioka vom "Fremdsein in der Welt" erzähle. Was bei anderen Autoren reichlich angestrengt wirke - nämlich "Kindern Ausländerfeindlichkeit aus- und Toleranz einzureden"- gelinge der chinesischen Autorin "wie hingetupft".
© Perlentaucher Medien GmbH"
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