In seinem Opus magnum zur Ästhetik untersucht Jacques Rancière berühmte wie auch vergessene Ereignisse aus den Jahren 1764 bis 1941. Anhand dieser Szenen zeigt Rancière, wie sich das ästhetische Wahrnehmungs- und Interpretationsregime der Kunst herausbildet und verändert, indem es die besonderen Eigenschaften der jeweiligen Kunstformen und auch die Grenzen zwischen Kunst und Alltagserfahrung einebnet. In vierzehn Szenen geht Rancière der Entstehung und Entwicklung des ästhetischen Regimes der Kunst nach. Er betrachtet mit Winckelmann den Torso im Belvedere, begleitet Hegel ins Museum und Mallarmé ins Varieteetheater Folies-Bergère, hört in Boston einen Vortrag Emersons, besucht Ausstellungen in Paris und New York, eine Fabrik in Berlin, Filmsets in Moskau und Hollywood und die Pächterhütten von Alabama. Rancière untersucht, wie eine beschädigte Statue ein perfektes Kunstwerk werden kann, ein Bild von verlausten Kindern die Darstellung des Ideals, ein Clowns-Purzelbaum ein Aufschwingen in den poetischen Himmel, ein Möbelstück ein Tempel, ein geflickter Overall ein Prinzengewand, das Flattern eines Schleiers eine Kosmogonie oder eine beschleunigte Montage von Gesten die sinnliche Wirklichkeit des Kommunismus. Aisthesis lässt eine Geschichte der künstlerischen Moderne vor unseren Augen entstehen, die weit vom modernistischen Dogma entfernt ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2013Das Ancien Régime der Ästhetik
Der französische Starphilosoph Jacques Rancière erklärt in seinem neuen Buch, warum wir heute Kunst in all ihren Formen als Kunst wahrnehmen
Die Kunst als solche, als eine eigene Welt und nicht bloß als die Kompetenz des Malers, Bildhauers, Architekten oder Dichters, ist noch nicht so alt. Sie beginnt 1764 in Dresden mit Johann Joachim Winckelmanns Buch zur "Geschichte der Kunst des Altertums". Indem Winckelmann den misshandelten und verstümmelten Torso des Herkules, der ohne Kopf, Arme und Beine ist, als vollkommenes Werk feiert, bricht er mit dem barocken Überschwang ebenso wie mit dem klassischen repräsentativen Ideal der Griechen. Bei dieser verstümmelten Statue, deren Gebeine zudem noch von einer "fettigen Haut überzogen zu sein scheinen und dessen Muskeln feist ohne Überfluss sind" (Winckelmann), fehlt das Ganze wie der Ausdruck.
Winckelmann ist damit der Erste, der die Vollkommenheit eines Kunstwerks nicht im Hinzufügen, in der schönen Ergänzung der natürlichen Erscheinung findet, sondern in einem weitreichenden Mangel. Er bricht dadurch mit dem klassischen Ideal, das immer nach dem Optimum zwischen der Harmonie der Formen und Ausdruckskraft strebte. Da der Torso des Herkules weder den Eindruck von Harmonie auslöst noch überhaupt einen Ausdruck von Leidenschaft, Erhabenheit oder Klugheit zur Schau stellt, tut er aber noch etwas anderes: Er weist durch die schlichte Abwesenheit von Formharmonie und Ausdruck auf die Kluft hin, die zwischen ihnen in der Kunst bis dahin unbedacht war.
So sieht es jedenfalls Jacques Rancière in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Werk "Aisthesis". Der Begriff steht dabei für mehr als nur die Wahrnehmung von Kunst und künstlerischen Aktivitäten in der Zeit. Rancière will mit dem Begriff und den ihm zugrundeliegenden Ereignissen eine Beschreibung des "Identifikationsregimes" liefern, das uns heute Kunst in all ihren Formen als Kunst wahrnehmen und identifizieren lässt. Mit dem Titel "Aisthesis" lehnt er sich bewusst an ein großes Vorbild an: an Erich Auerbachs 1946 erschienene literaturwissenschaftliche Studie "Mimesis". Auerbach ging es in seiner Untersuchung um die Darstellung der Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Er stürzte sich dabei nicht auf das große Ganze, sondern untersuchte von Homer bis Virginia Woolf an kurzen Textpassagen die Veränderungen der Wirklichkeitsdarstellung in den Werken. Die Veränderungen, die Auerbach fand, lassen sich als eine stetige Ausweitung der Wirklichkeitsbereiche und der Lebensformen beschreiben, die in die Literatur Eingang finden.
Der Fortschritt der Literatur besteht in der ständigen Zunahme dessen, was sie vom Denken und Leben von allen möglichen Gegenständen aufnehmen kann und bearbeitet. Und dieser Prozess ist alles andere als unabhängig von der Entwicklung der formalen Schrift- und Schreibtechniken und der Gesellschaften, in denen er stattfindet. Man kann Rancières "Aisthesis" als eine Fortführung von Auerbachs Programm lesen, wenn er nach den Formen der Wirklichkeitsverarbeitung in der Kunst sucht. Rancière dehnt sein Forschungsfeld allerdings sehr weit aus. Die 14 Szenen, die er näher betrachtet, erstrecken sich über den Zeitraum von 1764 bis 1941. Sie beginnen mit Winckelmann, führen über Hegels Vorlesungen zur Ästhetik 1828 in Berlin und eine Tanzaufführung 1893 im Folies-Bergère in Paris zu einer Passage aus James Agees und Walker Evans' Bericht "Preisen will ich die großen Männer", die Agee 1936 drei Pächterfamilien in Alabama gewidmet hat. Rancière bettet diese Ereignisse, die er Denkszenen nennt und immer mit einem zeitgenössischen Zitat einleitet, neben der Beschreibung so in die Zeit ein, dass immer klar wird, was der jeweilige Text, die jeweilige Aufführung an Neuem einführt. Dabei geht es ihm ausschließlich um Momente in der Kunst, die das Denken verändern, indem sie aufnehmen, was bis dahin undenkbar gewesen war. So undenkbar wie der Wandel des kleinen, ungehobelten Bauern Julien Sorel zu einem Experten für die Intrigen der Welt in Stendhals Roman "Rot und Schwarz". Wobei das Neue in der Kunst nicht einfach eine losgelöste Erfindung ist, sondern ein Entwurf, der, eingebettet in eine konkrete, sich ständig entwickelnde politisch-gesellschaftlich-ökonomische Gesamtwirklichkeit, neue Formen oder Typen, wie Sorel oder den ruinierten Torso, als Vollkommenheit erschafft.
"Die Kunst existiert", schreibt Rancière in einem zentralen Satz, "wenn man ihr ein Volk, eine Gesellschaft, ein Zeitalter, einen bestimmten Moment in der Entwicklung ihres kollektiven Lebens zuordnen kann." Und das verbindende Element zwischen der Kunst und der Zeit ist der Stil. Wobei es nicht darum geht, die Lebens- und Ausdrucksweisen einer Gesellschaft in ihrer Zeit darzustellen. Rancière sucht nach Werken, Aufführungen oder Vorlesungen, in denen es darum geht, die Zusammengehörigkeit der Kunst eines Künstlers mit den Prinzipien zu denken, die das Leben der Menschen und ihrer Zeit lenken. Es geht um Werke, die aus dem Spiel mit den Wirkkräften der Zeit etwas Neues erschaffen, und sei es nur ein neues Subjekt wie den denkenden Stein.
"Der flaubertsche Ästhet ist ein Steineklopfer", hat Rancière einmal über Flauberts Prosa geschrieben. Flaubert ist für ihn der Autor, der die Gleichbehandlung aller Gegenstände und Menschen in die Literatur einführt. Weil Flaubert die Pferde, die die Kutsche ziehen, in der Madame Bovary ihren Ehebruch begeht, sprachlich auch nicht anders behandelt als seine Figuren, wird er für Rancière zu einem Autor der demokratischen Emanzipation. Zum Paradox wird diese Analyse dann, wenn man sie mit Flauberts persönlichen, manchmal schlicht reaktionären Bemerkungen zur Demokratie und ihren Vermassungs- und Verblödungserscheinungen kontrastiert. Für Rancière ist dieses Paradox aber kein Problem. Er sieht darin zwei Politiken aufeinanderprallen, die Politik des Autors und die Politik der Literatur. Welche der beiden hier die klügere ist, ist dann kein Rätsel mehr. Natürlich ist die Sprache der Werke Flauberts, die auch den Stein denken lässt, der Politik Flauberts weit voraus. Das Werk ist, wie bei jeder Kunst, die existiert, klüger als sein Autor, und zwar aus einem einfachen Grund: weil sich die Körper, die Sensorien der Wahrnehmung eben nicht dem Zugriff der Zeit entzogen, sondern sich ihr geöffnet und Strömungen des Moments zugelassen haben. Und weil es Rancière um die Verbindungen der künstlerischen Individualismen mit den allgemeinen, kollektiven Kräften geht, nennt er seine "Aisthesis" eine Gegengeschichte.
Die bestimmenden Geschichten und Philosophien der Moderne identifizieren die Moderne damit, dass jede Kunst ihre Autonomie erlangt, die sich in exemplarischen Werken wie Malewitschs "Schwarzem Quadrat" ausdrückt, die einen Bruch in der Geschichte bewirkt, indem sie sich zugleich von der Kunst der Vergangenheit und von den ästhetisierten Formen des prosaischen Lebens trennt. Rancières Erfahrung in den Archiven der Kunst- und Gesellschaftsgeschichte lehrt genau das Gegenteil. Die dem ästhetischen Regime eigene Bewegung, welche die Träume von künstlerischer Erneuerung und Verschmelzung von Kunst und Leben hervorgebracht hat, also das, was unter der Idee der Moderne zusammengefasst wird, tendiert dazu, die Besonderheiten der Künste zu beseitigen. Und damit auch die Grenzen zu verwischen, welche die Künste voneinander und von der Alltagserfahrung trennen.
Die Werke der Kunst stellen für Rancière nur dann einen Bruch dar, wenn sie sich dazu eignen, die Eigenschaften von Wahrnehmungs- und Denkregimen zu kondensieren, die vor ihnen existiert und sich anderswo herausgebildet haben. Auch weil das ästhetische Regime für Rancière weder autonom noch vom Gesellschaftsprozess geschieden ist, kann er sich nicht darüber aufregen, wenn ehrenwerte Museen die glitzernden Werke der Lieblinge des Kunstmarkts aufnehmen. Für ihn geht es eher darum, zu verstehen, mit welchen Mitteln die Kunst in die gesellschaftlichen Sphären eindringt und was sie dort anrichtet. Allein die Tatsache, dass ein Künstler zum Star und reich wird, erklärt nicht viel. Vor allem nicht, woher die Kunst kommt, wie sie zu dem wurde, was sie ist, und wie sie wirkt. Rancière legt daher auch Wert darauf, dass seine historischen Beispiele nicht als eine Verkettung von Ereignissen gelesen werden, sondern als eine Vielfalt von Überschneidungen und Fortführungen. Fortführungen im Übrigen auch seiner eigenen Arbeiten. Rancière, der in den letzten Jahren neben Alain Badiou zu dem französischen Vortragsstar geworden ist, war als junger Mann schon einmal fast weltberühmt: Als einer der Mitautoren von Louis Althussers 1965 erschienenem Buch "Das Kapital lesen", das eine neue Lesart von Marx einführte. Für Winckelmann, Agee oder das frivole Theater von Paris gelingt Rancière das auch hier.
CORD RIECHELMANN
Jacques Rancière: "Aisthesis. Vierzehn Szenen". Übersetzt von Richard Steurer-Boulard. Passagen-Verlag, 352 Seiten, 39,90 Euro
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Der französische Starphilosoph Jacques Rancière erklärt in seinem neuen Buch, warum wir heute Kunst in all ihren Formen als Kunst wahrnehmen
Die Kunst als solche, als eine eigene Welt und nicht bloß als die Kompetenz des Malers, Bildhauers, Architekten oder Dichters, ist noch nicht so alt. Sie beginnt 1764 in Dresden mit Johann Joachim Winckelmanns Buch zur "Geschichte der Kunst des Altertums". Indem Winckelmann den misshandelten und verstümmelten Torso des Herkules, der ohne Kopf, Arme und Beine ist, als vollkommenes Werk feiert, bricht er mit dem barocken Überschwang ebenso wie mit dem klassischen repräsentativen Ideal der Griechen. Bei dieser verstümmelten Statue, deren Gebeine zudem noch von einer "fettigen Haut überzogen zu sein scheinen und dessen Muskeln feist ohne Überfluss sind" (Winckelmann), fehlt das Ganze wie der Ausdruck.
Winckelmann ist damit der Erste, der die Vollkommenheit eines Kunstwerks nicht im Hinzufügen, in der schönen Ergänzung der natürlichen Erscheinung findet, sondern in einem weitreichenden Mangel. Er bricht dadurch mit dem klassischen Ideal, das immer nach dem Optimum zwischen der Harmonie der Formen und Ausdruckskraft strebte. Da der Torso des Herkules weder den Eindruck von Harmonie auslöst noch überhaupt einen Ausdruck von Leidenschaft, Erhabenheit oder Klugheit zur Schau stellt, tut er aber noch etwas anderes: Er weist durch die schlichte Abwesenheit von Formharmonie und Ausdruck auf die Kluft hin, die zwischen ihnen in der Kunst bis dahin unbedacht war.
So sieht es jedenfalls Jacques Rancière in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Werk "Aisthesis". Der Begriff steht dabei für mehr als nur die Wahrnehmung von Kunst und künstlerischen Aktivitäten in der Zeit. Rancière will mit dem Begriff und den ihm zugrundeliegenden Ereignissen eine Beschreibung des "Identifikationsregimes" liefern, das uns heute Kunst in all ihren Formen als Kunst wahrnehmen und identifizieren lässt. Mit dem Titel "Aisthesis" lehnt er sich bewusst an ein großes Vorbild an: an Erich Auerbachs 1946 erschienene literaturwissenschaftliche Studie "Mimesis". Auerbach ging es in seiner Untersuchung um die Darstellung der Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Er stürzte sich dabei nicht auf das große Ganze, sondern untersuchte von Homer bis Virginia Woolf an kurzen Textpassagen die Veränderungen der Wirklichkeitsdarstellung in den Werken. Die Veränderungen, die Auerbach fand, lassen sich als eine stetige Ausweitung der Wirklichkeitsbereiche und der Lebensformen beschreiben, die in die Literatur Eingang finden.
Der Fortschritt der Literatur besteht in der ständigen Zunahme dessen, was sie vom Denken und Leben von allen möglichen Gegenständen aufnehmen kann und bearbeitet. Und dieser Prozess ist alles andere als unabhängig von der Entwicklung der formalen Schrift- und Schreibtechniken und der Gesellschaften, in denen er stattfindet. Man kann Rancières "Aisthesis" als eine Fortführung von Auerbachs Programm lesen, wenn er nach den Formen der Wirklichkeitsverarbeitung in der Kunst sucht. Rancière dehnt sein Forschungsfeld allerdings sehr weit aus. Die 14 Szenen, die er näher betrachtet, erstrecken sich über den Zeitraum von 1764 bis 1941. Sie beginnen mit Winckelmann, führen über Hegels Vorlesungen zur Ästhetik 1828 in Berlin und eine Tanzaufführung 1893 im Folies-Bergère in Paris zu einer Passage aus James Agees und Walker Evans' Bericht "Preisen will ich die großen Männer", die Agee 1936 drei Pächterfamilien in Alabama gewidmet hat. Rancière bettet diese Ereignisse, die er Denkszenen nennt und immer mit einem zeitgenössischen Zitat einleitet, neben der Beschreibung so in die Zeit ein, dass immer klar wird, was der jeweilige Text, die jeweilige Aufführung an Neuem einführt. Dabei geht es ihm ausschließlich um Momente in der Kunst, die das Denken verändern, indem sie aufnehmen, was bis dahin undenkbar gewesen war. So undenkbar wie der Wandel des kleinen, ungehobelten Bauern Julien Sorel zu einem Experten für die Intrigen der Welt in Stendhals Roman "Rot und Schwarz". Wobei das Neue in der Kunst nicht einfach eine losgelöste Erfindung ist, sondern ein Entwurf, der, eingebettet in eine konkrete, sich ständig entwickelnde politisch-gesellschaftlich-ökonomische Gesamtwirklichkeit, neue Formen oder Typen, wie Sorel oder den ruinierten Torso, als Vollkommenheit erschafft.
"Die Kunst existiert", schreibt Rancière in einem zentralen Satz, "wenn man ihr ein Volk, eine Gesellschaft, ein Zeitalter, einen bestimmten Moment in der Entwicklung ihres kollektiven Lebens zuordnen kann." Und das verbindende Element zwischen der Kunst und der Zeit ist der Stil. Wobei es nicht darum geht, die Lebens- und Ausdrucksweisen einer Gesellschaft in ihrer Zeit darzustellen. Rancière sucht nach Werken, Aufführungen oder Vorlesungen, in denen es darum geht, die Zusammengehörigkeit der Kunst eines Künstlers mit den Prinzipien zu denken, die das Leben der Menschen und ihrer Zeit lenken. Es geht um Werke, die aus dem Spiel mit den Wirkkräften der Zeit etwas Neues erschaffen, und sei es nur ein neues Subjekt wie den denkenden Stein.
"Der flaubertsche Ästhet ist ein Steineklopfer", hat Rancière einmal über Flauberts Prosa geschrieben. Flaubert ist für ihn der Autor, der die Gleichbehandlung aller Gegenstände und Menschen in die Literatur einführt. Weil Flaubert die Pferde, die die Kutsche ziehen, in der Madame Bovary ihren Ehebruch begeht, sprachlich auch nicht anders behandelt als seine Figuren, wird er für Rancière zu einem Autor der demokratischen Emanzipation. Zum Paradox wird diese Analyse dann, wenn man sie mit Flauberts persönlichen, manchmal schlicht reaktionären Bemerkungen zur Demokratie und ihren Vermassungs- und Verblödungserscheinungen kontrastiert. Für Rancière ist dieses Paradox aber kein Problem. Er sieht darin zwei Politiken aufeinanderprallen, die Politik des Autors und die Politik der Literatur. Welche der beiden hier die klügere ist, ist dann kein Rätsel mehr. Natürlich ist die Sprache der Werke Flauberts, die auch den Stein denken lässt, der Politik Flauberts weit voraus. Das Werk ist, wie bei jeder Kunst, die existiert, klüger als sein Autor, und zwar aus einem einfachen Grund: weil sich die Körper, die Sensorien der Wahrnehmung eben nicht dem Zugriff der Zeit entzogen, sondern sich ihr geöffnet und Strömungen des Moments zugelassen haben. Und weil es Rancière um die Verbindungen der künstlerischen Individualismen mit den allgemeinen, kollektiven Kräften geht, nennt er seine "Aisthesis" eine Gegengeschichte.
Die bestimmenden Geschichten und Philosophien der Moderne identifizieren die Moderne damit, dass jede Kunst ihre Autonomie erlangt, die sich in exemplarischen Werken wie Malewitschs "Schwarzem Quadrat" ausdrückt, die einen Bruch in der Geschichte bewirkt, indem sie sich zugleich von der Kunst der Vergangenheit und von den ästhetisierten Formen des prosaischen Lebens trennt. Rancières Erfahrung in den Archiven der Kunst- und Gesellschaftsgeschichte lehrt genau das Gegenteil. Die dem ästhetischen Regime eigene Bewegung, welche die Träume von künstlerischer Erneuerung und Verschmelzung von Kunst und Leben hervorgebracht hat, also das, was unter der Idee der Moderne zusammengefasst wird, tendiert dazu, die Besonderheiten der Künste zu beseitigen. Und damit auch die Grenzen zu verwischen, welche die Künste voneinander und von der Alltagserfahrung trennen.
Die Werke der Kunst stellen für Rancière nur dann einen Bruch dar, wenn sie sich dazu eignen, die Eigenschaften von Wahrnehmungs- und Denkregimen zu kondensieren, die vor ihnen existiert und sich anderswo herausgebildet haben. Auch weil das ästhetische Regime für Rancière weder autonom noch vom Gesellschaftsprozess geschieden ist, kann er sich nicht darüber aufregen, wenn ehrenwerte Museen die glitzernden Werke der Lieblinge des Kunstmarkts aufnehmen. Für ihn geht es eher darum, zu verstehen, mit welchen Mitteln die Kunst in die gesellschaftlichen Sphären eindringt und was sie dort anrichtet. Allein die Tatsache, dass ein Künstler zum Star und reich wird, erklärt nicht viel. Vor allem nicht, woher die Kunst kommt, wie sie zu dem wurde, was sie ist, und wie sie wirkt. Rancière legt daher auch Wert darauf, dass seine historischen Beispiele nicht als eine Verkettung von Ereignissen gelesen werden, sondern als eine Vielfalt von Überschneidungen und Fortführungen. Fortführungen im Übrigen auch seiner eigenen Arbeiten. Rancière, der in den letzten Jahren neben Alain Badiou zu dem französischen Vortragsstar geworden ist, war als junger Mann schon einmal fast weltberühmt: Als einer der Mitautoren von Louis Althussers 1965 erschienenem Buch "Das Kapital lesen", das eine neue Lesart von Marx einführte. Für Winckelmann, Agee oder das frivole Theater von Paris gelingt Rancière das auch hier.
CORD RIECHELMANN
Jacques Rancière: "Aisthesis. Vierzehn Szenen". Übersetzt von Richard Steurer-Boulard. Passagen-Verlag, 352 Seiten, 39,90 Euro
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