Der Claude Simon-Navigator
Der französische Literatur-Nobelpreisträger Claude Simon ist einer der letzten großen Vertreter der modernen europäischen Literatur. Sein faszinierendes Werk aber gilt als schwierig. In Rolf Vollmann hat Claude Simon endlich einen kongenialen Leser gefunden, der den Neugierigen wie auch den Kenner auf seine Streifzüge durch die Romanlandschaften dieses immer noch großen Unbekannten mitnimmt. Akazie und Orion entwirft ein mögliches A und O im Netzwerk der Motive und Metaphern, das Rolf Vollmann vor dem Leser aufspannt. Akazie und Orion, das ist ein ABC des zitierenden und reflektierenden Verführens, daneben stehen die mit leichter Hand geschriebenen Inhaltsangaben zu den Romanen Claude Simons, die dem Liebhaber wie auch dem Anfänger eine zusätzliche Hilfe anbieten. Mit seismographischer Genauigkeit hat Rolf Vollmann in Akazie und Orion das Abenteuer des Lesens protokolliert, bis hinein in die eigenen Träume. Akazie und Orion ist die späte Hommage an einen der größten Schriftsteller unserer Zeit, dessen literarische Kolossalgemälde in Zukunft nicht mehr nur von einem kleinen Kreis der Kenner bewundert werden sollten.
Der französische Literatur-Nobelpreisträger Claude Simon ist einer der letzten großen Vertreter der modernen europäischen Literatur. Sein faszinierendes Werk aber gilt als schwierig. In Rolf Vollmann hat Claude Simon endlich einen kongenialen Leser gefunden, der den Neugierigen wie auch den Kenner auf seine Streifzüge durch die Romanlandschaften dieses immer noch großen Unbekannten mitnimmt. Akazie und Orion entwirft ein mögliches A und O im Netzwerk der Motive und Metaphern, das Rolf Vollmann vor dem Leser aufspannt. Akazie und Orion, das ist ein ABC des zitierenden und reflektierenden Verführens, daneben stehen die mit leichter Hand geschriebenen Inhaltsangaben zu den Romanen Claude Simons, die dem Liebhaber wie auch dem Anfänger eine zusätzliche Hilfe anbieten. Mit seismographischer Genauigkeit hat Rolf Vollmann in Akazie und Orion das Abenteuer des Lesens protokolliert, bis hinein in die eigenen Träume. Akazie und Orion ist die späte Hommage an einen der größten Schriftsteller unserer Zeit, dessen literarische Kolossalgemälde in Zukunft nicht mehr nur von einem kleinen Kreis der Kenner bewundert werden sollten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.2005Blütenblatt, malvenfarbig
Ein Erotiker: Rolf Vollmanns Streifzug durch Claude Simons Werk
Zerlesene Buchexemplare, vollgeschriebene Ränder, über die Regalkanten hängende Notizzettel - so möchte man sich die Werkstatt des hier besprochenen Autors vorstellen. Hinter dem Bücherfreund, dem Liebhaber schön geordneter Bücherreihen, steht der unersättliche Weiterleser, dem die ganze stolze Foliantenordnung in einem Staubregen der Einfälle, Zitaterinnerungen und Kommentare auseinanderstiebt. Ihm bleibt nichts übrig, als die verlorene Ordnung der durchlesenen Buchseiten mit einem neuen, vielleicht noch schöneren Buch abzugelten. Einen "Claude-Simon-Navigator" nennt der Verlag in Anspielung auf den vom selben Autor vor sechs Jahren schon vorgelegten "Roman-Navigator" auf dem Einband dieses neue Werk. Sei's denn. Wir literarischen Fußgänger mögen eher an eine Wanderkarte denken zum Romanwerk Claude Simons, mit der banalen Marschroute des Alphabets zwar, die aber von der die ersten Schreibversuche überschattenden Akazie im Garten von Perpignan weit hinaus bis zur entrückten Konstellation des Orions führt.
Kenner des Werks von Claude Simon kommen in diesem originellen, eleganten, aus offensichtlicher Liebhaberei geschriebenen Buch ebenso auf ihre Rechnung wie unbedarfte Neulinge. Und diesen letzteren sowie jenen begeisterten Simon-Lesern, die für ihre Leidenschaft bisher nie die geeigneten Worte fanden, sei dieser reizvolle Band besonders empfohlen. So anschaulich und einprägsam, verspielt, verträumt und doch unmittelbar faßbar wie in diesem Lesebegleiter hat man die Romanwelt des französischen Nobelpreisträgers bisher nie vorgeführt bekommen.
Schon in den beiden Stichwörtern "Abenddämmerung" und "Abendhimmel", die aus alphabetischen Gründen dem sammelnden Inspirationsmotiv der "Akazie" vorausgehen, verdichtet sich die minutiöse Fülle Simonscher Erzählkunst. Im Zitat aus "Der Wind" verfärbt sich da der Himmel wie in einem abstrakten Bild vom Grün ins Rötliche, dann Malvenfarbene, schließlich Tiefblaue mit dem reglosen Schwarz der Palmenumrisse und den darüber blinkenden ersten Sternen - "und sie blinken, in Perpignan, über Jep", fährt der Autor Vollmann kommentierend dazwischen, "Jep, dem abgetakelten Boxer (aber immerhin hat er zwei Männer noch niederschlagen können, erst, und noch dazu ganz nackt, nachts den Mann der halb nackten Hélène, und dann, aber das war keine Kunst, Montès ...)". Die permanente narrative Schärfenverlagerung Claude Simons zwischen Ereignis und Atmosphäre ist hier im hereinplatzenden Kommentar Vollmanns ins Zitat auf Anhieb geglückt und spinnt sich dann in beherrschter Stilimitation fort durchs Buch.
Über die persönlich geprägten Motivassoziationen, Textkommentare und mitunter auch Traumerinnerungen Vollmanns hinaus bietet das Werk aber Stellen handfester Werkanalyse. Manche Passagen treten bei Simon mit zwanzig Jahren Entfernung identisch oder leicht variiert wieder auf - ein weiteres Argument der Konstanz gegen die Legende, hier sei ein Autor vom Nouveau zum Neo-Roman umgeschwenkt. Unter manchen Stichwörtern wie "Fotografie" bietet Vollmann geradezu motivgeschichtliche Kurz-Essays zu Claude Simons Werk, andere sind mehr biographisch ausgerichtet. Das Viertausend-Seelen-Städtchen Arbois etwa im französischen Jura, bekannt durch seinen goldfarbenen Weißwein, aus dem Simons Vater stammte, ist mit seiner wasserreich durchgrünten Ländlichkeit die geheime Gegenwelt zur sonnengeblendeten Majestät Perpignans, der Stadt seiner Mutter: Und über den im selben Arbois lebenden pensionierten Lehrer Ulysse Robbe-Grillet versteht Vollmann auch den Rädelsführer des Nouveau Roman, Alain Robbe-Grillet, noch beiläufig ins Bild zu rücken. Andere Autoren wie Conrad, Faulkner, Rilke werden als Claude Simons Motto-Lieferanten angeführt, Zeitgenossen wie Brigitte Kronauer oder Undine Gruenter mitunter aus konkreten Motivzusammenhängen gestreift.
Das nebenbei, apropos und flüchtig Erwähnte gehört zu den Hauptreizen dieses Buchs. Waghalsige Exkurse wechseln mit Detailbeobachtung ab. Vom "glabellum feminal", dem haarlosen Geschlecht, das die nackte Photis beim römischen Dichter Apuleius und in Anspielung darauf auch die aus dem Bad kommende Hélène in Claude Simons "Geschichte" mit rosiger Hand mehr beschattet als bedeckt, kommt Vollmann auf den etwas zu kalten und glatten "marmornen Schoß" der deutschen Apuleius-Übersetzungen seit dem achtzehnten Jahrhundert zu sprechen. Das Stichwort dafür lautet "blütenblattfarben": jene Bildassoziation eben, unter der die aus dem Bad kommende Hélène ihr glattrasiertes Geschlecht mit der Hand verdeckend zeigt. Dieses "Blütenblatt" ist ein wahrer Blickfang, um den sich bei Vollmann mehrere Eintragungen gruppieren - selbst die blütenblättrig gekräuselten Lippen, mit denen Madame des Laumes bei Marcel Proust ein Musikstück von Chopin mitsummt, wirken in Vollmanns Wahrnehmung schon wie eine Vorwegnahme der "blütenblattähnlich" zerknitterten Schamlippen, etwa in Claude Simons "Das Gras". In der wiederkehrenden Erotik liegt ein thematisches Hauptmuster dieses weitmaschig gestrickten Zitat- und Kommentarnetzes. So durchgehend erotisch haben wir jedenfalls den französischen Autor bisher nicht gelesen.
Fest seht indessen eins: Wer bei so subtiler Lesehilfe die Bedeutung Claude Simons weiterhin ignoriert, muß entweder gute Gründe haben oder ausgesprochen schlechten Willens sein. Dies zumal, als Vollmann im zweiten Teil seines Buchs das Unmögliche wagt und Simons Romane einen nach dem anderen inhaltlich zusammenfaßt. Das gelingt ihm so vorzüglich, daß sich daraus unmittelbar eine Tücke - praktisch die einzige - dieses Buchs ergibt: Manch einer könnte versucht sein, sich mit dieser subjektiven Kartographie zu begnügen und die realen Romanlandschaften gar nicht mehr aufzusuchen. Das wäre ein gravierendes Mißverständnis.
JOSEPH HANIMANN
Rolf Vollmann: "Akazie und Orion". Streifzüge durch die Romanlandschaften Claude Simons. DuMont Verlag, Köln 2004. 265 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Erotiker: Rolf Vollmanns Streifzug durch Claude Simons Werk
Zerlesene Buchexemplare, vollgeschriebene Ränder, über die Regalkanten hängende Notizzettel - so möchte man sich die Werkstatt des hier besprochenen Autors vorstellen. Hinter dem Bücherfreund, dem Liebhaber schön geordneter Bücherreihen, steht der unersättliche Weiterleser, dem die ganze stolze Foliantenordnung in einem Staubregen der Einfälle, Zitaterinnerungen und Kommentare auseinanderstiebt. Ihm bleibt nichts übrig, als die verlorene Ordnung der durchlesenen Buchseiten mit einem neuen, vielleicht noch schöneren Buch abzugelten. Einen "Claude-Simon-Navigator" nennt der Verlag in Anspielung auf den vom selben Autor vor sechs Jahren schon vorgelegten "Roman-Navigator" auf dem Einband dieses neue Werk. Sei's denn. Wir literarischen Fußgänger mögen eher an eine Wanderkarte denken zum Romanwerk Claude Simons, mit der banalen Marschroute des Alphabets zwar, die aber von der die ersten Schreibversuche überschattenden Akazie im Garten von Perpignan weit hinaus bis zur entrückten Konstellation des Orions führt.
Kenner des Werks von Claude Simon kommen in diesem originellen, eleganten, aus offensichtlicher Liebhaberei geschriebenen Buch ebenso auf ihre Rechnung wie unbedarfte Neulinge. Und diesen letzteren sowie jenen begeisterten Simon-Lesern, die für ihre Leidenschaft bisher nie die geeigneten Worte fanden, sei dieser reizvolle Band besonders empfohlen. So anschaulich und einprägsam, verspielt, verträumt und doch unmittelbar faßbar wie in diesem Lesebegleiter hat man die Romanwelt des französischen Nobelpreisträgers bisher nie vorgeführt bekommen.
Schon in den beiden Stichwörtern "Abenddämmerung" und "Abendhimmel", die aus alphabetischen Gründen dem sammelnden Inspirationsmotiv der "Akazie" vorausgehen, verdichtet sich die minutiöse Fülle Simonscher Erzählkunst. Im Zitat aus "Der Wind" verfärbt sich da der Himmel wie in einem abstrakten Bild vom Grün ins Rötliche, dann Malvenfarbene, schließlich Tiefblaue mit dem reglosen Schwarz der Palmenumrisse und den darüber blinkenden ersten Sternen - "und sie blinken, in Perpignan, über Jep", fährt der Autor Vollmann kommentierend dazwischen, "Jep, dem abgetakelten Boxer (aber immerhin hat er zwei Männer noch niederschlagen können, erst, und noch dazu ganz nackt, nachts den Mann der halb nackten Hélène, und dann, aber das war keine Kunst, Montès ...)". Die permanente narrative Schärfenverlagerung Claude Simons zwischen Ereignis und Atmosphäre ist hier im hereinplatzenden Kommentar Vollmanns ins Zitat auf Anhieb geglückt und spinnt sich dann in beherrschter Stilimitation fort durchs Buch.
Über die persönlich geprägten Motivassoziationen, Textkommentare und mitunter auch Traumerinnerungen Vollmanns hinaus bietet das Werk aber Stellen handfester Werkanalyse. Manche Passagen treten bei Simon mit zwanzig Jahren Entfernung identisch oder leicht variiert wieder auf - ein weiteres Argument der Konstanz gegen die Legende, hier sei ein Autor vom Nouveau zum Neo-Roman umgeschwenkt. Unter manchen Stichwörtern wie "Fotografie" bietet Vollmann geradezu motivgeschichtliche Kurz-Essays zu Claude Simons Werk, andere sind mehr biographisch ausgerichtet. Das Viertausend-Seelen-Städtchen Arbois etwa im französischen Jura, bekannt durch seinen goldfarbenen Weißwein, aus dem Simons Vater stammte, ist mit seiner wasserreich durchgrünten Ländlichkeit die geheime Gegenwelt zur sonnengeblendeten Majestät Perpignans, der Stadt seiner Mutter: Und über den im selben Arbois lebenden pensionierten Lehrer Ulysse Robbe-Grillet versteht Vollmann auch den Rädelsführer des Nouveau Roman, Alain Robbe-Grillet, noch beiläufig ins Bild zu rücken. Andere Autoren wie Conrad, Faulkner, Rilke werden als Claude Simons Motto-Lieferanten angeführt, Zeitgenossen wie Brigitte Kronauer oder Undine Gruenter mitunter aus konkreten Motivzusammenhängen gestreift.
Das nebenbei, apropos und flüchtig Erwähnte gehört zu den Hauptreizen dieses Buchs. Waghalsige Exkurse wechseln mit Detailbeobachtung ab. Vom "glabellum feminal", dem haarlosen Geschlecht, das die nackte Photis beim römischen Dichter Apuleius und in Anspielung darauf auch die aus dem Bad kommende Hélène in Claude Simons "Geschichte" mit rosiger Hand mehr beschattet als bedeckt, kommt Vollmann auf den etwas zu kalten und glatten "marmornen Schoß" der deutschen Apuleius-Übersetzungen seit dem achtzehnten Jahrhundert zu sprechen. Das Stichwort dafür lautet "blütenblattfarben": jene Bildassoziation eben, unter der die aus dem Bad kommende Hélène ihr glattrasiertes Geschlecht mit der Hand verdeckend zeigt. Dieses "Blütenblatt" ist ein wahrer Blickfang, um den sich bei Vollmann mehrere Eintragungen gruppieren - selbst die blütenblättrig gekräuselten Lippen, mit denen Madame des Laumes bei Marcel Proust ein Musikstück von Chopin mitsummt, wirken in Vollmanns Wahrnehmung schon wie eine Vorwegnahme der "blütenblattähnlich" zerknitterten Schamlippen, etwa in Claude Simons "Das Gras". In der wiederkehrenden Erotik liegt ein thematisches Hauptmuster dieses weitmaschig gestrickten Zitat- und Kommentarnetzes. So durchgehend erotisch haben wir jedenfalls den französischen Autor bisher nicht gelesen.
Fest seht indessen eins: Wer bei so subtiler Lesehilfe die Bedeutung Claude Simons weiterhin ignoriert, muß entweder gute Gründe haben oder ausgesprochen schlechten Willens sein. Dies zumal, als Vollmann im zweiten Teil seines Buchs das Unmögliche wagt und Simons Romane einen nach dem anderen inhaltlich zusammenfaßt. Das gelingt ihm so vorzüglich, daß sich daraus unmittelbar eine Tücke - praktisch die einzige - dieses Buchs ergibt: Manch einer könnte versucht sein, sich mit dieser subjektiven Kartographie zu begnügen und die realen Romanlandschaften gar nicht mehr aufzusuchen. Das wäre ein gravierendes Mißverständnis.
JOSEPH HANIMANN
Rolf Vollmann: "Akazie und Orion". Streifzüge durch die Romanlandschaften Claude Simons. DuMont Verlag, Köln 2004. 265 S., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Erfreut zeigt sich Rezensent Thomas Stölzl über Rolf Vollmanns Buch "Streifzüge durch die Romanlandschaften Claude Simons", das auf "lustvolle Weise" Wege in die Welt eines der letzten noch lebenden Klassikers der literarischen Moderne eröffne. Dazu kombiniere Vollmann verschiedene Zugangsweisen. Neben "mit leichter Hand geschriebenen" Inhaltsangaben zu Simons bisher auf Deutsch veröffentlichten Büchern biete Vollmann ein Alphabet mit Zitaten und Kommentaren zu Leben und Werk des Avantgarde-Autors und Literaturnobelpreisträgers. Dieses Alphabet verzeichne zentrale Themen und Motive des Lebens und Schreibens von Simon wie Naturphänomene, Autorenkollegen und literarische Bezüge, Körperteile, Begriffe, Eigennamen, mythologische Figuren, Gemütsbewegungen, Metaphern und Gegenstände. Die versammelten Zitathäppchen sind nach Ansicht Stölzls "gut geeignet", um sich eine intensivere Beschäftigung mit diesem großen Autor vorzunehmen. Das Resümee des Rezensenten: "Rolf Vollmann führt und verführt in seinen Streifzügen durch das dicht miteinander verflochtene Werk Claude Simons gleichermaßen."
© Perlentaucher Medien GmbH
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