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Die Wechselwirkung von Aktion und Reaktion, das Prinzip, daß eine Handlung zwangsläufig eine andere hervorruft, prägt heute unsere Vorstellung vom Zusammenhang der Welt. Das war keineswegs immer so: Der alte Wortschatz der lateinischen Sprache kannte »passio« als Gegenbegriff der »actio« und eröffnete somit ein gänzlich anderes semantisches wie theoretisches Feld. Jean Starobinski zeichnet den langen Weg der zwei Begriffe von der antiken Naturphilosophie bis zur Gegenwart nach, von den Naturwissenschaften bis zur geisteswissenschaftlichen sowie medizinischen Adaption. Die abenteuerliche…mehr

Produktbeschreibung
Die Wechselwirkung von Aktion und Reaktion, das Prinzip, daß eine Handlung zwangsläufig eine andere hervorruft, prägt heute unsere Vorstellung vom Zusammenhang der Welt. Das war keineswegs immer so: Der alte Wortschatz der lateinischen Sprache kannte »passio« als Gegenbegriff der »actio« und eröffnete somit ein gänzlich anderes semantisches wie theoretisches Feld. Jean Starobinski zeichnet den langen Weg der zwei Begriffe von der antiken Naturphilosophie bis zur Gegenwart nach, von den Naturwissenschaften bis zur geisteswissenschaftlichen sowie medizinischen Adaption. Die abenteuerliche Entwicklung des heute wie selbstverständlich spiegelsymmetrisch begriffenen Wortpaars erweist sich dabei als eine neue, zentrale und immer wieder überraschende Perspektive auf die europäische Ideengeschichte.
Autorenporträt
Jean Starobinski studierte Medizin und Literaturwissenschaft und war bis zu seiner Emeritierung Professor für die Geschichte der französischen Literatur, für Ideengeschichte und Medizingeschichte an der Universität Genf.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.05.2001

Weitläufiger Wortpalast
Jean Starobinski hat soviel mit seiner Nachrichtenübermittlung zu Aktion und Reaktion zu tun, daß es nicht mehr zum Verständnis reicht

Aktion und Reaktion, dieses uns heute so geläufige Begriffspaar, hat eine vergleichsweise kurze Geschichte. Das Lateinische kennt wohl actio und agere, bezeichnet aber deren Gegensatz nicht mit reactio beziehungsweise reagere, sondern mit passio, pati (dulden, leiden). Dem entspricht ein Weltbild, das nur einen einzigen Beweger kennt, welcher seinerseits nicht bewegt werden kann und sich auch selbst nicht bewegt. Erst die Scholastiker bilden das Wort reagere, um dem Leiden ein aktives Aussehen zu geben. Als dann durch die wissenschaftliche Revolution des siebzehnten Jahrhunderts aus der Vorstellung vom natürlichen Agens als eines sich aktualisierenden Vermögens eine meßbare Kraft wird, erweist sich der alte Gegenbegriff der Passion als nicht mehr geeignet; und so wird "Reaktion" zur Bezeichnung für die Aktivität eines Körpers, auf den eine Summe von Kräften einwirkt.

Jean Starobinski schildert diese Entwicklung wie auch die anschließende Karriere des Begriffspaars mit großer Genauigkeit und stupender Gelehrsamkeit - Qualitäten, die schon seine früheren Bücher, insbesondere die großen Monographien über Rousseau und Montesquieu, geprägt haben. Wenn sein jüngstes Werk diese Höhe gleichwohl nicht erreicht, so deshalb, weil der Gegenstand und die dafür gewählte Form in keinem adäquaten Verhältnis stehen. Die Schicksale eines Begriffspaares eignen sich nun einmal mehr für einen Enzyklopädie- oder Lexikonartikel, aber schwerlich für ein ganzes Buch, selbst wenn es sich dabei um ein so wichtiges und interessantes Paar handelt wie dasjenige von Aktion und Reaktion.

Gewiß ist es zunächst ein Vergnügen, von einem so kenntnisreichen Gelehrten durch die verschiedenen Säle seiner Bibliothek geführt zu werden. Aber wenn sich dann ein Saal an den nächsten reiht, wenn auf die Physik die Chemie, die Medizin, die Anthropologie, die Physiologie, die Psychologie, die Psychiatrie, die schöne Literatur und endlich die Politik folgt, wenn sich die Autoren und die von ihnen vertretenen Ismen summieren und multiplizieren, wenn es von den Höhen des Begriffs in die Niederungen der Trivialsemantik geht und zur einfachen Reaktion noch die diversen Ableitungen von Abreaktion über Immunreaktion bis zur Vagusreaktion hinzukommen, wenn jede Hauptabteilung den Blick auf endlose Fluchten von Neben- und Unterabteilungen freigibt und aus der "polyphonen Partitur" allmählich eine Art Rapsong wird, der ins Unendliche so fortgehen könnte - dann wird die Frage unabweisbar, ob dieses Thema denn unbedingt in Buchform traktiert und über dreihundertsechzig Seiten Text gedehnt werden mußte.

Die Form des enzyklopädischen Artikels mit ihrem Zwang zu äußerster Komprimierung dürfte derartigen Sujets angemessener sein. Denn im Ernst: Wer will das alles wissen? Und wer kann sich das alles merken? Es genügt zu wissen, wo man im Bedarfsfall nachlesen kann, und dafür ist die lexikalische Begriffsstenographie allemal besser geeignet als eine ausufernde historische Semantik.

STEFAN BREUER

Jean Starobinski: "Aktion und Reaktion". Leben und Abenteuer eines Begriffspaars. Aus dem Französischen von Horst Günther. Carl Hanser Verlag, München 2001. 437 S., geb., 58,- DM.

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