B.S. Johnsons Protagonisten sind Helden des Alltags: Unwiderstehlich böse und komisch erzählt Albert Angelo die Geschichte eines dicklichen jungen Lehrers, der es leider nicht sehr weit bringen wird.
Eigentlich ist er Architekt, aber niemand interessiert sich für seine Entwürfe. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Aushilfslehrer, aber niemand interessiert sich für seine Ausführungen - nicht zuletzt, weil seine griechischen und türkischen Schüler kaum ein Wort Englisch verstehen. Seit Jahren liebt er Jenny, die ihn längst verlassen hat, wegen eines Krüppels, der sie nötiger braucht.
Albert fühlt sich überflüssig, unglücklich, als Versager. Am Ende des Schuljahres lässt er seine Schüler einen Aufsatz schreiben, in dem sie darlegen sollen, was sie von ihrem Lehrer halten, damit sie so ihre Aggressionen "kanalisieren".
Die Porträts des ungeliebten Lehrers lassen nichts Gutes ahnen.
Nicht nur die Möglichkeit, durch ein "Zukunftsloch" schauen zu können, macht diesen Roman zu einem außergewöhnlichen Leseerlebnis.
Eigentlich ist er Architekt, aber niemand interessiert sich für seine Entwürfe. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Aushilfslehrer, aber niemand interessiert sich für seine Ausführungen - nicht zuletzt, weil seine griechischen und türkischen Schüler kaum ein Wort Englisch verstehen. Seit Jahren liebt er Jenny, die ihn längst verlassen hat, wegen eines Krüppels, der sie nötiger braucht.
Albert fühlt sich überflüssig, unglücklich, als Versager. Am Ende des Schuljahres lässt er seine Schüler einen Aufsatz schreiben, in dem sie darlegen sollen, was sie von ihrem Lehrer halten, damit sie so ihre Aggressionen "kanalisieren".
Die Porträts des ungeliebten Lehrers lassen nichts Gutes ahnen.
Nicht nur die Möglichkeit, durch ein "Zukunftsloch" schauen zu können, macht diesen Roman zu einem außergewöhnlichen Leseerlebnis.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.09.2003Das Aushilfsleben des Aushilfslehrers
Große Entdeckung: B. S. Johnsons „Albert Angelo”, ein Romandebüt von 1964
Experimentelle Romane sind aus theoretischen Erwägungen hoch angesehen, aus praktischen werden sie in der Regel zutiefst gemieden. Wer will sich schon gerne, wenn auch prestigiös, quälen? Doch die Ehrenrettung der in hedonistischen Zeiten in Misskredit geratenen Gattung ist nahe. Der Argon Verlag hat eine Werkausgabe von B. S. Johnson begonnen. Der englische Exzentriker und würdige Erbe von Laurence Sterne zeigt in seinen Romanen, wie vergnüglich Erzählkonventionen gebrochen werden können. In „Christie Malrys doppelte Buchführung” wird zu diesem ebenso lauteren wie avantgardistischen Zwecke die Herstellung eines Molotow-Cocktails erläutert, eine Bombe gelegt und das Trinkwasser Londons vergiftet. Dem fallen 20 000 Londoner zum Opfer. Ästhetische Revolten fallen zuweilen erstaunlich blutrünstig aus.
Ebenso beherzt geht der nun erschienene Roman „Albert Angelo” zu Werk. Schon der christlich anmutende Titel lässt das Dasein der Hauptperson hienieden als eine lässliche Episode erscheinen. Tatsächlich ist gleich auf den ersten Seiten vom Tod die Rede, und als am Ende eine Gruppe von Schülern ihrem Aushilfslehrer Albert Angelo das Leben aus dem Leib prügelt, geschieht das so beiläufig brutal wie in Anthony Burgess' „Clockwork Orange”.
Der 28-Jährige Albert hatte nicht viel zu verlieren. Er fristete seinen Unterhalt an wechselnden Schulen und träumte von einem Leben als Architekt. Außerdem hielt er einer Jeannie die Treue, die ihm vor viereinhalb Jahren einen Invaliden vorgezogen hatte. Sein einziger Freund war ebenfalls sitzen gelassen worden, und seine Schulstunden bestanden aus Ad-hoc-Predigten, Kopfnüssen und ernsteren pädagogischen Prügeleinlagen. Alles in allem war es das Aushilfsleben eines Aushilfslehrers – und nebenbei eine bissige Satire auf eine Gesellschaft, deren Bildungsanstalten die Jugend planmäßig verdummen.
B. S. Johnson erzählt von dieser Tristesse mit den tollsten Bocksprüngen. Sein Roman besteht aus traditionell erzählten Passagen, Drehbuchszenen voll vollendeter Trivialität, einem vor Kitsch triefenden Gedicht, einem Zitat aus dem 16. Jahrhundert, dem auf zwei Seiten abgedruckten Werbeblättchen einer Wahrsagerin sowie unkorrigierten Schüleraufsätzen über das Thema „Was ich von Mr. Albert halte”, in denen „Schweinebacke” noch eine der zärtlicheren Wendungen ist. Johnson rahmt die von Albert vermerkten Schülercharakteristika mit dreieckigen typographischen Zeichen ein, und eine Schulstunde ist in zwei Spalten zu verfolgen: links der Lehrervortrag und die Schüleräußerungen, rechts Alberts gleichzeitige, wenig schultaugliche Gedanken. Der Text ist, auch im materiellen Sinn, durchlässig: Auf sechs Seiten ist ein „Zukunftsloch” ausgestanzt. Es erlaubt einen Durchblick auf jenes unwürdige Ende, das Albert noch bevorsteht. Auf allen Ebenen ist die Fiktion durchlöchert.
Auf allen? Die letzte Illusion räumt der Erzähler mit dem genervten Ausruf „Ach, Scheiß auf die ganzen Lügen!” beiseite. Die ganze Geschichte um Albert sei eine bloße Erfindung: Jeanny heiße eigentlich Muriel, und überhaupt habe sich in seinem Leben dieses und jenes ganz anders zugetragen. „Auflösung” heißt dieser vierte Teil in der selbstironischen Gliederung nach „Prolog”, „Exposition” und „Durchführung”. Aber weil er nur Unordnung hinterlässt, räumt Johnson am Ende die Erzählerwerkbank auf, indem er Albert in der abschließenden „Koda” kurz und schmucklos übers Messer springen lässt.
Mit seinem Debüt „Albert Angelo” trat B. S. Johnson im Jahre 1964 gegen den vorherrschenden, immer noch den großen Erzählern des 19. Jahrhunderts verpflichteten Realismus der britischen Literatur an. Der 1933 geborene Sohn eines Lagerarbeiters und einer Barfrau hatte neben der Arbeit als Büroangestellter Englisch studiert und dann als Dozent für englische Literatur am King's College unterrichtet. Er redigierte literarische Zeitschriften, arbeitete für Radio, Fernsehen, Film und veröffentlichte insgesamt fünf Romane, zwei Erzählbände, zwei Theaterstücke sowie Lyrikbände. Legendär waren seine Kneipenausflüge, und in der literarischen Szene besaß der Bewunderer von Samuel Beckett einen eher rauen Ruf.
Nach seinem Freitod 1971 wurde Johnson vergessen – und wird nun hoffentlich wiederentdeckt als der Protagonist einer Moderne, die nicht nur Kunst und Leben, sondern auch Rüpelei und Revolution zusammenführt.
JÖRG PLATH
B. S. JOHNSON: Albert Angelo. Roman. Mit einem Nachwort von Cordelia Borchardt. Aus dem Englischen von Regina Rawlinson. Argon Verlag, Berlin 2003. 230 Seiten, 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Große Entdeckung: B. S. Johnsons „Albert Angelo”, ein Romandebüt von 1964
Experimentelle Romane sind aus theoretischen Erwägungen hoch angesehen, aus praktischen werden sie in der Regel zutiefst gemieden. Wer will sich schon gerne, wenn auch prestigiös, quälen? Doch die Ehrenrettung der in hedonistischen Zeiten in Misskredit geratenen Gattung ist nahe. Der Argon Verlag hat eine Werkausgabe von B. S. Johnson begonnen. Der englische Exzentriker und würdige Erbe von Laurence Sterne zeigt in seinen Romanen, wie vergnüglich Erzählkonventionen gebrochen werden können. In „Christie Malrys doppelte Buchführung” wird zu diesem ebenso lauteren wie avantgardistischen Zwecke die Herstellung eines Molotow-Cocktails erläutert, eine Bombe gelegt und das Trinkwasser Londons vergiftet. Dem fallen 20 000 Londoner zum Opfer. Ästhetische Revolten fallen zuweilen erstaunlich blutrünstig aus.
Ebenso beherzt geht der nun erschienene Roman „Albert Angelo” zu Werk. Schon der christlich anmutende Titel lässt das Dasein der Hauptperson hienieden als eine lässliche Episode erscheinen. Tatsächlich ist gleich auf den ersten Seiten vom Tod die Rede, und als am Ende eine Gruppe von Schülern ihrem Aushilfslehrer Albert Angelo das Leben aus dem Leib prügelt, geschieht das so beiläufig brutal wie in Anthony Burgess' „Clockwork Orange”.
Der 28-Jährige Albert hatte nicht viel zu verlieren. Er fristete seinen Unterhalt an wechselnden Schulen und träumte von einem Leben als Architekt. Außerdem hielt er einer Jeannie die Treue, die ihm vor viereinhalb Jahren einen Invaliden vorgezogen hatte. Sein einziger Freund war ebenfalls sitzen gelassen worden, und seine Schulstunden bestanden aus Ad-hoc-Predigten, Kopfnüssen und ernsteren pädagogischen Prügeleinlagen. Alles in allem war es das Aushilfsleben eines Aushilfslehrers – und nebenbei eine bissige Satire auf eine Gesellschaft, deren Bildungsanstalten die Jugend planmäßig verdummen.
B. S. Johnson erzählt von dieser Tristesse mit den tollsten Bocksprüngen. Sein Roman besteht aus traditionell erzählten Passagen, Drehbuchszenen voll vollendeter Trivialität, einem vor Kitsch triefenden Gedicht, einem Zitat aus dem 16. Jahrhundert, dem auf zwei Seiten abgedruckten Werbeblättchen einer Wahrsagerin sowie unkorrigierten Schüleraufsätzen über das Thema „Was ich von Mr. Albert halte”, in denen „Schweinebacke” noch eine der zärtlicheren Wendungen ist. Johnson rahmt die von Albert vermerkten Schülercharakteristika mit dreieckigen typographischen Zeichen ein, und eine Schulstunde ist in zwei Spalten zu verfolgen: links der Lehrervortrag und die Schüleräußerungen, rechts Alberts gleichzeitige, wenig schultaugliche Gedanken. Der Text ist, auch im materiellen Sinn, durchlässig: Auf sechs Seiten ist ein „Zukunftsloch” ausgestanzt. Es erlaubt einen Durchblick auf jenes unwürdige Ende, das Albert noch bevorsteht. Auf allen Ebenen ist die Fiktion durchlöchert.
Auf allen? Die letzte Illusion räumt der Erzähler mit dem genervten Ausruf „Ach, Scheiß auf die ganzen Lügen!” beiseite. Die ganze Geschichte um Albert sei eine bloße Erfindung: Jeanny heiße eigentlich Muriel, und überhaupt habe sich in seinem Leben dieses und jenes ganz anders zugetragen. „Auflösung” heißt dieser vierte Teil in der selbstironischen Gliederung nach „Prolog”, „Exposition” und „Durchführung”. Aber weil er nur Unordnung hinterlässt, räumt Johnson am Ende die Erzählerwerkbank auf, indem er Albert in der abschließenden „Koda” kurz und schmucklos übers Messer springen lässt.
Mit seinem Debüt „Albert Angelo” trat B. S. Johnson im Jahre 1964 gegen den vorherrschenden, immer noch den großen Erzählern des 19. Jahrhunderts verpflichteten Realismus der britischen Literatur an. Der 1933 geborene Sohn eines Lagerarbeiters und einer Barfrau hatte neben der Arbeit als Büroangestellter Englisch studiert und dann als Dozent für englische Literatur am King's College unterrichtet. Er redigierte literarische Zeitschriften, arbeitete für Radio, Fernsehen, Film und veröffentlichte insgesamt fünf Romane, zwei Erzählbände, zwei Theaterstücke sowie Lyrikbände. Legendär waren seine Kneipenausflüge, und in der literarischen Szene besaß der Bewunderer von Samuel Beckett einen eher rauen Ruf.
Nach seinem Freitod 1971 wurde Johnson vergessen – und wird nun hoffentlich wiederentdeckt als der Protagonist einer Moderne, die nicht nur Kunst und Leben, sondern auch Rüpelei und Revolution zusammenführt.
JÖRG PLATH
B. S. JOHNSON: Albert Angelo. Roman. Mit einem Nachwort von Cordelia Borchardt. Aus dem Englischen von Regina Rawlinson. Argon Verlag, Berlin 2003. 230 Seiten, 18 Euro.
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"Dringendst empfohlen." (Die Welt)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.05.2003Buchhaltung im Luftschloß
Schiffbruch aller Gewißheiten: Zwei Romane von B. S. Johnson
Ein Messerschnitt sagt mehr als viele Worte. Die Seiten dieses Romans, die buchstäblich zerschnitten sind, sprechen daher eine klare Sprache. Durch die entstandene Öffnung richten sie unseren Blick bereits geraume Zeit auf das tödliche Ende der Geschichte, das - wie auch anders? - durch einen Messerstich erfolgen wird. Gespannte Leser können sich das Vorblättern zur letzten Seite also sparen. Doch bei B. S. Johnson entwickelt unsere Leselust sich ohnehin weniger durch Spannung auf den Ausgang als auf den Gang des Erzählens, denn die pointen- wie sinnreichen Erfindungskünste dieses Autors machen stets sein Vorgehen selbst zum Gegenstand und finden überraschend neue Lösungen für die ältesten Probleme des Romans.
Wie beispielsweise können Schrift und Druckbild je eine wahrhaftige Darstellung vom Sterben geben? Der gewaltsame Tod, der uns in "Albert Angelo" entgegenblickt, gewinnt seine unheimliche Präsenz und Anschaulichkeit eben daraus, daß mit dem Schnitt durch die Buchseiten etwas Selbstverständliches zerstört wird. Das Mittel ist so einprägsam wie simpel und nur mit der Duschszene aus Hitchcocks "Psycho" noch vergleichbar, wenn sie die tödliche Gewalt der Messerstiche in Filmschnitte verschiebt.
Manche literarischen Geheimtips können gar nicht oft genug verbreitet werden und sind doch immer wieder zu entdecken. Dazu zählt der englische Erzähler, Lyriker, Dramatiker, Filmemacher, Fußballreporter und Kritiker Bryan Stanley Johnson (1933 bis 1973). Zu Lebzeiten stets ein Einzelgänger, der selbst in einem Land, das seine Exzentriker feiert, kaum Anerkennung fand, ist er mittlerweile Zentrum einer wachsenden, verschworenen Leserschar. Anders nämlich als viele klassische Avantgardisten, die ihre Aufgabe mit dem feierlichen Ernst einer historischen Mission verfolgen, verbindet er alle programmatische Neuerung mit anarchischem Witz und so grimmer Komik, daß wir bei der Lektüre den Theoriewert seiner Werke getrost auch mal vergessen können.
Zu einer Zeit, da Roland Barthes den Tod des Autors ausrief, wird bei Johnson die Geburt des Lesers lustvoll eingeleitet. Die fünf Romane, mit denen er in den sechziger Jahren daranging, Medien und Möglichkeiten unserer Wirklichkeitserfassung radikal zu erkunden und experimentell zu erweitern, sind daher längst begehrte Sammlerstücke. Eine englische Werkausgabe ist weiterhin nicht in Sicht. Zum siebzigsten Geburts- und dreißigsten Todestag in diesem Jahr soll jedoch endlich die Biographie von Jonathan Coe erscheinen, die in der Londoner Verlagswelt hoffentlich für Umdenken sorgt.
Um so rühmlicher ist das Engagement des Argon-Verlags, der in diesem Frühjahr bereits den zweiten Band einer neuen deutschen Werkausgabe vorlegt. "Albert Angelo" von 1964 ist ein Bildungsroman, doch einer aus Verlegenheit und schleichender Verzweiflung. Eigentlich ist der Titelheld nämlich Architekt, ein "Schöpfer", wie er sagt, und "kein Überlieferer"; gleichwohl muß er sein Leben als Aushilfslehrer fristen. Während er sich daher wochentags in Londoner Schulen redlich müht, pubertierende Jugendliche für die Umbrüche der Erdgeschichte zu begeistern, plant er sonntags Prachtbauten und entwirft kühne Konstruktionen, auch wenn davon schließlich nur zwei, drei Striche auf dem Zeichenblatt zu sehen sind. Wer Großes will, kann sich mit Kleinigkeiten nicht aufhalten: "Ich hasse Leute, die nur in Teilen leben. Ich bin ein Allesodernichtser. Was für gewöhnlich auf nichts hinausläuft. Egal." Und wenn die Frustration doch einmal überhandnimmt, weiß er sich durch Ausgleichshandlungen zu erleichtern, beispielsweise indem er seinem Wellensittich ordinäre Ausdrücke beibringt.
Diesen liebenswerten Luftschloßbaumeister durch die Abenteuer seines Alltags zu begleiten ist so beklemmend wie beglückend. Dabei sind es weniger dramatische Ereignisse oder persönliche Entwicklungen - ohnehin nur noch in der Erinnerung an verlorene Glücksmomente greifbar -, die uns fesseln, als vielmehr die Wirren der Gewöhnlichkeit, in die Albert sich zusehends verstrickt. Ob er der Schulklasse das Theodizee-Problem oder das Eruptivgestein erklärt, ob er über den Konjunktiv I oder die Frage, wie der Henkel an die Tasse kam, sinniert oder ob er sich in bernhardschen Bezichtigungsarien über Opernsänger und die Untreue seiner Ex-Freundin erregt, stets verschafft ihm der Roman komische Distanz und zugleich unsere Anteilnahme. Dazu bietet der Autor seinen gesamten Einfallsreichtum auf und setzt die einfache Geschichte virtuos aus einer Fülle collagierter Textsorten zusammen. Vor allem die zweispaltig gesetzten Simultanszenen, eine Art erzählerischer split screen, verleihen dem ständigen Gegeneinander von Sehnsuchts- und Alltagswelt, von Selbst- und Fremdwahrnehmung, von innerer und äußerer Rede eine bittere Prägnanz, die in der Literatur ihresgleichen sucht.
Doch auch für ganz schlichte Wetterbeobachtungen findet dieser Autor eine wunderbar klare Sprache. Die Sonne, heißt es einmal, "glänzte silbern auf den nassen Ziegelschichten der Schornsteine und tauchte die Dachgauben in geheimnisvolle Schatten. Draußen wurde das Muster eines Spatzenflugs durch die Spiegelung auf einem polierten Autodach zersprengt." Wie alle Werke Johnsons autobiographisch grundiert, protokolliert auch dieser Roman sehr genau die Welt, aus der er stammt. Die alte Stadtlandschaft Londons spiegelt und bricht sich hier in vielen Einzelheiten wie in einem Kaleidoskop, das die abseitigen und unsanierten Ecken einer Großstadt zeigt, die sich der Modernisierung mit Beharrlichkeit verweigert. Gleiches gilt für "Christy Malrys doppelte Buchführung" von 1973, Johnsons letzten Roman, der bereits im vorigen Jahr auf deutsch erschienen ist.
Im Tonfall düsterer und in der Sache härter, erzählt er die Geschichte eines Londoner Bankangestellten, der aus schierem Überdruß zum Terroristen wird. Christy Malry ist ein einfacher Mensch, ein kleiner Buchhalter und grauer Stadtbewohner, der weder über großes Geld noch besonderes Talent verfügt. Eines Tages jedoch hat er die tolle Idee, alle Ärgernisse und Beschränkungen, die er fortwährend erleiden muß, anderen heimzuzahlen. Die jeweilige Bilanz aus empfangenen und zugefügten Belästigungen wird er fortan nach den bewährten Regeln der doppelten Buchführung auflisten und ausgleichen. Wenn daher Schlimmes zu ertragen ist ("Sozialismus bekommt keine Chance"), muß zur gerechten Abrechnung auch schon mal das Trinkwasser von West-London mit Zyanid vergiftet werden. Dieses mörderische Spiel gegen die unerträgliche Stumpfsinnigkeit des Seins treibt der Roman mit irrer Konsequenz zum Ende und präsentiert zwischendrin immer korrekt die Bilanzierung. Doch die aberwitzige Logik wie auch das Verfahren seines Helden sind ganz so alt wie die Form des bürgerlichen Romans selbst. Schon Robinson Crusoe verschaffte sich auf der Insel dadurch Trost, daß er die Vor- und Nachteile seiner Lage sorgsam gegeneinander aufrechnete.
Auch nach dem Schiffbruch aller bürgerlichen Gewißheiten, so zeigt Johnson, laufen unsere überkommenen Ordnungsmuster munter weiter, und sei es im Dienst der puren Anarchie. In "Albert Angelo" bemüht er ausdrücklich das Muster der klassischen Plot-Dramaturgie, um die vielstimmigen Versatzstücke vorgeblich zu ordnen. Allerdings wird die entscheidende Kategorie, die "Auflösung", dabei im Wortsinn eingesetzt. Der Erzähltext löst sich auf, und der Roman eröffnet den kritischen Diskurs über sich selbst: "Angesichts der ungeheuren Detailfülle, Vitalität und Größe dieser Komplexität, des Lebens, wird ein Schriftsteller sehr in Versuchung geführt, sein eigenes Muster zu prägen, ein willkürliches Muster, das in die Irre führen muß, das gar nicht anders kann, als in die Irre zu führen; es sei denn, er erfindet etwas, was ganz einfach bedeutet, er lügt." Dem können wir kaum widersprechen und beharren doch darauf, daß wir uns von niemandem lieber in die Irre führen lassen als von B. S. Johnson, diesem radikalen Lügenmeister, der die Detailfülle des Lebens bündelt, ohne sie zu bändigen.
B. S. Johnson: "Albert Angelo". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Regina Rawlinson. Mit einem Nachwort von Cordelia Borchardt. Argon, Berlin 2003. 232 S., geb., 18,- [Euro].
B. S. Johnson: "Christy Malrys doppelte Buchführung". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Michael Walter. Mit einem Vorwort von Georg M. Oswald. Argon, Berlin 2002. 223 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schiffbruch aller Gewißheiten: Zwei Romane von B. S. Johnson
Ein Messerschnitt sagt mehr als viele Worte. Die Seiten dieses Romans, die buchstäblich zerschnitten sind, sprechen daher eine klare Sprache. Durch die entstandene Öffnung richten sie unseren Blick bereits geraume Zeit auf das tödliche Ende der Geschichte, das - wie auch anders? - durch einen Messerstich erfolgen wird. Gespannte Leser können sich das Vorblättern zur letzten Seite also sparen. Doch bei B. S. Johnson entwickelt unsere Leselust sich ohnehin weniger durch Spannung auf den Ausgang als auf den Gang des Erzählens, denn die pointen- wie sinnreichen Erfindungskünste dieses Autors machen stets sein Vorgehen selbst zum Gegenstand und finden überraschend neue Lösungen für die ältesten Probleme des Romans.
Wie beispielsweise können Schrift und Druckbild je eine wahrhaftige Darstellung vom Sterben geben? Der gewaltsame Tod, der uns in "Albert Angelo" entgegenblickt, gewinnt seine unheimliche Präsenz und Anschaulichkeit eben daraus, daß mit dem Schnitt durch die Buchseiten etwas Selbstverständliches zerstört wird. Das Mittel ist so einprägsam wie simpel und nur mit der Duschszene aus Hitchcocks "Psycho" noch vergleichbar, wenn sie die tödliche Gewalt der Messerstiche in Filmschnitte verschiebt.
Manche literarischen Geheimtips können gar nicht oft genug verbreitet werden und sind doch immer wieder zu entdecken. Dazu zählt der englische Erzähler, Lyriker, Dramatiker, Filmemacher, Fußballreporter und Kritiker Bryan Stanley Johnson (1933 bis 1973). Zu Lebzeiten stets ein Einzelgänger, der selbst in einem Land, das seine Exzentriker feiert, kaum Anerkennung fand, ist er mittlerweile Zentrum einer wachsenden, verschworenen Leserschar. Anders nämlich als viele klassische Avantgardisten, die ihre Aufgabe mit dem feierlichen Ernst einer historischen Mission verfolgen, verbindet er alle programmatische Neuerung mit anarchischem Witz und so grimmer Komik, daß wir bei der Lektüre den Theoriewert seiner Werke getrost auch mal vergessen können.
Zu einer Zeit, da Roland Barthes den Tod des Autors ausrief, wird bei Johnson die Geburt des Lesers lustvoll eingeleitet. Die fünf Romane, mit denen er in den sechziger Jahren daranging, Medien und Möglichkeiten unserer Wirklichkeitserfassung radikal zu erkunden und experimentell zu erweitern, sind daher längst begehrte Sammlerstücke. Eine englische Werkausgabe ist weiterhin nicht in Sicht. Zum siebzigsten Geburts- und dreißigsten Todestag in diesem Jahr soll jedoch endlich die Biographie von Jonathan Coe erscheinen, die in der Londoner Verlagswelt hoffentlich für Umdenken sorgt.
Um so rühmlicher ist das Engagement des Argon-Verlags, der in diesem Frühjahr bereits den zweiten Band einer neuen deutschen Werkausgabe vorlegt. "Albert Angelo" von 1964 ist ein Bildungsroman, doch einer aus Verlegenheit und schleichender Verzweiflung. Eigentlich ist der Titelheld nämlich Architekt, ein "Schöpfer", wie er sagt, und "kein Überlieferer"; gleichwohl muß er sein Leben als Aushilfslehrer fristen. Während er sich daher wochentags in Londoner Schulen redlich müht, pubertierende Jugendliche für die Umbrüche der Erdgeschichte zu begeistern, plant er sonntags Prachtbauten und entwirft kühne Konstruktionen, auch wenn davon schließlich nur zwei, drei Striche auf dem Zeichenblatt zu sehen sind. Wer Großes will, kann sich mit Kleinigkeiten nicht aufhalten: "Ich hasse Leute, die nur in Teilen leben. Ich bin ein Allesodernichtser. Was für gewöhnlich auf nichts hinausläuft. Egal." Und wenn die Frustration doch einmal überhandnimmt, weiß er sich durch Ausgleichshandlungen zu erleichtern, beispielsweise indem er seinem Wellensittich ordinäre Ausdrücke beibringt.
Diesen liebenswerten Luftschloßbaumeister durch die Abenteuer seines Alltags zu begleiten ist so beklemmend wie beglückend. Dabei sind es weniger dramatische Ereignisse oder persönliche Entwicklungen - ohnehin nur noch in der Erinnerung an verlorene Glücksmomente greifbar -, die uns fesseln, als vielmehr die Wirren der Gewöhnlichkeit, in die Albert sich zusehends verstrickt. Ob er der Schulklasse das Theodizee-Problem oder das Eruptivgestein erklärt, ob er über den Konjunktiv I oder die Frage, wie der Henkel an die Tasse kam, sinniert oder ob er sich in bernhardschen Bezichtigungsarien über Opernsänger und die Untreue seiner Ex-Freundin erregt, stets verschafft ihm der Roman komische Distanz und zugleich unsere Anteilnahme. Dazu bietet der Autor seinen gesamten Einfallsreichtum auf und setzt die einfache Geschichte virtuos aus einer Fülle collagierter Textsorten zusammen. Vor allem die zweispaltig gesetzten Simultanszenen, eine Art erzählerischer split screen, verleihen dem ständigen Gegeneinander von Sehnsuchts- und Alltagswelt, von Selbst- und Fremdwahrnehmung, von innerer und äußerer Rede eine bittere Prägnanz, die in der Literatur ihresgleichen sucht.
Doch auch für ganz schlichte Wetterbeobachtungen findet dieser Autor eine wunderbar klare Sprache. Die Sonne, heißt es einmal, "glänzte silbern auf den nassen Ziegelschichten der Schornsteine und tauchte die Dachgauben in geheimnisvolle Schatten. Draußen wurde das Muster eines Spatzenflugs durch die Spiegelung auf einem polierten Autodach zersprengt." Wie alle Werke Johnsons autobiographisch grundiert, protokolliert auch dieser Roman sehr genau die Welt, aus der er stammt. Die alte Stadtlandschaft Londons spiegelt und bricht sich hier in vielen Einzelheiten wie in einem Kaleidoskop, das die abseitigen und unsanierten Ecken einer Großstadt zeigt, die sich der Modernisierung mit Beharrlichkeit verweigert. Gleiches gilt für "Christy Malrys doppelte Buchführung" von 1973, Johnsons letzten Roman, der bereits im vorigen Jahr auf deutsch erschienen ist.
Im Tonfall düsterer und in der Sache härter, erzählt er die Geschichte eines Londoner Bankangestellten, der aus schierem Überdruß zum Terroristen wird. Christy Malry ist ein einfacher Mensch, ein kleiner Buchhalter und grauer Stadtbewohner, der weder über großes Geld noch besonderes Talent verfügt. Eines Tages jedoch hat er die tolle Idee, alle Ärgernisse und Beschränkungen, die er fortwährend erleiden muß, anderen heimzuzahlen. Die jeweilige Bilanz aus empfangenen und zugefügten Belästigungen wird er fortan nach den bewährten Regeln der doppelten Buchführung auflisten und ausgleichen. Wenn daher Schlimmes zu ertragen ist ("Sozialismus bekommt keine Chance"), muß zur gerechten Abrechnung auch schon mal das Trinkwasser von West-London mit Zyanid vergiftet werden. Dieses mörderische Spiel gegen die unerträgliche Stumpfsinnigkeit des Seins treibt der Roman mit irrer Konsequenz zum Ende und präsentiert zwischendrin immer korrekt die Bilanzierung. Doch die aberwitzige Logik wie auch das Verfahren seines Helden sind ganz so alt wie die Form des bürgerlichen Romans selbst. Schon Robinson Crusoe verschaffte sich auf der Insel dadurch Trost, daß er die Vor- und Nachteile seiner Lage sorgsam gegeneinander aufrechnete.
Auch nach dem Schiffbruch aller bürgerlichen Gewißheiten, so zeigt Johnson, laufen unsere überkommenen Ordnungsmuster munter weiter, und sei es im Dienst der puren Anarchie. In "Albert Angelo" bemüht er ausdrücklich das Muster der klassischen Plot-Dramaturgie, um die vielstimmigen Versatzstücke vorgeblich zu ordnen. Allerdings wird die entscheidende Kategorie, die "Auflösung", dabei im Wortsinn eingesetzt. Der Erzähltext löst sich auf, und der Roman eröffnet den kritischen Diskurs über sich selbst: "Angesichts der ungeheuren Detailfülle, Vitalität und Größe dieser Komplexität, des Lebens, wird ein Schriftsteller sehr in Versuchung geführt, sein eigenes Muster zu prägen, ein willkürliches Muster, das in die Irre führen muß, das gar nicht anders kann, als in die Irre zu führen; es sei denn, er erfindet etwas, was ganz einfach bedeutet, er lügt." Dem können wir kaum widersprechen und beharren doch darauf, daß wir uns von niemandem lieber in die Irre führen lassen als von B. S. Johnson, diesem radikalen Lügenmeister, der die Detailfülle des Lebens bündelt, ohne sie zu bändigen.
B. S. Johnson: "Albert Angelo". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Regina Rawlinson. Mit einem Nachwort von Cordelia Borchardt. Argon, Berlin 2003. 232 S., geb., 18,- [Euro].
B. S. Johnson: "Christy Malrys doppelte Buchführung". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Michael Walter. Mit einem Vorwort von Georg M. Oswald. Argon, Berlin 2002. 223 S., geb., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Angela Schader ist hocherfreut, dass der Roman des britischen Autors, der bereits 1964 publiziert wurde, jetzt in deutscher Übersetzung erschienen ist. Da der Autor hierzulande "wenig bekannt" sei, lobt sie zunächst das Nachwort als informativ und auch die Übersetzung von Regina Rawlinson gefällt ihr. Dabei verblüfft es die Rezensentin sehr, dass der Roman vor fast 40 Jahren geschrieben wurde, da sie meint, er ließe sich "problemlos in die Jetztzeit" übertragen. Nicht nur die Themen scheinen ihr sehr aktuell - der Protagonist ist Hilfslehrer in London, der seiner unruhigen Klasse ohnmächtig gegenüber steht - auch die Konstruktion des Romans findet sie in seiner Experimentierfreudigkeit sehr modern. Schader beschreibt den Aufbau des Buches als nach "musikalisch-literarischen und grammatischen Prinzipien" konstruiert, wobei sie darauf hinweist, dass "kontinuierliches Erzählformen" mit anderen Texten wie Schulaufsätzen, Kolumnen oder "theatermäßigen" Dialogen gemischt werden. Lediglich, dass Johnson die Handlung seines Buches nicht "graduell auslaufen", sondern mit autobiografischen Erklärungen enden lasse, findet Schader etwas enttäuschend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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