Das Ende einer Legende: Speer und die Lüge von der aufrichtigen Reue
Seit 1931 NSDAP-Mitglied und bald ein Vertrauter Hitlers, wurde Albert Speer rasch zum Architekten des Rassenstaates. Im Krieg engagierte er sich als Rüstungsminister unermüdlich für den totalen Kampf und die Vernichtungsmaschinerie. Gleichwohl behauptete er nach Kriegsende, stets distanziert, ja eigentlich unpolitisch und gar kein richtiger Nazi gewesen zu sein. Magnus Brechtken zeigt, wie es Speer gelang, diese Legende zu verbreiten, und wie Millionen Deutsche sie begierig aufnahmen, um sich selbst zu entschulden.
Brechtken, renommierter Zeithistoriker und stellvertretender Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, beschreibt nicht nur, wie markant Speers Stilisierung als angeblich unpolitischer Techniker den historischen Tatsachen widerspricht. Auf der Basis jahrelanger Recherchen und vieler bislang unbekannter Quellen schildert er zugleich, wie Millionen Deutsche Speers Fabeln mit Eifer übernahmen, um sich die eigene Vergangenheit schönzureden, und wie sehr Intellektuelle, namentlich Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler, diese Legendenbildung unterstützten. Die verblüffende Biographie eines umtriebigen Manipulators - und zugleich ein Lehrstück für den deutschen Umgang mit der eigenen Geschichte.
Seit 1931 NSDAP-Mitglied und bald ein Vertrauter Hitlers, wurde Albert Speer rasch zum Architekten des Rassenstaates. Im Krieg engagierte er sich als Rüstungsminister unermüdlich für den totalen Kampf und die Vernichtungsmaschinerie. Gleichwohl behauptete er nach Kriegsende, stets distanziert, ja eigentlich unpolitisch und gar kein richtiger Nazi gewesen zu sein. Magnus Brechtken zeigt, wie es Speer gelang, diese Legende zu verbreiten, und wie Millionen Deutsche sie begierig aufnahmen, um sich selbst zu entschulden.
Brechtken, renommierter Zeithistoriker und stellvertretender Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, beschreibt nicht nur, wie markant Speers Stilisierung als angeblich unpolitischer Techniker den historischen Tatsachen widerspricht. Auf der Basis jahrelanger Recherchen und vieler bislang unbekannter Quellen schildert er zugleich, wie Millionen Deutsche Speers Fabeln mit Eifer übernahmen, um sich die eigene Vergangenheit schönzureden, und wie sehr Intellektuelle, namentlich Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler, diese Legendenbildung unterstützten. Die verblüffende Biographie eines umtriebigen Manipulators - und zugleich ein Lehrstück für den deutschen Umgang mit der eigenen Geschichte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.06.2017Dem Vernehmen nach redigiert
Wie konnte Albert Speer zum Hausautor des Bildungsbürgertums werden? Zwei Bücher erhellen seine Zusammenarbeit mit Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler: eine Geschichte fataler Distinktionsgewinne
Der Probeleser gab Entwarnung. Er könne nicht finden, "dass das Bild Hitlers zu positiv gezeichnet wird", schrieb Albert Speer am 25. April 1972 an Joachim Fest. Einem der größten Sachbucherfolge der Nachkriegszeit stand nichts mehr im Wege. "Hitler. Eine Biographie" erschien ein Jahr später im Propyläen-Verlag, der damals zum Springer-Konzern gehörte und von Wolf Jobst Siedler geleitet wurde. Im gleichen Jahr 1973 trat Fest in den Kreis der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein, mit Zuständigkeit für das Feuilleton. Übertroffen wurde der Erfolg der von Speer gegengelesenen Hitler-Biographie Fests nur von den beiden ebenfalls von Siedler verlegten Büchern desselben Gespanns, bei deren Produktion die Rollen andersherum verteilt waren: Der Name von Albert Speer stand auf dem Umschlag der 1969 erschienenen "Erinnerungen" und der 1975 veröffentlichten "Spandauer Tagebücher", die Gestalt der Texte verdankte sich einer Gemeinschaftsarbeit, deren Intensität mit dem offiziellen Status der Bücher nicht vereinbar war.
Denn es sollte sich ja um autobiographische Dokumente handeln, verfasst in moralischer und zeitweise auch physischer Isolation von einem Mann, der als verurteilter Kriegsverbrecher zwanzig Jahre lang von der Welt abgeschnitten war und davor einige Jahre in der nächsten Nähe jenes deutschen Staatschefs verbracht hatte, auf dessen Schuldkonto Millionen Ermordete und Abermillionen Kriegstote gingen. Bei den Gedanken und Erinnerungen des Architekten, der im Krieg zum Rüstungsminister aufgestiegen war, kam alles auf die Autorität des Autors an. Die erste Person durfte hier keine Fiktion sein.
Fest arbeitete für Speer nicht als "Ghostwriter", wie Frank Schirrmacher, Fests Nachfolger als Herausgeber, 2004 mit dem für ihn typischen Sinn für Überspitzungen schrieb, jedenfalls nicht im Sinne des verlagstechnischen Begriffs. Formal betrachtet ein Außenlektor, beauftragt nicht von Speer, sondern vom Verleger Siedler, widmete sich Fest den Manuskripten Speers mit einer Gründlichkeit, die man im heutigen Literaturbetrieb vielleicht nur von einem Agenten erwartet - der weiß, dass ein falsches Wort im Selbstenthüllungsbuch den Ruf des Klienten und den Verkauf ruinieren wird.
Siedler prägte für Fests Tätigkeit den Begriff des "vernehmenden Redakteurs". In der aparten Formulierung kristallisiert sich die Hybris des Unternehmens, für das Fest von Siedler gewonnen wurde. Der "Redakteur" und der Verleger, der sich mit Eifer an den Gesprächen auf Sylt und an ähnlich schönen Orten beteiligte, setzten Befragungen fort, denen sich Speer unterzogen hatte, seit er 1945 mit den anderen Titularministern des von Hitler eingesetzten Reichsverwesers Dönitz von den Amerikanern festgenommen worden war. Insoweit ist Siedlers Begriff für Fest durchaus richtig. Wie richtig, geht jetzt aus der Biographie Speers hervor, die Magnus Brechtken, der stellvertretende Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, in dem Verlag des Bertelsmann-Konzerns veröffentlicht hat, der Siedlers Namen trägt.
Als Hitler Selbstmord beging, waren Siedler und Fest noch keine zwanzig Jahre alt. Speer war gerade vierzig geworden. Er hatte sein Leben noch vor sich - sofern man die Lebenszeitmaßstäbe anlegte, die in der alten bürgerlichen Welt gegolten hatten. Der Nationalsozialismus war ein Karrierebeschleuniger gewesen, hatte eine soziale Mobilisierung bewirkt, die von völkermörderischer Energie gespeist wurde. Brechtken widmet die Hälfte seines 900 Seiten dicken Buches der Zeit nach 1945. Da Speer bis 1981 lebte, mag diese Disposition nicht verwundern. Tatsächlich wurde ja auch wieder etwas aus ihm. Allerdings nicht wie Talleyrand noch einmal ein Minister. Seine zweite Karriere machte er als Auskunftsperson.
Im Krieg hatte sich dank einer von Brechtken minutiös geschilderten Pressepolitik an die Figur Speers für viele Deutsche die Vorstellung geheftet, dass der Führergedanke womöglich wirklich ein Prinzip war: dass das Hitlerreich Hitler überleben konnte und ein Industriestaat sich durch Befehle steuern ließ. Der Reichsminister a. D. erwarb sein neues Charisma in einem vollkommen anderen kommunikativen Setting: indem er sich mit vollendeter Höflichkeit und unerschöpflichem Zeitbudget Fragen stellen ließ, von Journalisten und Historikern, aber auch von Erich Fromm, einer Weltberühmtheit der einst als jüdisch denunzierten Psychoanalyse, und Simon Wiesenthal, dem Detektiv in den Diensten der Nemesis. Und von den Lesern seiner Bücher. Die Verblendung von Fest und Siedler: Sie bildeten sich ein, Speer verhören zu können, obwohl ihnen alle Zwangsmittel von Vernehmungsbeamten fehlten.
Mit seinen Aussagen im alliierten Gewahrsam hatte Speer das Fundament des Lügengebäudes gelegt, das er mit Unterstützung Fests und Siedlers geschmackvoll ausschmückte. Die Legende, er habe auf den Sturz Hitlers oder wenigstens auf die Rettung der Industrie vor Hitler hingearbeitet, konnte er in die Welt setzen, obwohl ihm Männer von einer Intelligenz allerersten Kalibers gegenübersaßen, darunter John Kenneth Galbraith und Paul Nitze. Als Angeklagter im Hauptkriegsverbrecherprozess zog er zum Entsetzen der Mitangeklagten den Kopf aus der Schlinge: der Kriegswirtschaftsminister, der das Geld für den Bau der Gaskammern in Auschwitz bewilligt und sich von Himmler die Sklaven für die unterirdischen Wunderwaffenfabriken hatte liefern lassen. Speer bekannte sich nicht im Sinne der Anklage schuldig, aber in einem höheren Verständnis. Dieses moralische Pathos war im strikten Sinne unverbindlich, harmonierte aber mit dem Anspruch des Gerichts, im Namen der Menschheit über den Buchstaben des bisherigen Völkerstrafrechts hinausgehen zu dürfen.
Einem Redakteur der "Welt", der Springer-Zeitung, in der ein Vorabdruck der "Erinnerungen" erschien, versicherte Siedler, dass sich der Anteil Fests an der Textgenese "auf die Verfraglichung der Speerschen Niederschrift und Erinnerung" beschränkt habe. Die Bearbeitung der Niederschrift war damit treffend charakterisiert. Im fertigen Buch befleißigt sich der Memoirenautor der räsonnierenden Selbstbespiegelung. Glaubwürdiger wurde das Buch dadurch nur im Sinne der Anpassung an die Gattungstradition. Den Vernehmungsregeln der Polizeihandbücher entsprach das Vorgehen nicht: Was ist eine Aussage wert, in die im Zuge der Protokollierung Fragen Eingang finden, auf die der Verhörte von selbst nicht gekommen wäre? In Nürnberg hatte Speer erzählt, dass er einen Mordanschlag auf Hitler geplant habe. Das Mittel seiner Wahl, makabrerweise: Giftgas. Fest bat Speer, sein Irrewerden an Hitler ausführlicher zu schildern, weil der Entschluss zum Tyrannenmord sonst unmotiviert wirken könnte. Richtig wäre es gewesen, umgekehrt aus der fehlenden Dokumentation des Tatmotivs zu schließen, dass Speer sich den Mordplan erst nachträglich ausgedacht hatte.
In einem späten Gedicht sagt Gottfried Benn von den Glücksversprechen der auf Harmonie bedachten Kunst nach gutbürgerlichem Geschmack, sie seien "anderen Ohren eine Fraglichkeit". Die Unschärfe von Speers Bekenntnissen, die sich zwangsläufig daraus ergab, dass er keinen Anlass für eine Wiederaufnahme des Nürnberger Prozesses schaffen durfte, übersetzten die Lektoren Fest und Siedler in einen Duktus des existentialistischen Zweifels. Selbstverständlich war ihnen bewusst, dass Speers Habitus vor dem erzwungenen Übertritt ins kontemplative Leben keineswegs durch eine Neigung zu kritischen Fragen gekennzeichnet gewesen war. Im Gegenteil hatte er die fraglose Hinnahme der Direktiven Hitlers vorgelebt. Fest hatte dafür eine Erklärung parat, die er ausgearbeitet hatte, bevor er mit Speer persönliche Bekanntschaft schloss: in einem der Aufsätze des Buches "Das Gesicht des Dritten Reiches", mit dem der Journalist Fest sich als Koryphäe der NS-Deutung etablierte.
Es kam 1963 heraus, drei Jahre vor Speers Entlassung aus der Haft. Fest nahm ein antikes Schema auf: die typologische Charakterkunde, er betrieb Physiognomik, eine an Äußerlichkeiten anknüpfende spekulative Psychologie. Speer kam aus sehr wohlhabenden Verhältnissen, die ihm auch den Passepartout einer selbstgewählten Bestimmung gemäß der bürgerlichen Sozialethik vorgegeben hatten: den Beruf. Er fiel heraus aus dem Bild der verkrachten Existenzen, das die übrigen höchsten NS-Funktionäre abgaben. Dabei hatte er noch fast nichts gebaut, als er sich im Auftrag der Partei zunächst als Choreograph von Massenveranstaltungen bewähren durfte, mit ephemeren Festarchitekturen. In Berlin war er Assistent von Heinrich Tessenow gewesen, dem Lehrmeister eines Bauens der einfachen Formen. Eine heutige Sozialgeschichte des NS-Führungspotentials würde wohl betonen, dass Speer aus dem akademischen Mittelbau zur Partei stieß. Fests Aufsatz trug den Titel: "Albert Speer und die technizistische Unmoral". Speer verkörperte demnach den Typus des Technokraten, der seinen Sachverstand in den Dienst einer beliebigen Sache stellen kann. Das Deutungsmuster von Speer als Fachmann, Techniker und Manager ging auf einen Artikel zurück, den der emigrierte Journalist Sebastian Haffner 1944 in einer englischen Zeitung veröffentlicht hatte. Es ist damit Niederschlag der NS-Propaganda, denn Daten über Speers Arbeitsweise als Rüstungsminister standen vor Kriegsende nicht zur Verfügung. Wie Brechtken zeigt, brachte Speer in den Machtkämpfen an der Staatsspitze nicht etwa die Sachlogik bürokratischer Abläufe zur Geltung. Im Gegenteil konnte er märchenhafte Steigerungen der Produktivität verkünden, weil er der Berechenbarkeit den Kampf ansagte: ein Technokrat bestenfalls in der Variante eines Gurus der Disruption.
In Isabell Trommers Dissertation über die Rezeption von Speers Büchern, erschienen in der Schriftenreihe des Fritz-Bauer-Instituts, lernt man Speer als Verwalter des eigenen Rufs kennen, der mit schmalem Kapital wirtschaftete und deshalb informiert sein musste, auf jede Frage präpariert. Er kannte den Technokratie-Diskurs, der Fests Deutung seiner Person zeitkritische Resonanz verlieh, und schaltete sich in den Diskurs ein, bis hin zur Anmeldung eines Prioritätenstreits mit Herbert Marcuse.
Seit Marcel Reich-Ranicki in seinen Erinnerungen sein Entsetzen darüber publik machte, dass er sich 1973 auf einer von Siedler zu Ehren von Fest gegebenen Party Albert Speer gegenübersah, ist es üblich, die Nähe, die Fest und Siedler zu Speer suchten, aus gedankenloser bürgerlicher Klassensolidarität zu erklären. Übersehen wird, dass sich Fests Technokraten-These kritisch gegen die bürgerlichen Funktionseliten richtete. Im unpolitischen Denken sah Fest, mit einer bei den erfolgreichen Intellektuellen seiner Generation gängigen Denkfigur, die Lebenslüge des deutschen Bürgertums. Das Klischee vom Zauberlehrling Speer passte zu Fests kritischem Bild der "unwissenden Magier" Thomas und Heinrich Mann, obwohl deren fixe Idee vom Künstler als Antityp des Bürgers dem Bauplan der Hitler-Biographie zugrunde liegt.
Trotz der Verachtung, die der Biograph über den Dilettanten in Kunst- und Staatsgeschäften ausschüttet, gab es Kritiker, die meinten, Fest zeichne durch die Nachahmung von Jacob Burckhardts Betrachtungen über die historische Größe das Bild Hitlers zu positiv. Wie ist es zu erklären, dass Fest die Rückversicherung gegen dieses Risiko ausgerechnet in der Konsultation mit Speer suchte, der alles getan hatte, um den Preis für den fanatischsten Hitler-Gläubigen zu gewinnen?
Fest und Siedler bewirkten mit der unsichtbaren Arbeit hochprofessioneller Lektoren, dass Millionen Bildungsbürger sich mit Speer identifizieren konnten. Ihre eigene Kooperation mit Speer ging bei Fest bis zum Rollentausch. Warum? Sie dürften davon überzeugt gewesen sein, nicht in der Gefahr zu schweben, sich mit Speer gemeinzumachen. Durch Fests Kommentare zu Speer zieht sich Herablassung: Speers Reue, die sogar Karl Heinz Bohrer für ehrlich hielt, blieb in Fests Ohren eine Fraglichkeit. Als geschichtspolitische Essayisten kultivierten Fest und Siedler ihren eigenen Amoralismus, eine Skepsis mit nihilistischen Untertönen. Sie brachten Speer diesen Ton bei, erfreuten sich an ihrem Denkmusterschüler und vergaßen nie, dass er seinem großbürgerlichen Hintergrund zum Trotz ein Mann des zweiten Bildungswegs war. Wie konnten sie glauben, zur Vernehmung Speers berufen zu sein? Ihr Fehler war, dass sie sich ihm überlegen fühlten.
PATRICK BAHNERS
Magnus Brechtken: "Albert Speer. Eine deutsche Karriere". Siedler, 912 Seiten, 40 Euro
Isabell Trommer: "Rechtfertigung und Entlastung. Albert Speer in der Bundesrepublik". Campus, 368 Seiten, 34,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie konnte Albert Speer zum Hausautor des Bildungsbürgertums werden? Zwei Bücher erhellen seine Zusammenarbeit mit Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler: eine Geschichte fataler Distinktionsgewinne
Der Probeleser gab Entwarnung. Er könne nicht finden, "dass das Bild Hitlers zu positiv gezeichnet wird", schrieb Albert Speer am 25. April 1972 an Joachim Fest. Einem der größten Sachbucherfolge der Nachkriegszeit stand nichts mehr im Wege. "Hitler. Eine Biographie" erschien ein Jahr später im Propyläen-Verlag, der damals zum Springer-Konzern gehörte und von Wolf Jobst Siedler geleitet wurde. Im gleichen Jahr 1973 trat Fest in den Kreis der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein, mit Zuständigkeit für das Feuilleton. Übertroffen wurde der Erfolg der von Speer gegengelesenen Hitler-Biographie Fests nur von den beiden ebenfalls von Siedler verlegten Büchern desselben Gespanns, bei deren Produktion die Rollen andersherum verteilt waren: Der Name von Albert Speer stand auf dem Umschlag der 1969 erschienenen "Erinnerungen" und der 1975 veröffentlichten "Spandauer Tagebücher", die Gestalt der Texte verdankte sich einer Gemeinschaftsarbeit, deren Intensität mit dem offiziellen Status der Bücher nicht vereinbar war.
Denn es sollte sich ja um autobiographische Dokumente handeln, verfasst in moralischer und zeitweise auch physischer Isolation von einem Mann, der als verurteilter Kriegsverbrecher zwanzig Jahre lang von der Welt abgeschnitten war und davor einige Jahre in der nächsten Nähe jenes deutschen Staatschefs verbracht hatte, auf dessen Schuldkonto Millionen Ermordete und Abermillionen Kriegstote gingen. Bei den Gedanken und Erinnerungen des Architekten, der im Krieg zum Rüstungsminister aufgestiegen war, kam alles auf die Autorität des Autors an. Die erste Person durfte hier keine Fiktion sein.
Fest arbeitete für Speer nicht als "Ghostwriter", wie Frank Schirrmacher, Fests Nachfolger als Herausgeber, 2004 mit dem für ihn typischen Sinn für Überspitzungen schrieb, jedenfalls nicht im Sinne des verlagstechnischen Begriffs. Formal betrachtet ein Außenlektor, beauftragt nicht von Speer, sondern vom Verleger Siedler, widmete sich Fest den Manuskripten Speers mit einer Gründlichkeit, die man im heutigen Literaturbetrieb vielleicht nur von einem Agenten erwartet - der weiß, dass ein falsches Wort im Selbstenthüllungsbuch den Ruf des Klienten und den Verkauf ruinieren wird.
Siedler prägte für Fests Tätigkeit den Begriff des "vernehmenden Redakteurs". In der aparten Formulierung kristallisiert sich die Hybris des Unternehmens, für das Fest von Siedler gewonnen wurde. Der "Redakteur" und der Verleger, der sich mit Eifer an den Gesprächen auf Sylt und an ähnlich schönen Orten beteiligte, setzten Befragungen fort, denen sich Speer unterzogen hatte, seit er 1945 mit den anderen Titularministern des von Hitler eingesetzten Reichsverwesers Dönitz von den Amerikanern festgenommen worden war. Insoweit ist Siedlers Begriff für Fest durchaus richtig. Wie richtig, geht jetzt aus der Biographie Speers hervor, die Magnus Brechtken, der stellvertretende Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, in dem Verlag des Bertelsmann-Konzerns veröffentlicht hat, der Siedlers Namen trägt.
Als Hitler Selbstmord beging, waren Siedler und Fest noch keine zwanzig Jahre alt. Speer war gerade vierzig geworden. Er hatte sein Leben noch vor sich - sofern man die Lebenszeitmaßstäbe anlegte, die in der alten bürgerlichen Welt gegolten hatten. Der Nationalsozialismus war ein Karrierebeschleuniger gewesen, hatte eine soziale Mobilisierung bewirkt, die von völkermörderischer Energie gespeist wurde. Brechtken widmet die Hälfte seines 900 Seiten dicken Buches der Zeit nach 1945. Da Speer bis 1981 lebte, mag diese Disposition nicht verwundern. Tatsächlich wurde ja auch wieder etwas aus ihm. Allerdings nicht wie Talleyrand noch einmal ein Minister. Seine zweite Karriere machte er als Auskunftsperson.
Im Krieg hatte sich dank einer von Brechtken minutiös geschilderten Pressepolitik an die Figur Speers für viele Deutsche die Vorstellung geheftet, dass der Führergedanke womöglich wirklich ein Prinzip war: dass das Hitlerreich Hitler überleben konnte und ein Industriestaat sich durch Befehle steuern ließ. Der Reichsminister a. D. erwarb sein neues Charisma in einem vollkommen anderen kommunikativen Setting: indem er sich mit vollendeter Höflichkeit und unerschöpflichem Zeitbudget Fragen stellen ließ, von Journalisten und Historikern, aber auch von Erich Fromm, einer Weltberühmtheit der einst als jüdisch denunzierten Psychoanalyse, und Simon Wiesenthal, dem Detektiv in den Diensten der Nemesis. Und von den Lesern seiner Bücher. Die Verblendung von Fest und Siedler: Sie bildeten sich ein, Speer verhören zu können, obwohl ihnen alle Zwangsmittel von Vernehmungsbeamten fehlten.
Mit seinen Aussagen im alliierten Gewahrsam hatte Speer das Fundament des Lügengebäudes gelegt, das er mit Unterstützung Fests und Siedlers geschmackvoll ausschmückte. Die Legende, er habe auf den Sturz Hitlers oder wenigstens auf die Rettung der Industrie vor Hitler hingearbeitet, konnte er in die Welt setzen, obwohl ihm Männer von einer Intelligenz allerersten Kalibers gegenübersaßen, darunter John Kenneth Galbraith und Paul Nitze. Als Angeklagter im Hauptkriegsverbrecherprozess zog er zum Entsetzen der Mitangeklagten den Kopf aus der Schlinge: der Kriegswirtschaftsminister, der das Geld für den Bau der Gaskammern in Auschwitz bewilligt und sich von Himmler die Sklaven für die unterirdischen Wunderwaffenfabriken hatte liefern lassen. Speer bekannte sich nicht im Sinne der Anklage schuldig, aber in einem höheren Verständnis. Dieses moralische Pathos war im strikten Sinne unverbindlich, harmonierte aber mit dem Anspruch des Gerichts, im Namen der Menschheit über den Buchstaben des bisherigen Völkerstrafrechts hinausgehen zu dürfen.
Einem Redakteur der "Welt", der Springer-Zeitung, in der ein Vorabdruck der "Erinnerungen" erschien, versicherte Siedler, dass sich der Anteil Fests an der Textgenese "auf die Verfraglichung der Speerschen Niederschrift und Erinnerung" beschränkt habe. Die Bearbeitung der Niederschrift war damit treffend charakterisiert. Im fertigen Buch befleißigt sich der Memoirenautor der räsonnierenden Selbstbespiegelung. Glaubwürdiger wurde das Buch dadurch nur im Sinne der Anpassung an die Gattungstradition. Den Vernehmungsregeln der Polizeihandbücher entsprach das Vorgehen nicht: Was ist eine Aussage wert, in die im Zuge der Protokollierung Fragen Eingang finden, auf die der Verhörte von selbst nicht gekommen wäre? In Nürnberg hatte Speer erzählt, dass er einen Mordanschlag auf Hitler geplant habe. Das Mittel seiner Wahl, makabrerweise: Giftgas. Fest bat Speer, sein Irrewerden an Hitler ausführlicher zu schildern, weil der Entschluss zum Tyrannenmord sonst unmotiviert wirken könnte. Richtig wäre es gewesen, umgekehrt aus der fehlenden Dokumentation des Tatmotivs zu schließen, dass Speer sich den Mordplan erst nachträglich ausgedacht hatte.
In einem späten Gedicht sagt Gottfried Benn von den Glücksversprechen der auf Harmonie bedachten Kunst nach gutbürgerlichem Geschmack, sie seien "anderen Ohren eine Fraglichkeit". Die Unschärfe von Speers Bekenntnissen, die sich zwangsläufig daraus ergab, dass er keinen Anlass für eine Wiederaufnahme des Nürnberger Prozesses schaffen durfte, übersetzten die Lektoren Fest und Siedler in einen Duktus des existentialistischen Zweifels. Selbstverständlich war ihnen bewusst, dass Speers Habitus vor dem erzwungenen Übertritt ins kontemplative Leben keineswegs durch eine Neigung zu kritischen Fragen gekennzeichnet gewesen war. Im Gegenteil hatte er die fraglose Hinnahme der Direktiven Hitlers vorgelebt. Fest hatte dafür eine Erklärung parat, die er ausgearbeitet hatte, bevor er mit Speer persönliche Bekanntschaft schloss: in einem der Aufsätze des Buches "Das Gesicht des Dritten Reiches", mit dem der Journalist Fest sich als Koryphäe der NS-Deutung etablierte.
Es kam 1963 heraus, drei Jahre vor Speers Entlassung aus der Haft. Fest nahm ein antikes Schema auf: die typologische Charakterkunde, er betrieb Physiognomik, eine an Äußerlichkeiten anknüpfende spekulative Psychologie. Speer kam aus sehr wohlhabenden Verhältnissen, die ihm auch den Passepartout einer selbstgewählten Bestimmung gemäß der bürgerlichen Sozialethik vorgegeben hatten: den Beruf. Er fiel heraus aus dem Bild der verkrachten Existenzen, das die übrigen höchsten NS-Funktionäre abgaben. Dabei hatte er noch fast nichts gebaut, als er sich im Auftrag der Partei zunächst als Choreograph von Massenveranstaltungen bewähren durfte, mit ephemeren Festarchitekturen. In Berlin war er Assistent von Heinrich Tessenow gewesen, dem Lehrmeister eines Bauens der einfachen Formen. Eine heutige Sozialgeschichte des NS-Führungspotentials würde wohl betonen, dass Speer aus dem akademischen Mittelbau zur Partei stieß. Fests Aufsatz trug den Titel: "Albert Speer und die technizistische Unmoral". Speer verkörperte demnach den Typus des Technokraten, der seinen Sachverstand in den Dienst einer beliebigen Sache stellen kann. Das Deutungsmuster von Speer als Fachmann, Techniker und Manager ging auf einen Artikel zurück, den der emigrierte Journalist Sebastian Haffner 1944 in einer englischen Zeitung veröffentlicht hatte. Es ist damit Niederschlag der NS-Propaganda, denn Daten über Speers Arbeitsweise als Rüstungsminister standen vor Kriegsende nicht zur Verfügung. Wie Brechtken zeigt, brachte Speer in den Machtkämpfen an der Staatsspitze nicht etwa die Sachlogik bürokratischer Abläufe zur Geltung. Im Gegenteil konnte er märchenhafte Steigerungen der Produktivität verkünden, weil er der Berechenbarkeit den Kampf ansagte: ein Technokrat bestenfalls in der Variante eines Gurus der Disruption.
In Isabell Trommers Dissertation über die Rezeption von Speers Büchern, erschienen in der Schriftenreihe des Fritz-Bauer-Instituts, lernt man Speer als Verwalter des eigenen Rufs kennen, der mit schmalem Kapital wirtschaftete und deshalb informiert sein musste, auf jede Frage präpariert. Er kannte den Technokratie-Diskurs, der Fests Deutung seiner Person zeitkritische Resonanz verlieh, und schaltete sich in den Diskurs ein, bis hin zur Anmeldung eines Prioritätenstreits mit Herbert Marcuse.
Seit Marcel Reich-Ranicki in seinen Erinnerungen sein Entsetzen darüber publik machte, dass er sich 1973 auf einer von Siedler zu Ehren von Fest gegebenen Party Albert Speer gegenübersah, ist es üblich, die Nähe, die Fest und Siedler zu Speer suchten, aus gedankenloser bürgerlicher Klassensolidarität zu erklären. Übersehen wird, dass sich Fests Technokraten-These kritisch gegen die bürgerlichen Funktionseliten richtete. Im unpolitischen Denken sah Fest, mit einer bei den erfolgreichen Intellektuellen seiner Generation gängigen Denkfigur, die Lebenslüge des deutschen Bürgertums. Das Klischee vom Zauberlehrling Speer passte zu Fests kritischem Bild der "unwissenden Magier" Thomas und Heinrich Mann, obwohl deren fixe Idee vom Künstler als Antityp des Bürgers dem Bauplan der Hitler-Biographie zugrunde liegt.
Trotz der Verachtung, die der Biograph über den Dilettanten in Kunst- und Staatsgeschäften ausschüttet, gab es Kritiker, die meinten, Fest zeichne durch die Nachahmung von Jacob Burckhardts Betrachtungen über die historische Größe das Bild Hitlers zu positiv. Wie ist es zu erklären, dass Fest die Rückversicherung gegen dieses Risiko ausgerechnet in der Konsultation mit Speer suchte, der alles getan hatte, um den Preis für den fanatischsten Hitler-Gläubigen zu gewinnen?
Fest und Siedler bewirkten mit der unsichtbaren Arbeit hochprofessioneller Lektoren, dass Millionen Bildungsbürger sich mit Speer identifizieren konnten. Ihre eigene Kooperation mit Speer ging bei Fest bis zum Rollentausch. Warum? Sie dürften davon überzeugt gewesen sein, nicht in der Gefahr zu schweben, sich mit Speer gemeinzumachen. Durch Fests Kommentare zu Speer zieht sich Herablassung: Speers Reue, die sogar Karl Heinz Bohrer für ehrlich hielt, blieb in Fests Ohren eine Fraglichkeit. Als geschichtspolitische Essayisten kultivierten Fest und Siedler ihren eigenen Amoralismus, eine Skepsis mit nihilistischen Untertönen. Sie brachten Speer diesen Ton bei, erfreuten sich an ihrem Denkmusterschüler und vergaßen nie, dass er seinem großbürgerlichen Hintergrund zum Trotz ein Mann des zweiten Bildungswegs war. Wie konnten sie glauben, zur Vernehmung Speers berufen zu sein? Ihr Fehler war, dass sie sich ihm überlegen fühlten.
PATRICK BAHNERS
Magnus Brechtken: "Albert Speer. Eine deutsche Karriere". Siedler, 912 Seiten, 40 Euro
Isabell Trommer: "Rechtfertigung und Entlastung. Albert Speer in der Bundesrepublik". Campus, 368 Seiten, 34,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Rezensent Sven Felix Kellerhoff wünscht sich, dass in Zukunft niemand mehr Albert Speers manipulierte "Erinnerungen" liest und stattdessen zu Magnus Brechtkens Buch greift, was in jedem Fall eine "richtige wie lohnende Entscheidung" sei. In "Albert Speer. Eine deutsche Karriere" räumt der Historiker mit den zahlreichen Legenden, den Lügen und Manipulationen auf, die sich um Speers Leben ranken und meist aus Kalkül von dem Architekten selbst in die Welt gesetzt wurden, um sich als den "guten Nazi" darzustellen, der er nicht war. Keine Mühe hat Brechtken gescheut, um diesen Lügenbaron Schritt für Schritt, entlang seiner "Erinnerungen" zu entlarven, lesen wir. Das Ergebnis ist nicht nur äußerst erhellend, sondern auch flüssig geschrieben und geschickt aufgebaut, lobt der Rezensent. Eine deutlichere und leidenschaftlichere Kaufempfehlung ist kaum möglich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Seit Langem erwartet wird die erste große kritische Speer-Biografie. Jetzt hat sie Magnus Brechtken (...) verfasst. Ihm gelingt eine fulminante Dekonstruktion.« Die Welt