» Wer von Ihnen je Proust gelesen hat, weiß, wovon ich spreche, wenn ich sage, dass man sich nach der Lektüre der Recherche in einer Nachproust-Wüste befindet ... weil einem nichts mehr lesenswert erscheint, und das Einzige, was du dir wünschst, ist, dass dieser Proust noch mal von vorn anfängt, aber natürlich kann er das nicht mehr, und so liest du planlos alles über Proust, Kritisches wie Biografisches, aber das ist nicht dasselbe, und so gibst du es irgendwann wieder dran und stellst fest, dass du schon 'ne ganze Weile in einem Proust-Entzug lebst, und das Leben geht weiter, nur eben etwas grauer.«Gegen diese Entzugserscheinungen betreibt Anne Carson in Albertine. 59 Liebesübungen ihre ganz persönlichen, eigenen Sprach- und Klangbildern folgenden Verrenkungen : 59 Aphorismen samt 16 Appendices zu Albertine, Proust, Samuel Beckett und Roland Barthes. Solch Lakonie war nie.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.08.2017Wenn wir
Zeit hätten
Ann Carson übt die Liebe
zu Marcel Proust
Heißt es schon, sich über Marcel Proust und die „Suche nach der verlorenen Zeit“ lustig machen, wenn man zu den je nach Ausgabe um die fünftausend Seiten des Romans einen kaum vierzigseitigen Kommentar verfasst? G., der fiktive Autor von „The Albertine Workout“, würde das sicher verneinen, ebenso die Dichterin Anne Carson, deren Buch, das eigentlich eine Broschüre ist, in der deutschen Übersetzung Marie Luise Knotts „Albertine. 59 Liebesübungen + Appendices“ heißt.
Zweifellos nämlich ist darin nicht nur von der Liebe Marcels zu Albertine die Rede, sondern auch von der Liebe des Lesers G., der Leserin Anne Carson zu „À la Recherche du temps perdu“. Gleichwohl sind die 59 Kommentare oder Notizen zum Verhältnis Albertine - Marcel so ironisch wie doppelbödig. „Hätten wir Zeit“, heißt es da, „könnten hier in Klammern diverse Beobachtungen über die Ähnlichkeit zwischen Albertine und Ophelia – Hamlets Ophelia – angestellt werden.“
Aber die Zeit ist ja verloren, und so bleibt kaum mehr als ein Satz pro Absatz. Warum G. diese Absätze überhaupt durchnummeriert? Er fühle sich dann wie Wittgenstein. Ohnehin sei die Lust an Listen eine Nach-Proust-Erfahrung, die ja auch eine Art Nach-Tod-Erfahrung zu sein scheint. So etwas verlangt nach einer haltgebenden Ordnung.
Die 16 Appendices, die den 59 Liebesübungen hintangestellt sind, dürfen dann etwas länger ausfallen, der längste umfasst, halten Sie sich fest, fast eine ganze Seite. In ihnen klingt noch deutlicher die mit allen Theoriewassern gewaschene Dichterin durch (die auch Professorin für Klassische Philologie ist), ja ihre Lust an der Theorie wie die gleichzeitige Überzeugung, dass alle Theorie immer ungenügend bleibt.
Überbordend scheint für Carson dagegen die kinetische Energie zu sein, die in Prousts Figuren steckt, in der Rad fahrenden Albertine wie in ihrem vermeintlichen Vorbild, Prousts Chauffeur Alfred Agostinelli, der in einem „Geschwindigkeitsnonnen“-Kostüm mit unfassbaren 15 Kilometer pro Stunde durch Frankreich braust. Marcel war solch ein Temporausch eher fremd, er lag bekanntlich lieber im Bett. Aber man liebe eben nur, wie es in Eintrag Nummer 52 heißt, was man nicht vollkommen besitze. Das gilt freilich auch für die großen Werke der Literatur.
TOBIAS LEHMKUHL
Anne Carson: Albertine. 59 Liebesübungen + Appendices. Übersetzt von Marie Luise Knott. Matthes & Seitz, Berlin 2017. 44 Seiten, 16 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Zeit hätten
Ann Carson übt die Liebe
zu Marcel Proust
Heißt es schon, sich über Marcel Proust und die „Suche nach der verlorenen Zeit“ lustig machen, wenn man zu den je nach Ausgabe um die fünftausend Seiten des Romans einen kaum vierzigseitigen Kommentar verfasst? G., der fiktive Autor von „The Albertine Workout“, würde das sicher verneinen, ebenso die Dichterin Anne Carson, deren Buch, das eigentlich eine Broschüre ist, in der deutschen Übersetzung Marie Luise Knotts „Albertine. 59 Liebesübungen + Appendices“ heißt.
Zweifellos nämlich ist darin nicht nur von der Liebe Marcels zu Albertine die Rede, sondern auch von der Liebe des Lesers G., der Leserin Anne Carson zu „À la Recherche du temps perdu“. Gleichwohl sind die 59 Kommentare oder Notizen zum Verhältnis Albertine - Marcel so ironisch wie doppelbödig. „Hätten wir Zeit“, heißt es da, „könnten hier in Klammern diverse Beobachtungen über die Ähnlichkeit zwischen Albertine und Ophelia – Hamlets Ophelia – angestellt werden.“
Aber die Zeit ist ja verloren, und so bleibt kaum mehr als ein Satz pro Absatz. Warum G. diese Absätze überhaupt durchnummeriert? Er fühle sich dann wie Wittgenstein. Ohnehin sei die Lust an Listen eine Nach-Proust-Erfahrung, die ja auch eine Art Nach-Tod-Erfahrung zu sein scheint. So etwas verlangt nach einer haltgebenden Ordnung.
Die 16 Appendices, die den 59 Liebesübungen hintangestellt sind, dürfen dann etwas länger ausfallen, der längste umfasst, halten Sie sich fest, fast eine ganze Seite. In ihnen klingt noch deutlicher die mit allen Theoriewassern gewaschene Dichterin durch (die auch Professorin für Klassische Philologie ist), ja ihre Lust an der Theorie wie die gleichzeitige Überzeugung, dass alle Theorie immer ungenügend bleibt.
Überbordend scheint für Carson dagegen die kinetische Energie zu sein, die in Prousts Figuren steckt, in der Rad fahrenden Albertine wie in ihrem vermeintlichen Vorbild, Prousts Chauffeur Alfred Agostinelli, der in einem „Geschwindigkeitsnonnen“-Kostüm mit unfassbaren 15 Kilometer pro Stunde durch Frankreich braust. Marcel war solch ein Temporausch eher fremd, er lag bekanntlich lieber im Bett. Aber man liebe eben nur, wie es in Eintrag Nummer 52 heißt, was man nicht vollkommen besitze. Das gilt freilich auch für die großen Werke der Literatur.
TOBIAS LEHMKUHL
Anne Carson: Albertine. 59 Liebesübungen + Appendices. Übersetzt von Marie Luise Knott. Matthes & Seitz, Berlin 2017. 44 Seiten, 16 Euro.
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