Wie kann der Beitrag von Literatur mitten im Krieg sein? Kann sie schnell reagieren auf die Ereignisse? Muss sie reagieren? Was ist ihr Mehrwert gegenüber Nachrichten, Reportagen, Interviews, Gesprächen, Aktionen? Oder ist es gerade die Stärke von Literatur, dass sie sich löst vom Tagesaktuellen,
den Bogen weiter spannt, Verbindungen zieht, Geschichte einbezieht und Geschichten erzählt? Wie geht…mehrWie kann der Beitrag von Literatur mitten im Krieg sein? Kann sie schnell reagieren auf die Ereignisse? Muss sie reagieren? Was ist ihr Mehrwert gegenüber Nachrichten, Reportagen, Interviews, Gesprächen, Aktionen? Oder ist es gerade die Stärke von Literatur, dass sie sich löst vom Tagesaktuellen, den Bogen weiter spannt, Verbindungen zieht, Geschichte einbezieht und Geschichten erzählt? Wie geht es, dabei verengte Kriegslogiken beiseite zu schieben, die Literatur überprüfen, die schauen, auf welcher Seite stehen Autor:in und Text und wie sind Romane in der aktuellen Situationen überhaupt literarisch zu bewerten?
»Aleksandra« zeigt, wie es gehen kann, auch wenn einige Fragen sich erst mit mehr zeitlichem Abstand befriedigend beantworten lassen.
Der Krieg in der Ukraine bewegt viele Menschen auf ganz unterschiedliche und oft stark emotionale Weise. In der deutschen Übersetzung ist Weedas Debüt am 24.02.2023 im Kanonverlag erschienen, ein Jahr nach der Russischen Invasion in die Ukraine, mitten im Krieg. In den Niederlanden erschien »Aleksandra« bereits 2021, ein Jahr vor der Invasion. Zehn bis acht Jahre hat die niederländisch-ukrainische Autorin an »Aleksandra« geschrieben, der Krieg war seit 2014 schon da und trotzdem konnte Weeda nicht klar sein, was 2022 passieren würde.
»Aleksandra« bezieht sich auf genau das, was viele jetzt suchen oder dankbar annehmen, mit Literatur den Blick weiten als Ergänzung zu Nachrichten, Reportagen, Berichten und Interviews, die sich um neueste Geschehnisse drehen. »Aleksandra« erzählt eine Familiengeschichte aus dem Donbass, aus der feudalen Vorzeit, den Einbruch und der konflikthaften Nachzeit der Sowjetunion. Im Mittelpunkt stehen Aleksandra, die im zweiten Weltkrieg nach Deutschland deportiert wurde, danach in die Niederlande ging und ihre Enkelin Lisa, die die weit verästelten Familienbande, die weder Sprache, noch politische Einschätzung oder Ort eint, versucht zusammenzuhalten.
Weeda verarbeitet die Enteignung, die Euphorie, den Holodomor, den zweiten Weltkrieg, die Armut, die Kriege und bezieht sie auch auf die Gegenwart, indem sie immer wieder in die sog. Volksrepublik Luhansk von 2014 bis 2015 springt.
Weeda fordert die Lesenden heraus mit einer komplexen historischen Verortung und einer nicht linearen Erzählstruktur. Es gibt zwar einen Stammbaum, der sehr hilfreich ist, doch springt der Text in Orten, Zeiten und erzählenden Personen, in drei Generationen finden wir Nikolaj. Eine weitere Ebene sind surreale Phantasiewelten, mit Bedeutung aufgeladen ein Tuch, Hirsche, ein Palast und es kann vorkommen, dass Verstorbene zu jüngeren Generationen sprechen.
Weeda entgeht bewusst der Verführung, Komplexitäten so zu vereinfachen, dass sie für ein westliches Lesepublikum konsumabel sind und geht damit das Risiko ein, es zu verlieren. Wie gut erinnere ich mich an eine ähnliche Gratwanderung, als es ums ehemalige Jugoslawien ging. Gelingt eine Verständigung, schmeckt mir die Botschaft aber sehr, es ist kompliziert, erfordert Anstrengung und trotzdem ist es möglich, notwendig und lohnenswert, sich mit dem Thema und den Menschen in ihrer Komplexität zu beschäftigen. Ja, es war kompliziert, lohnenswert und ein großer Mehrwert in Ergänzung zu Tagesaktuellem »Aleksandra« zu lesen.