Was hat Alexander von Humboldt, der vor mehr als 150 Jahren starb, mit Klimawandel und Nachhaltigkeit zu tun? Der Naturforscher und Universalgelehrte, nach dem nicht nur unzählige Straßen, Pflanzen und sogar ein »Mare« auf dem Mond benannt sind, hat wie kein anderer Wissenschaftler unser Verständnis von Natur als lebendigem Ganzen, als Kosmos, in dem vom Winzigsten bis zum Größten alles miteinander verbunden ist und dessen untrennbarer Teil wir sind, geprägt. Die Historikerin Andrea Wulf stellt in ihrem vielfach preisgekrönten - so auch mit dem Bayerischen Buchpreis 2016 - Buch Humboldts Erfindung der Natur, die er radikal neu dachte, ins Zentrum ihrer Erkundungsreise durch sein Leben und Werk. Sie folgt den Spuren des begnadeten Netzwerkers und zeigt, dass unser heutiges Wissen um die Verwundbarkeit der Erde in Humboldts Überzeugungen verwurzelt ist. Ihm heute wieder zu begegnen, mahnt uns, seine Erkenntnisse endlich zum Maßstab unseres Handelns zu machen - um unser aller Überleben willen.
Ausstattung: 8 S. Farbbildteil, 69 s/w-Abb. im Text, 3 Karten
Ausstattung: 8 S. Farbbildteil, 69 s/w-Abb. im Text, 3 Karten
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2016Der größte Mann seit der Sintflut
Andrea Wulf porträtiert den Forschungsreisenden Alexander von Humboldt. Etwas weniger Einfühlung und mehr Einsichten hätten nicht geschadet.
Von Alexander Kosenina
Mindestens ein Gemälde des "größten Forschungsreisenden" aller Zeiten, wie Darwin ihn nannte, ist ins kollektive Gedächtnis eingegangen: Darauf ist Alexander von Humboldt neben seinem Begleiter Aimé Bonpland an einem mit Naturalien und Instrumenten übersäten Tisch im tropischen Urwald zu sehen. Hans Magnus Enzensbergers lyrisches Porträt von Humboldt im "Mausoleum" ruft dieses Bild von Eduard Ender auf, und es schließt mit der Pointe: Humboldt sei "die Zerstörung dessen zu melden gekommen", was er in seinen Naturgemälden bis ins hohe Alter "liebevoll malte".
Die in Deutschland aufgewachsene Londoner Publizistin Andrea Wulf entwickelt den gleichen Gedanken in einem umfangreichen Buch, das im vergangenen Jahr auf Englisch erschien und gleich viel Lob erhielt. Ausführlich erzählt es von Humboldts großen Reisen durch Mittel- und Südamerika 1799 bis 1804 sowie durch Russland 1829. Zugleich versucht es den immensen Wissenshorizont dieses Mannes zu erhellen, der von der Natur- und Völkerkunde über die Sprach- und Kulturgeschichte bis zu Kunst und Politik reichte. Wenn dem selbst höchst belesenen Präsident Thomas Jefferson ein zweistündiges Gespräch mit Humboldt ergiebiger als zweijährige Lektüren erschien, wenn Goethe ihn als unerschöpflichen Brunnen des Wissens bewunderte oder Friedrich Wilhelm IV. dieses wandelnde "Wörterbuch" an seinem Hof den "größten Mann seit der Sintflut" nannte, dann sind das nicht bloß Schmeicheleien.
Will man die Kategorie eines Universalgelehrten überhaupt anwenden, hier wäre es geboten. Für ein Lebensbild, besser noch eine "intellectual biography" im angelsächsischen Sinn, stellte das eine gewaltige Herausforderung dar. Wulf wird ihr nur stellenweise gerecht. Das Buch ist für ein breites britisches und amerikanisches Publikum geschrieben, dem allzu viele Selbstverständlichkeiten erklärt werden müssen, etwa dass Humboldt "ein Kind der Aufklärung" war und Goethe "der berühmteste Dichter Deutschlands", wo Frankfurt an der Oder, Jena oder Weimar liegen und dass Deutschland ein Teil des Heiligen Römischen Reichs war.
Vor allem anfangs stört der Gestus der Einfühlung, ständig erfährt man, was Humboldt gerade "dachte", "fühlte", "hasste" oder auch: "Das Fernweh war sein treuester Begleiter." Anlässlich eines Weimarer Gewitterexperiments sieht man sich in kitschige Unmittelbarkeit versetzt: "Der Regen prasselte, und der Donner grollte über den Feldern, wild zuckende Blitze erhellten die kleine Stadt. Humboldt war in seinem Element."
Weniger Stimmungen als Einsichten wären da willkommen. Statt etwa die schlichte und mit einem Bild Kleists vermengte These, dass "sowohl unsere Sinne als auch unsere Vernunft einer getönten Brille" gleichen, Immanuel Kant zuzuschreiben, hätten dessen Idee einer physischen Geographie oder Blumenbachs Begriff des "Bildungstriebs" Perspektiven versprochen. Denn aus solchen früh rezipierten Vorstellungen ließe sich Humboldts großes Programm entwickeln. Mit den "Ansichten der Natur" (1808) und der fünfbändigen Summe des "Kosmos" (1845 - 1862) wollte Humboldt Analogien zwischen organischer und geistiger Bildung in allen Weltteilen entwickeln und so eine "ästhetische Behandlung naturhistorischer Gegenstände" vorlegen.
Der englische Titel "The Invention of Nature" kündigt eine solche Ideengeschichte eigentlich an; der originale Untertitel "The Adventures of Alexander von Humboldt - The Lost Hero of Science" charakterisiert das Buch jedoch weitaus treffender. Wulf konzentriert sich auf das Abenteuer der entbehrungsreichen und gefährlichen Reisen durch Amerika und Asien, den erfolglosen Kampf mit der britischen Ostindien-Kompanie um eine Genehmigung für eine Expedition in den Himalaja, aber auch auf die lange Liste erstmals gesammelter, vermessener, beschriebener Naturalien, Landschaften oder Klimadaten - nicht zuletzt die Erfindung der Isotherme und die Entdeckung des magnetischen Äquators.
Mit keinem Namen sind Pflanzen, Tiere, Mineralien, Meeresströmungen, Berge oder Naturerscheinungen häufiger verbunden worden als mit dem von Alexander von Humboldt. Und kaum jemand war von vergleichbarem Einfluss. Diese Wirkung stellt Wulf in mehreren gelungenen Kapiteln dar, etwa auf Darwin oder Henry David Thoreau, auf George Perkins Marsh, den ersten Kämpfer gegen die Zerstörung der Wälder, auf Ernst Haeckel als Vater der Ökologie oder auch auf den frühen Umweltschützer John Muir. Diese Exkurse spiegeln den Forschungstrend, Humboldt nach Phasen des wissenschaftsgeschichtlichen und postkolonialen Interesses nun auch als frühen Warner vor Klimakatastrophen, Artensterben und Umweltzerstörung zu präsentieren.
Mit den vielen wichtigen Neueditionen, die hierzulande etwa gleichzeitig mit Daniel Kehlmanns Roman "Die Vermessung der Welt" (2005), in dem Alexander von Humboldt neben Carl Friedrich Gauss auftritt, ist Wulf hingegen gar nicht vertraut. Sie benutzt ausschließlich ältere englische und deutsche Ausgaben des überwiegend auf Französisch erschienenen OEuvres von Humboldt. Die mittlerweile vorliegenden vollständigen Übersetzungen und von umfangreichen Studien begleiteten Editionen finden keinerlei Erwähnung.
Übergangen werden auch die zahlreichen Aufsätze und Essays Alexander von Humboldts in Zeitschriften, von denen Oliver Lubrich bereits zwei Bände mit anthropologisch-ethnographischen und historisch-politischen Beiträgen sowie eine vermischte Sammlung als "Lesebuch" (2009) vorgelegt hat. Diese kleinen Schriften, die in drei Jahren als kommentierte "Berner Ausgabe" in vierzehn Bänden erscheinen sollen, hätten allein schon überreichen Stoff für die Darstellung von Humboldts "Erfindung der Natur" geboten. Aber Andrea Wulfs Buch will eben doch lieber packende und lehrreiche Lebensbeschreibung sein als die intellektuelle Biographie eines großen Forschers.
Andrea Wulf: "Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur".
Aus dem Englischen von Hainer Kober. C. Bertelsmann Verlag, München 2016. 556 S., Abb., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Andrea Wulf porträtiert den Forschungsreisenden Alexander von Humboldt. Etwas weniger Einfühlung und mehr Einsichten hätten nicht geschadet.
Von Alexander Kosenina
Mindestens ein Gemälde des "größten Forschungsreisenden" aller Zeiten, wie Darwin ihn nannte, ist ins kollektive Gedächtnis eingegangen: Darauf ist Alexander von Humboldt neben seinem Begleiter Aimé Bonpland an einem mit Naturalien und Instrumenten übersäten Tisch im tropischen Urwald zu sehen. Hans Magnus Enzensbergers lyrisches Porträt von Humboldt im "Mausoleum" ruft dieses Bild von Eduard Ender auf, und es schließt mit der Pointe: Humboldt sei "die Zerstörung dessen zu melden gekommen", was er in seinen Naturgemälden bis ins hohe Alter "liebevoll malte".
Die in Deutschland aufgewachsene Londoner Publizistin Andrea Wulf entwickelt den gleichen Gedanken in einem umfangreichen Buch, das im vergangenen Jahr auf Englisch erschien und gleich viel Lob erhielt. Ausführlich erzählt es von Humboldts großen Reisen durch Mittel- und Südamerika 1799 bis 1804 sowie durch Russland 1829. Zugleich versucht es den immensen Wissenshorizont dieses Mannes zu erhellen, der von der Natur- und Völkerkunde über die Sprach- und Kulturgeschichte bis zu Kunst und Politik reichte. Wenn dem selbst höchst belesenen Präsident Thomas Jefferson ein zweistündiges Gespräch mit Humboldt ergiebiger als zweijährige Lektüren erschien, wenn Goethe ihn als unerschöpflichen Brunnen des Wissens bewunderte oder Friedrich Wilhelm IV. dieses wandelnde "Wörterbuch" an seinem Hof den "größten Mann seit der Sintflut" nannte, dann sind das nicht bloß Schmeicheleien.
Will man die Kategorie eines Universalgelehrten überhaupt anwenden, hier wäre es geboten. Für ein Lebensbild, besser noch eine "intellectual biography" im angelsächsischen Sinn, stellte das eine gewaltige Herausforderung dar. Wulf wird ihr nur stellenweise gerecht. Das Buch ist für ein breites britisches und amerikanisches Publikum geschrieben, dem allzu viele Selbstverständlichkeiten erklärt werden müssen, etwa dass Humboldt "ein Kind der Aufklärung" war und Goethe "der berühmteste Dichter Deutschlands", wo Frankfurt an der Oder, Jena oder Weimar liegen und dass Deutschland ein Teil des Heiligen Römischen Reichs war.
Vor allem anfangs stört der Gestus der Einfühlung, ständig erfährt man, was Humboldt gerade "dachte", "fühlte", "hasste" oder auch: "Das Fernweh war sein treuester Begleiter." Anlässlich eines Weimarer Gewitterexperiments sieht man sich in kitschige Unmittelbarkeit versetzt: "Der Regen prasselte, und der Donner grollte über den Feldern, wild zuckende Blitze erhellten die kleine Stadt. Humboldt war in seinem Element."
Weniger Stimmungen als Einsichten wären da willkommen. Statt etwa die schlichte und mit einem Bild Kleists vermengte These, dass "sowohl unsere Sinne als auch unsere Vernunft einer getönten Brille" gleichen, Immanuel Kant zuzuschreiben, hätten dessen Idee einer physischen Geographie oder Blumenbachs Begriff des "Bildungstriebs" Perspektiven versprochen. Denn aus solchen früh rezipierten Vorstellungen ließe sich Humboldts großes Programm entwickeln. Mit den "Ansichten der Natur" (1808) und der fünfbändigen Summe des "Kosmos" (1845 - 1862) wollte Humboldt Analogien zwischen organischer und geistiger Bildung in allen Weltteilen entwickeln und so eine "ästhetische Behandlung naturhistorischer Gegenstände" vorlegen.
Der englische Titel "The Invention of Nature" kündigt eine solche Ideengeschichte eigentlich an; der originale Untertitel "The Adventures of Alexander von Humboldt - The Lost Hero of Science" charakterisiert das Buch jedoch weitaus treffender. Wulf konzentriert sich auf das Abenteuer der entbehrungsreichen und gefährlichen Reisen durch Amerika und Asien, den erfolglosen Kampf mit der britischen Ostindien-Kompanie um eine Genehmigung für eine Expedition in den Himalaja, aber auch auf die lange Liste erstmals gesammelter, vermessener, beschriebener Naturalien, Landschaften oder Klimadaten - nicht zuletzt die Erfindung der Isotherme und die Entdeckung des magnetischen Äquators.
Mit keinem Namen sind Pflanzen, Tiere, Mineralien, Meeresströmungen, Berge oder Naturerscheinungen häufiger verbunden worden als mit dem von Alexander von Humboldt. Und kaum jemand war von vergleichbarem Einfluss. Diese Wirkung stellt Wulf in mehreren gelungenen Kapiteln dar, etwa auf Darwin oder Henry David Thoreau, auf George Perkins Marsh, den ersten Kämpfer gegen die Zerstörung der Wälder, auf Ernst Haeckel als Vater der Ökologie oder auch auf den frühen Umweltschützer John Muir. Diese Exkurse spiegeln den Forschungstrend, Humboldt nach Phasen des wissenschaftsgeschichtlichen und postkolonialen Interesses nun auch als frühen Warner vor Klimakatastrophen, Artensterben und Umweltzerstörung zu präsentieren.
Mit den vielen wichtigen Neueditionen, die hierzulande etwa gleichzeitig mit Daniel Kehlmanns Roman "Die Vermessung der Welt" (2005), in dem Alexander von Humboldt neben Carl Friedrich Gauss auftritt, ist Wulf hingegen gar nicht vertraut. Sie benutzt ausschließlich ältere englische und deutsche Ausgaben des überwiegend auf Französisch erschienenen OEuvres von Humboldt. Die mittlerweile vorliegenden vollständigen Übersetzungen und von umfangreichen Studien begleiteten Editionen finden keinerlei Erwähnung.
Übergangen werden auch die zahlreichen Aufsätze und Essays Alexander von Humboldts in Zeitschriften, von denen Oliver Lubrich bereits zwei Bände mit anthropologisch-ethnographischen und historisch-politischen Beiträgen sowie eine vermischte Sammlung als "Lesebuch" (2009) vorgelegt hat. Diese kleinen Schriften, die in drei Jahren als kommentierte "Berner Ausgabe" in vierzehn Bänden erscheinen sollen, hätten allein schon überreichen Stoff für die Darstellung von Humboldts "Erfindung der Natur" geboten. Aber Andrea Wulfs Buch will eben doch lieber packende und lehrreiche Lebensbeschreibung sein als die intellektuelle Biographie eines großen Forschers.
Andrea Wulf: "Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur".
Aus dem Englischen von Hainer Kober. C. Bertelsmann Verlag, München 2016. 556 S., Abb., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
An aufwändigen Editionen zu Alexander von Humboldt gibt es keinen Mangel, weiß Jens Bisky, doch fürchtet er, dass der große Forschungsreisende weiterhin zu jenen Klassikern zählt, die beschworen, aber kaum gelesen werden. Andrea Wulfs Biografie weiß er sehr zu schätzen, weil sie Humboldt in seiner Rastlosigkeit sehr lebendig präsentiert, aber auch ideengeschichtlich verortet und mit Goethe, Darwin oder Thoreau kurzschließt. Auch wenn Bisky nicht ganz überzeugt von Wulfs Elan scheint, Humboldt zum Pionier der Umweltbewegung zu stilisieren, kann die Autorin ihm durchaus Humboldts Vorstellung von der Natur als Organismus näherbringen, von einer Natur, die nicht "totes Aggregat", sondern "belebtes Ganzes" sei. Und ihren Enthusiasmus findet er auch ziemlich einnehmend, bleibt sie darin doch Humboldt treu, dem die wissenschaftliche Monokultur des Registrierens und Benennens ebenfalls viel zu eintönig und unpoetisch war.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Keiner hat die Welt so gesehen wie er: Alexander von Humboldt. Ihm hat Andrea Wulf eine wunderbare, eine herrlich zu lesende, monumentale Biografie gewidmet. Eine glänzende Lektüre, ein Abenteuerspielplatz des Geistes." Denis Scheck in ARD "druckfrisch"