Bevor ich das Vorwort las, habe ich den Band zuerst einmal durchgeblättert, wie ich das immer mache. Der erste Eindruck ist wichtig. Und mein erster Eindruck war: Ja, das ist Japan, wie ich es kenne. Der zweite Eindruck war weniger eindeutig, denn irgendetwas stimmte nicht mit diesen Bildern. Die
Erkenntnis tröpfelte langsam ins Bewusstsein, was da störte: Die leeren Straßen und Bürgersteige, die…mehrBevor ich das Vorwort las, habe ich den Band zuerst einmal durchgeblättert, wie ich das immer mache. Der erste Eindruck ist wichtig. Und mein erster Eindruck war: Ja, das ist Japan, wie ich es kenne. Der zweite Eindruck war weniger eindeutig, denn irgendetwas stimmte nicht mit diesen Bildern. Die Erkenntnis tröpfelte langsam ins Bewusstsein, was da störte: Die leeren Straßen und Bürgersteige, die Abwesenheit von Menschen und das zu einer der turbulentesten Jahreszeiten in Japan, der Kirschblüte. Dann sitzen normalerweise ganze Familien oder auch Arbeitskollegen zu Tausenden unter den rosafarbenen Bäumen, aus denen es ununterbrochen Blütenblätter regnet und feiern das Fest der Vergänglichkeit. Hanami, die Blütenschau, ist ein nationales Ereignis. Nur nicht bei Alexandre Morvan.
Das Vorwort klärt auf. Die Bilder entstanden während der ersten Wochen des Covid Lockdowns, wobei es in Japan nie einen offiziellen Lockdown gab (außer für Ausländer, die zwei Jahre lang nicht mehr ins Land durften). Masken trugen Kranke immer schon, nicht zum Selbstschutz, sondern um andere nicht anzustecken, so dass diese allein kein Hinweis auf eine außergewöhnliche Situation waren. Eine „Empfehlung“ der Regierung hat in Japan fast Gesetzescharakter, wodurch auch das Social Distancing auf freiwilliger Basis sehr konsequent umgesetzt wurde. Während bei uns das Tragen einer Schutzmaske als „die schlimmste Einschränkung der Bürgerrechte seit dem zweiten Weltkrieg“ tituliert wurde, ging das in Japan geräuschlos und natürlich mit weit weniger Opfern über die Bühne.
Morvan war im März/April 2020 in Japan, kurz bevor die Grenzen schlossen, und die wenigen Personen in seinen Fotos blicken verstört in eine ungewisse Zukunft. Sie zeigen ausschließlich junge Menschen, die von den Konsequenzen besonders betroffen waren und das leicht dystopische Gefühl wird noch unterstützt durch Bilder des latenten Verfalls, der in japanischen Städten an vielen Stellen sichtbar ist. Die Gesellschaft altert mittlerweile schneller als sie die Infrastruktur in Schuss halten kann und so mischen sich Technologien und Designs der letzten 50 Jahre zu einem typisch japanischen Konglomerat. Die einsamen Straßen und Plätze wirken da fast schon wie Prophetie.
„Cherry Trees“ zeigt ein Land in Verunsicherung, mit der die Japaner aber seit jeher umgehen können: Erdbeben, Vulkanausbrüche, Taifune oder Tsunamis. Und jetzt eben Covid. Alexandre Morvan hat den Hauch der Apokalypse wahrscheinlich deutlicher gespürt als die Japaner im eigenen Land, denn für sie war die Pandemie letztlich nur ein weiterer Beweis dafür, dass die Natur stärker ist als alle menschlichen Bemühungen, sie zu zähmen. Wir werden das sicher auch noch lernen.
(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)