Alfred Andersch ist Westdeutschlands berühmtester Deserteur. Sein autobiografischer Bericht "Die Kirschen der Freiheit" (1952) beschreibt die Umstände seiner Fahnenflucht aus Hitlers Wehrmacht am 6. Juni 1944 in Italien. Aber war er überhaupt ein Deserteur? Seit in seinem Nachlass ein Text auftauchte, den Andersch schon 1945 im Kriegsgefangenenlager geschrieben hatte und in dem die Gefangennahme gar nicht als Desertion geschildert wird ("Amerikaner - Erster Eindruck"), sind Zweifel daran laut geworden, ob Andersch zu Recht in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin als Deserteur geehrt wird. Niemals bislang ist der Versuch unternommen worden, Anderschs Selbstbeschreibung anhand militärhistorischer Quellen zu überprüfen. Das vorliegende Buch versammelt diese Dokumente und erzählt eine in Teilen andere Geschichte: "Die Kirschen der Freiheit" im Lichte der Akten. Eine Geschichte vom Überleben im Krieg, vom Heldenmut der Kampfesmüden und von den literarischen Verfahren der Selbstkonstruktion eines Autors.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.06.2015Strategien im Literaturkampf
Alfred Anderschs Verhalten im Dritten Reich ist umstritten: War er nun Deserteur, oder ist das eine Fiktion? Drei Wissenschaftler haben neue Quellen ausgewertet und die Erzählungen neu bewertet.
Im Jahr 1993 veröffentlichte W. G. Sebald in der Zeitschrift "Lettre International" eine Polemik gegen den Schriftsteller Alfred Andersch, die sechs Jahre später in den Band "Luftkrieg und Literatur" aufgenommen wurde. Diese erbitterte Abrechnung mit einem der renommiertesten Autoren der Nachkriegsjahrzehnte stellt in ihrem von einem regelrechten Hass getriebenen Ton den moralischen und stilistischen Tiefpunkt in Sebalds essayistischem Werk dar, so sehr, dass das "von Ehrgeiz, Selbstsucht, Ressentiment und Ranküne geplagte Innenleben", das Sebald bei Andersch auszumachen meint, eher bei ihm selbst vermutet werden könnte. Anlass zu dieser Polemik war neben der Kritik an Anderschs Werk vor allem die Arbeit Anderschs an der eigenen Biographie, insbesondere, was den Umgang mit seiner ersten, jüdischen Frau während des Dritten Reiches anging. Darüber hinaus lautet Sebalds impliziter Vorwurf etwa so: Andersch habe sich während dieser Zeit insgesamt opportunistisch verhalten, sich hinterher aber zu einer Art Widerstandskämpfer stilisiert.
An diesen Kontext muss hier erinnert werden, wenn man die nun im Berliner Verbrecher Verlag erschienene interdisziplinäre Arbeit dreier deutscher Wissenschaftler liest, die versucht, Anderschs Selbstkonstruktion als Autor und moralische Instanz in der Nachkriegszeit aus dem Bereich des bloßen Meinens und der Polemik in denjenigen der Fakten zu rücken, soweit sie überprüfbar sind. Hier geht es um Anderschs Fahnenflucht in Italien im Juni 1944 und deren Darstellung durch den Autor in drei aufeinanderfolgenden Texten: dem Prosastück "Amerikaner - erster Eindruck", noch 1944 geschrieben und in Auszügen erstmals in der Gefangenenzeitung "Der Ruf" erschienen, der Erzählung "Flucht in Etrurien", die im August 1950 in Fortsetzungen in dieser Zeitung erschien, und dem als Bericht deklarierten Text "Die Kirschen der Freiheit" aus dem Jahr 1952, der den Grundstein für Anderschs Positionierung in der westdeutschen Nachkriegsliteratur legte.
Die drei Autoren - ein Literaturwissenschaftler, ein Historiker und ein Erziehungswissenschaftler - stellen zunächst die Frage, ob Andersch überhaupt ein Deserteur war, und wenn ja, ob seine Desertion individuell erfolgte, wie es in den "Kirschen der Freiheit" dargestellt wird, oder im Verbund mit anderen, wie die etrurische Fluchterzählung andeutet. Die Frage ist legitim, weil man die Selbstauskunft des Autors, das Erste sei Fiktion, das Zweite aber authentischer Bericht gewesen, selbstverständlich nicht umstandslos übernehmen muss, zumal in Zeiten, da der Begriff der Autofiktion, dem die Autoren gleich drei Kapitel widmen, literaturwissenschaftlich Karriere gemacht hat.
Um sich der Antwort auf diese Frage zu nähern, haben die Autoren den Gang in die Archive angetreten und alle verfügbaren militärhistorischen Quellen ausgewertet. Dazu gehören selbstverständlich die Dokumente über die militärische Lage zum fraglichen Zeitpunkt, ebenso aber auch die amerikanischen Vernehmungsprotokolle von deutschen Gefangenen und Deserteuren sowohl in Italien wie später in den Gefangenencamps in den Vereinigten Staaten. Dazu zählt auch das Gefangenendossier Alfred Andersch aus dem amerikanischen Lager Fort Hunt. Danach werden die "Stationen der Autofiktion" anhand der drei obengenannten Texte untersucht und diese in den jeweiligen werkstrategischen Kontext gestellt. Ein anschließendes Kapitel widmet sich dem Bild des Deserteurs in der deutschen Nachkriegsliteratur und das vorletzte dem "Diskurs über die Deserteure in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft" - man darf hier sagen, dass es sich dabei um ein besonders trauriges Kapitel handelt. Danach ziehen die Autoren ihr Fazit.
Dieses Fazit ist maßvoll kritisch und frei von Polemik. Die Autoren können nachweisen, dass sich Andersch zumindest übers Datum seiner Gefangennahme respektive Desertion nachträglich entweder geirrt oder aber dieses Datum bewusst umgeschrieben hat, weil der 6. Juni 1944 als Tag der Invasion in der Normandie geschichtsträchtiger ist als der folgende. Ob Andersch ein Deserteur oder ein gewöhnlicher Gefangener war, lässt sich auch aus den neu erschlossenen Quellen nicht entscheiden.
Die Gefangenendossiers und Verhörprotokolle der Amerikaner verzeichneten nämlich von sich aus nur selten, ob der Gefangene ein Überläufer war oder nicht. Darüber hinaus ist nicht zu entscheiden, ob Anderschs Desertion, wenn es denn eine war, ein individueller Akt war oder gemeinsam mit anderen erfolgte. Die Liste über "Vermisste" aus Anderschs Einheit zum betreffenden Datum umfasst jedenfalls insgesamt 17 Personen. Vermisste konnten beim Marsch zurückgebliebene Personen oder bewusste Überläufer sein. Die Kampfmoral in Anderschs zusammengestoppelter Radfahrereinheit war offenbar nicht besonders hoch.
Die Selbstaussagen des Autors über die Vorgänge sind widersprüchlich. Eine leichte Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass der Obersoldat Andersch sich keineswegs allein von der Truppe entfernt hat. Döring/Römer/Seubert ordnen die drei obengenannten Texte werkstrategisch so ein: Der erste, noch im Lager für die Gefangenenzeitung geschrieben, vermeidet den Begriff der Desertion. Da der Deserteur nach dem militärischen Ehrenkodex sogar für Nicht-Nazis eine verachtenswerte Person war, unter den Gefangenen aber vor allem überzeugte Nazis den Ton angaben und auch Gewalt ausübten, darf man dies als Vorsichtsmaßnahme werten.
"Flucht in Etrurien" dagegen, als dezidiert literarischer Text geschrieben, stellt die Desertion (zusammen mit einem jungen Soldaten, der am Ende jedoch durch einen Schlangenbiss ums Leben kommt) in den Mittelpunkt. Umso überraschender ist die Tatsache, dass es auf den Abdruck dieser Erzählung im August 1950 nicht einen einzigen - empörten oder zustimmenden - Leserbrief gab. Die Autoren vermuten, die Erzählung könne in das sprichwörtliche Sommerloch gefallen sein. Vor allem aber gab es zum gleichen Themenkomplex Hans Werner Richters Roman "Die Geschlagenen", der ein großer Publikumserfolg war.
Andersch war es also mit seiner Erzählung noch nicht gelungen, sich seinen Platz in der westdeutschen Nachkriegsliteratur zu erschreiben. In diesem Kontext ist 1952 die Publikation von "Die Kirschen der Freiheit" zu sehen. Dass Andersch darauf bestand, es handele sich um einen Bericht, ändert nichts daran, dass der Text vor allem ein Stück Literatur ist, beeinflusst nicht nur - wie die Etrurien-Erzählung - vom stilistischen Gestus Hemingways, sondern angereichert auch durch Sartres dezisionistische Freiheitsphilosophie. Der Stratege im Literaturkampf Andersch stellte sich also in einen europäisch-amerikanischen literarischen Zusammenhang und beanspruchte gegenüber Richters Roman gleichzeitig größere Authentizität.
Sich in diesem Text als Deserteur zu bekennen, ob gerechtfertigt oder nicht, erforderte unmittelbar nach dem Krieg und noch in den folgenden Jahrzehnten durchaus Mut, darauf weisen die Autoren hin. Man erinnere sich nicht nur des furchtbaren Juristen Filbinger, sondern auch der Tatsache, dass die letzten Urteile gegen Deserteure erst in den neunziger Jahren aufgehoben worden sind.
Das große Verdienst dieser Publikation besteht - neben der guten Lesbarkeit! - zum einen in der Auswertung und Darlegung neuer Quellen, zum anderen in der werkstrategischen Einordnung von Anderschs Desertionsnarrativ. Dass dieser Autor sich auf dem Markt wie in der kritischen Rezeption früh zu positionieren versucht hat, kann man ihm wahrlich nicht zum Vorwurf machen. Heutzutage gehört das schließlich bei jungen Autoren zur Grundausbildung. Über den literarischen Rang von Anderschs Romanen - etwa im Vergleich mit so großartigen Erzählungen wie "Ein Liebhaber des Halbschattens" - lässt sich natürlich weiter streiten. Das sollte aber nicht in der Sphäre einer Verdachtskultur geschehen.
JOCHEN SCHIMMANG
Jörg Döring, Felix Römer und Rolf Seubert: "Alfred Andersch desertiert". Fahnenflucht und Literatur (1944-1952).
Verbrecher Verlag, Berlin 2015. 277 S., br., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alfred Anderschs Verhalten im Dritten Reich ist umstritten: War er nun Deserteur, oder ist das eine Fiktion? Drei Wissenschaftler haben neue Quellen ausgewertet und die Erzählungen neu bewertet.
Im Jahr 1993 veröffentlichte W. G. Sebald in der Zeitschrift "Lettre International" eine Polemik gegen den Schriftsteller Alfred Andersch, die sechs Jahre später in den Band "Luftkrieg und Literatur" aufgenommen wurde. Diese erbitterte Abrechnung mit einem der renommiertesten Autoren der Nachkriegsjahrzehnte stellt in ihrem von einem regelrechten Hass getriebenen Ton den moralischen und stilistischen Tiefpunkt in Sebalds essayistischem Werk dar, so sehr, dass das "von Ehrgeiz, Selbstsucht, Ressentiment und Ranküne geplagte Innenleben", das Sebald bei Andersch auszumachen meint, eher bei ihm selbst vermutet werden könnte. Anlass zu dieser Polemik war neben der Kritik an Anderschs Werk vor allem die Arbeit Anderschs an der eigenen Biographie, insbesondere, was den Umgang mit seiner ersten, jüdischen Frau während des Dritten Reiches anging. Darüber hinaus lautet Sebalds impliziter Vorwurf etwa so: Andersch habe sich während dieser Zeit insgesamt opportunistisch verhalten, sich hinterher aber zu einer Art Widerstandskämpfer stilisiert.
An diesen Kontext muss hier erinnert werden, wenn man die nun im Berliner Verbrecher Verlag erschienene interdisziplinäre Arbeit dreier deutscher Wissenschaftler liest, die versucht, Anderschs Selbstkonstruktion als Autor und moralische Instanz in der Nachkriegszeit aus dem Bereich des bloßen Meinens und der Polemik in denjenigen der Fakten zu rücken, soweit sie überprüfbar sind. Hier geht es um Anderschs Fahnenflucht in Italien im Juni 1944 und deren Darstellung durch den Autor in drei aufeinanderfolgenden Texten: dem Prosastück "Amerikaner - erster Eindruck", noch 1944 geschrieben und in Auszügen erstmals in der Gefangenenzeitung "Der Ruf" erschienen, der Erzählung "Flucht in Etrurien", die im August 1950 in Fortsetzungen in dieser Zeitung erschien, und dem als Bericht deklarierten Text "Die Kirschen der Freiheit" aus dem Jahr 1952, der den Grundstein für Anderschs Positionierung in der westdeutschen Nachkriegsliteratur legte.
Die drei Autoren - ein Literaturwissenschaftler, ein Historiker und ein Erziehungswissenschaftler - stellen zunächst die Frage, ob Andersch überhaupt ein Deserteur war, und wenn ja, ob seine Desertion individuell erfolgte, wie es in den "Kirschen der Freiheit" dargestellt wird, oder im Verbund mit anderen, wie die etrurische Fluchterzählung andeutet. Die Frage ist legitim, weil man die Selbstauskunft des Autors, das Erste sei Fiktion, das Zweite aber authentischer Bericht gewesen, selbstverständlich nicht umstandslos übernehmen muss, zumal in Zeiten, da der Begriff der Autofiktion, dem die Autoren gleich drei Kapitel widmen, literaturwissenschaftlich Karriere gemacht hat.
Um sich der Antwort auf diese Frage zu nähern, haben die Autoren den Gang in die Archive angetreten und alle verfügbaren militärhistorischen Quellen ausgewertet. Dazu gehören selbstverständlich die Dokumente über die militärische Lage zum fraglichen Zeitpunkt, ebenso aber auch die amerikanischen Vernehmungsprotokolle von deutschen Gefangenen und Deserteuren sowohl in Italien wie später in den Gefangenencamps in den Vereinigten Staaten. Dazu zählt auch das Gefangenendossier Alfred Andersch aus dem amerikanischen Lager Fort Hunt. Danach werden die "Stationen der Autofiktion" anhand der drei obengenannten Texte untersucht und diese in den jeweiligen werkstrategischen Kontext gestellt. Ein anschließendes Kapitel widmet sich dem Bild des Deserteurs in der deutschen Nachkriegsliteratur und das vorletzte dem "Diskurs über die Deserteure in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft" - man darf hier sagen, dass es sich dabei um ein besonders trauriges Kapitel handelt. Danach ziehen die Autoren ihr Fazit.
Dieses Fazit ist maßvoll kritisch und frei von Polemik. Die Autoren können nachweisen, dass sich Andersch zumindest übers Datum seiner Gefangennahme respektive Desertion nachträglich entweder geirrt oder aber dieses Datum bewusst umgeschrieben hat, weil der 6. Juni 1944 als Tag der Invasion in der Normandie geschichtsträchtiger ist als der folgende. Ob Andersch ein Deserteur oder ein gewöhnlicher Gefangener war, lässt sich auch aus den neu erschlossenen Quellen nicht entscheiden.
Die Gefangenendossiers und Verhörprotokolle der Amerikaner verzeichneten nämlich von sich aus nur selten, ob der Gefangene ein Überläufer war oder nicht. Darüber hinaus ist nicht zu entscheiden, ob Anderschs Desertion, wenn es denn eine war, ein individueller Akt war oder gemeinsam mit anderen erfolgte. Die Liste über "Vermisste" aus Anderschs Einheit zum betreffenden Datum umfasst jedenfalls insgesamt 17 Personen. Vermisste konnten beim Marsch zurückgebliebene Personen oder bewusste Überläufer sein. Die Kampfmoral in Anderschs zusammengestoppelter Radfahrereinheit war offenbar nicht besonders hoch.
Die Selbstaussagen des Autors über die Vorgänge sind widersprüchlich. Eine leichte Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass der Obersoldat Andersch sich keineswegs allein von der Truppe entfernt hat. Döring/Römer/Seubert ordnen die drei obengenannten Texte werkstrategisch so ein: Der erste, noch im Lager für die Gefangenenzeitung geschrieben, vermeidet den Begriff der Desertion. Da der Deserteur nach dem militärischen Ehrenkodex sogar für Nicht-Nazis eine verachtenswerte Person war, unter den Gefangenen aber vor allem überzeugte Nazis den Ton angaben und auch Gewalt ausübten, darf man dies als Vorsichtsmaßnahme werten.
"Flucht in Etrurien" dagegen, als dezidiert literarischer Text geschrieben, stellt die Desertion (zusammen mit einem jungen Soldaten, der am Ende jedoch durch einen Schlangenbiss ums Leben kommt) in den Mittelpunkt. Umso überraschender ist die Tatsache, dass es auf den Abdruck dieser Erzählung im August 1950 nicht einen einzigen - empörten oder zustimmenden - Leserbrief gab. Die Autoren vermuten, die Erzählung könne in das sprichwörtliche Sommerloch gefallen sein. Vor allem aber gab es zum gleichen Themenkomplex Hans Werner Richters Roman "Die Geschlagenen", der ein großer Publikumserfolg war.
Andersch war es also mit seiner Erzählung noch nicht gelungen, sich seinen Platz in der westdeutschen Nachkriegsliteratur zu erschreiben. In diesem Kontext ist 1952 die Publikation von "Die Kirschen der Freiheit" zu sehen. Dass Andersch darauf bestand, es handele sich um einen Bericht, ändert nichts daran, dass der Text vor allem ein Stück Literatur ist, beeinflusst nicht nur - wie die Etrurien-Erzählung - vom stilistischen Gestus Hemingways, sondern angereichert auch durch Sartres dezisionistische Freiheitsphilosophie. Der Stratege im Literaturkampf Andersch stellte sich also in einen europäisch-amerikanischen literarischen Zusammenhang und beanspruchte gegenüber Richters Roman gleichzeitig größere Authentizität.
Sich in diesem Text als Deserteur zu bekennen, ob gerechtfertigt oder nicht, erforderte unmittelbar nach dem Krieg und noch in den folgenden Jahrzehnten durchaus Mut, darauf weisen die Autoren hin. Man erinnere sich nicht nur des furchtbaren Juristen Filbinger, sondern auch der Tatsache, dass die letzten Urteile gegen Deserteure erst in den neunziger Jahren aufgehoben worden sind.
Das große Verdienst dieser Publikation besteht - neben der guten Lesbarkeit! - zum einen in der Auswertung und Darlegung neuer Quellen, zum anderen in der werkstrategischen Einordnung von Anderschs Desertionsnarrativ. Dass dieser Autor sich auf dem Markt wie in der kritischen Rezeption früh zu positionieren versucht hat, kann man ihm wahrlich nicht zum Vorwurf machen. Heutzutage gehört das schließlich bei jungen Autoren zur Grundausbildung. Über den literarischen Rang von Anderschs Romanen - etwa im Vergleich mit so großartigen Erzählungen wie "Ein Liebhaber des Halbschattens" - lässt sich natürlich weiter streiten. Das sollte aber nicht in der Sphäre einer Verdachtskultur geschehen.
JOCHEN SCHIMMANG
Jörg Döring, Felix Römer und Rolf Seubert: "Alfred Andersch desertiert". Fahnenflucht und Literatur (1944-1952).
Verbrecher Verlag, Berlin 2015. 277 S., br., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main