Eines Tages entdeckt Miek Zwamborn bei Ebbe im Watt der schottischen Küste ein dunkles, braun glänzendes, von Noppen überzogenes Gebilde mit Stiel und wedelartigem Blatt. Ihr Staunen weicht der Neugierde, sie will mehr wissen über die ebenso zähen wie anmutigen niederen Pflanzen, die wir als Algen und Tang kennen und die seit 1,7 Milliarden Jahren die Gewässer der Erde bevölkern, ohne sich nennenswert weiterentwickelt zu haben. Die Alge, deren Zellen jede für sich in der Lage ist, sich selbst zu versorgen, zählt zu den anpassungsfähigsten, vitalsten und fruchtbarsten pflanzlichen Organismen auf der Erde, sie überlebt auch an den rauen und turbulenten Küsten aller Klimazonen, von den Tropen bis zum Polar. Die etwa 10 000 verschiedenen Arten halten Stürmen stand, eindringenden Sonnenstrahlen, sogar der Übersäuerung und bleiben trotz aller Widrigkeiten stets geschmeidig. Zwamborn begibt sich auf die Spur dieser Wunderpflanzen und findet Geschichten, in denen sich das Unscheinbare mit dem Gewaltigen, das Persönliche mit dem Historischen und das Naheliegende mit dem Abseitigen verbindet.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.07.2019Blumen aus wilder See
Vital, anpassungsfähig und sehr zählebig: Miek Zwamborn porträtiert die Welt der Algen
Tausende Hände fächeln in den Wellen. An langen schmalen Handgelenken winken sie Tag für Tag der Küste und sich selber zu, ein riesiger Unterwasserapplaus. Der Fingertang hat eine breite, bräunliche Blattfläche, die an mehreren Stellen tief eingeschnitten ist. Die Alge wird über zwei Meter groß, sie fühlt sich weich und klebrig an – und sie glänzt so stark, dass sich in ihr der Himmel spiegelt.
Algen sind die großen Fantasieanreger unter den Pflanzen. Mit ihrer mal schlangenartigen, mal strauchwerkartigen Struktur waren sie schon in der Antike Vorbilder für Geschichten von Seeungeheuern oder „geronnenen Meeren“. Sie sind geschmeidig, können tänzeln und lassen sich nur schwer greifen. Aber nicht nur in metaphorischer Hinsicht gehören Algen zu den beweglichsten und am meisten verbreiteten Lebewesen auf der Erde. Kieselalgen etwa sind der Hauptbestandteil des Phytoplanktons, sie erzeugen rund die Hälfte der gesamten Biomasse im Meer und einen Großteil des Sauerstoffs in der Erdatmosphäre. Die meisten der vielen Tausend bekannten Algenarten lassen sich grob in sechs Gruppen einteilen, die nach Farben benannt sind, von der Rot- über die Grün- bis zur Blaualge. Dabei sind zahllose Tangarten auf der Erde noch gar nicht entdeckt.
Die niederländische Dichterin Miek Zwamborn hat der Alge nun ein Buch gewidmet, in dem sie sich von der Kraft der Alge anregen lässt und für ihre Sätze eine ganz eigene Art von Beweglichkeit findet. An einer Stelle schwärmt sie von einem Algenherbar aus dem 19. Jahrhundert, das in der Universitätsbibliothek Basel aufbewahrt wird. Die Herausgeberin, schreibt sie, habe ihr Material geliebt und es zugleich gezähmt. Das Album sei nicht nach einem der bekannten Systeme angelegt, es folge vielmehr einem „persönlichen Prinzip“.
Genau das macht auch Miek Zwamborn. Sie stellte wissenschaftliche Erkenntnisse neben kulturhistorische Funde, die sich vor allem ihrer Lust auf Gedichte, Filme und kunstvolle Algenzeichnungen verdanken. Mitten hinein setzt sie immer wieder detailstarke Skizzen ihrer eigenen Erlebnisse mit Algen, beim Wandern an Küsten oder beim Schnorcheln vor der schottischen Isle of Mull, wo sie seit einiger Zeit wohnt.
„Eine Alge kann man aus dem Herbar nehmen und wieder ins Wasser legen. Egal, wie alt sie ist, erlangt sie ihre ursprüngliche Elastizität zurück“, notiert Zwamborn einmal. Das gilt auch für ihre eigenen Sätze. Wenn man sie liest und auf der Zunge und im Kopf hin und her bewegt, spürt man ihre Lebendigkeit. Das ist nicht zuletzt Bettina Bachs einfühlsamer Übersetzung zu verdanken, die noch für die kleinste Beobachtung wahrnehmungsgenaue Formulierungen findet.
Es liegt aber vor allem an Miek Zwamborns eigener Begeisterung für die Welt der Algen. Jede Alge, jedes Gedicht, jedes Bild behandelt sie mit einer solchen Aufmerksamkeit, dass man beim Lesen selber anfängt, Algen zu lieben. Oder wenigstens mit einem veränderten Blick die Küste und ihre beweglichen Bewohner zu betrachten. Mit Zwamborns Blick: „Schwarz verfärbt sieht der glänzende, kopfunter hängende Purpurtang wie eine Kolonie schlafender Fledermäuse aus.“ Den schwarzen Glanz und die vielen anderen Farben und Formen der Algen kann man sich auf den Abbildungen des schön gemachten tanggrünen Buches selber ansehen.
Doch der Glanz der Algen ist nicht alles. Zwamborn schreibt über die Namen und die Gerüche der Algen und zeigt deren Anwendung in der Medizin. Dazu gibt es ein Kapitel mit eigenen Kochrezepten, zu „Pfeffertang-Joghurt“ etwa oder „Taiwanesischen Knotentangknoten“. Letztere lassen sich nicht so leicht zubereiten, denn die Wedel des Knotentangs sind über einen Meter lang und dürfen nur zu einem Drittel abgeschnitten werden.
Wie zählebig manche Algenarten sind, verdeutlichte ein Experiment mit einer norwegischen Grünalge. Sie wurde in Form eingekapselter Sporen an der Außenseite der internationalen Raumstation ISS angebracht. 530 Tage lang überlebte sie nicht nur das Vakuum im Weltraum, sondern auch Temperaturen zwischen minus 20 und plus 47,2 Grad Celsius inklusive kosmischer und ultravioletter Strahlung. Die Widerstandsfähigkeit von Algen, ihr ausgezeichneter Nährwert und ihre komplexe Struktur verleiten Zwamborn am Ende ihres Buches zu der Hoffnung, die Anwendung von Algen könnte Lösungen für die weltweiten Nahrungs- und Brennstoffprobleme bereitstellen.
Bei aller Faszination vermisst man einen Hinweis auf die Gefährdung der Meere. Der „Great Pacific Garbage Patch“ zum Beispiel, jener gigantische Wirbel im nördlichen Pazifik, besteht aus Millionen von Plastikteilen, die durch die Gezeiten und durch Wellenbewegungen teilweise zu kleinsten Partikeln zerschilfert werden. Das bedroht nicht nur Algenpopulationen. Ausgerechnet einige robustere Arten der Algen binden solche Mikroplastikteilchen an sich und transportieren sie in tiefere Wasserschichten, wo sie auf andere Lebewesen treffen, die das Mikroplastik fressen und daran sterben.
Könnten Algen sprechen, würden sie sich vielleicht so beschreiben: „Blumen sind wir / Von der wilden See / Und der felsigen Küste; / Zwischen den Wellen geboren / In verborgenen Höhlen / Als die Sturmwolken aufzogen“. Miek Zwamborn hat diese Verse in dem Basler Algenherbar gefunden. Dessen Herausgeberin habe ihr Instrument zum Präparieren wie ein Malwerkzeug behandelt. So sei ein Bändchen entstanden, „wunderschön und bescheiden“. Ein solches Buch ist auch „Algen“. Wie Zwamborns Funde schwebt es zwischen Wissenschaft und Kunst.
NICO BLEUTGE
Miek Zwamborn: Algen. Ein Porträt. Aus dem Niederländischen von Bettina Bach. Matthes & Seitz, Berlin 2019. 168 Seiten, 20 Euro.
Vielleicht taugen Algen
zur Lösung von Nahrungs-
und Brennstoffproblemen
„Zwischen den Wellen geboren / In verborgenen Höhlen / Als die Sturmwolken aufzogen“: Riesentang vor den Islas San Benito im Pazifik.
Foto: imago/OceanPhoto
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Vital, anpassungsfähig und sehr zählebig: Miek Zwamborn porträtiert die Welt der Algen
Tausende Hände fächeln in den Wellen. An langen schmalen Handgelenken winken sie Tag für Tag der Küste und sich selber zu, ein riesiger Unterwasserapplaus. Der Fingertang hat eine breite, bräunliche Blattfläche, die an mehreren Stellen tief eingeschnitten ist. Die Alge wird über zwei Meter groß, sie fühlt sich weich und klebrig an – und sie glänzt so stark, dass sich in ihr der Himmel spiegelt.
Algen sind die großen Fantasieanreger unter den Pflanzen. Mit ihrer mal schlangenartigen, mal strauchwerkartigen Struktur waren sie schon in der Antike Vorbilder für Geschichten von Seeungeheuern oder „geronnenen Meeren“. Sie sind geschmeidig, können tänzeln und lassen sich nur schwer greifen. Aber nicht nur in metaphorischer Hinsicht gehören Algen zu den beweglichsten und am meisten verbreiteten Lebewesen auf der Erde. Kieselalgen etwa sind der Hauptbestandteil des Phytoplanktons, sie erzeugen rund die Hälfte der gesamten Biomasse im Meer und einen Großteil des Sauerstoffs in der Erdatmosphäre. Die meisten der vielen Tausend bekannten Algenarten lassen sich grob in sechs Gruppen einteilen, die nach Farben benannt sind, von der Rot- über die Grün- bis zur Blaualge. Dabei sind zahllose Tangarten auf der Erde noch gar nicht entdeckt.
Die niederländische Dichterin Miek Zwamborn hat der Alge nun ein Buch gewidmet, in dem sie sich von der Kraft der Alge anregen lässt und für ihre Sätze eine ganz eigene Art von Beweglichkeit findet. An einer Stelle schwärmt sie von einem Algenherbar aus dem 19. Jahrhundert, das in der Universitätsbibliothek Basel aufbewahrt wird. Die Herausgeberin, schreibt sie, habe ihr Material geliebt und es zugleich gezähmt. Das Album sei nicht nach einem der bekannten Systeme angelegt, es folge vielmehr einem „persönlichen Prinzip“.
Genau das macht auch Miek Zwamborn. Sie stellte wissenschaftliche Erkenntnisse neben kulturhistorische Funde, die sich vor allem ihrer Lust auf Gedichte, Filme und kunstvolle Algenzeichnungen verdanken. Mitten hinein setzt sie immer wieder detailstarke Skizzen ihrer eigenen Erlebnisse mit Algen, beim Wandern an Küsten oder beim Schnorcheln vor der schottischen Isle of Mull, wo sie seit einiger Zeit wohnt.
„Eine Alge kann man aus dem Herbar nehmen und wieder ins Wasser legen. Egal, wie alt sie ist, erlangt sie ihre ursprüngliche Elastizität zurück“, notiert Zwamborn einmal. Das gilt auch für ihre eigenen Sätze. Wenn man sie liest und auf der Zunge und im Kopf hin und her bewegt, spürt man ihre Lebendigkeit. Das ist nicht zuletzt Bettina Bachs einfühlsamer Übersetzung zu verdanken, die noch für die kleinste Beobachtung wahrnehmungsgenaue Formulierungen findet.
Es liegt aber vor allem an Miek Zwamborns eigener Begeisterung für die Welt der Algen. Jede Alge, jedes Gedicht, jedes Bild behandelt sie mit einer solchen Aufmerksamkeit, dass man beim Lesen selber anfängt, Algen zu lieben. Oder wenigstens mit einem veränderten Blick die Küste und ihre beweglichen Bewohner zu betrachten. Mit Zwamborns Blick: „Schwarz verfärbt sieht der glänzende, kopfunter hängende Purpurtang wie eine Kolonie schlafender Fledermäuse aus.“ Den schwarzen Glanz und die vielen anderen Farben und Formen der Algen kann man sich auf den Abbildungen des schön gemachten tanggrünen Buches selber ansehen.
Doch der Glanz der Algen ist nicht alles. Zwamborn schreibt über die Namen und die Gerüche der Algen und zeigt deren Anwendung in der Medizin. Dazu gibt es ein Kapitel mit eigenen Kochrezepten, zu „Pfeffertang-Joghurt“ etwa oder „Taiwanesischen Knotentangknoten“. Letztere lassen sich nicht so leicht zubereiten, denn die Wedel des Knotentangs sind über einen Meter lang und dürfen nur zu einem Drittel abgeschnitten werden.
Wie zählebig manche Algenarten sind, verdeutlichte ein Experiment mit einer norwegischen Grünalge. Sie wurde in Form eingekapselter Sporen an der Außenseite der internationalen Raumstation ISS angebracht. 530 Tage lang überlebte sie nicht nur das Vakuum im Weltraum, sondern auch Temperaturen zwischen minus 20 und plus 47,2 Grad Celsius inklusive kosmischer und ultravioletter Strahlung. Die Widerstandsfähigkeit von Algen, ihr ausgezeichneter Nährwert und ihre komplexe Struktur verleiten Zwamborn am Ende ihres Buches zu der Hoffnung, die Anwendung von Algen könnte Lösungen für die weltweiten Nahrungs- und Brennstoffprobleme bereitstellen.
Bei aller Faszination vermisst man einen Hinweis auf die Gefährdung der Meere. Der „Great Pacific Garbage Patch“ zum Beispiel, jener gigantische Wirbel im nördlichen Pazifik, besteht aus Millionen von Plastikteilen, die durch die Gezeiten und durch Wellenbewegungen teilweise zu kleinsten Partikeln zerschilfert werden. Das bedroht nicht nur Algenpopulationen. Ausgerechnet einige robustere Arten der Algen binden solche Mikroplastikteilchen an sich und transportieren sie in tiefere Wasserschichten, wo sie auf andere Lebewesen treffen, die das Mikroplastik fressen und daran sterben.
Könnten Algen sprechen, würden sie sich vielleicht so beschreiben: „Blumen sind wir / Von der wilden See / Und der felsigen Küste; / Zwischen den Wellen geboren / In verborgenen Höhlen / Als die Sturmwolken aufzogen“. Miek Zwamborn hat diese Verse in dem Basler Algenherbar gefunden. Dessen Herausgeberin habe ihr Instrument zum Präparieren wie ein Malwerkzeug behandelt. So sei ein Bändchen entstanden, „wunderschön und bescheiden“. Ein solches Buch ist auch „Algen“. Wie Zwamborns Funde schwebt es zwischen Wissenschaft und Kunst.
NICO BLEUTGE
Miek Zwamborn: Algen. Ein Porträt. Aus dem Niederländischen von Bettina Bach. Matthes & Seitz, Berlin 2019. 168 Seiten, 20 Euro.
Vielleicht taugen Algen
zur Lösung von Nahrungs-
und Brennstoffproblemen
„Zwischen den Wellen geboren / In verborgenen Höhlen / Als die Sturmwolken aufzogen“: Riesentang vor den Islas San Benito im Pazifik.
Foto: imago/OceanPhoto
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Es liegt aber vor allem an Miek Zwamborns eigener Begeisterung für die Welt der Algen. Jede Alge, jedes Gedicht, jedes Bild behandelt sie mit einer solchen Aufmerksamkeit, dass man beim Lesen selber anfängt, Algen zu lieben.« Nico Bleutge SZ - Süddeutsche Zeitung online 20190722