»Wenn die neue Zeit einen neuen Dichter hervorgebracht hat: hier ist er« Kurt Tucholsky, 1920 Walter Mehring, einer der ganz großen und fast vergessenen Autoren des 20. Jahrhunderts, veröffentlichte diese burleske Satire auf den Tourismus 1925. Algier oder die 13 Oasenwunder gilt vielen als Mehrings bestes Prosabuch. Diese ebenso wortgewaltigen wie amüsanten Geschichten, Münchhausiaden und kulturgeschichtlichen Exkurse haben an Aktualität wie sprachlicher Brillianz nichts eingebüßt. Die Zerstörung der Kultur eines Landes und die Kolonialherrenmentalität der »kultivierten« Europäer gegenüber den »Eingeborenen« sind so bissig, realistisch und witzig noch selten dargestellt worden. So werden »Herren« beschrieben, die mit Spazierstöcken in den »Faulenzenden« herumstochern, »Damen«, die Arme und Sieche wie Tiere im Zoo begaffen, Forscher, die jeden Koranlesenden für Studierzwecke benutzen, und Pauschalreisende, die nach Algier kommen, um den »Wildbestand« der arabischen Frauen zu testen. Die Reisenden verschlingen ganze Landstriche, und für Geld ist allemal alles zu haben. Kurt Pinthus schrieb 1927 über Algier: »Würde ich sagen, dies Buch sei gut, so wäre das zu wenig; und wenn ich erklären wollte, wie es und was es alles ist, dann müßte so viel gesagt werden, daß es schon das Gescheiteste und Einfachste ist, schlichtweg aber energisch zu empfehlen: Jedermann lese das Buch selbst«.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2023Das seltsamste Reisebuch aller Zeiten
Ein Lyriker der Avantgarde: Walter Mehrings "Algier oder die 13 Oasenwunder" von 1927 zeigt die schon damals absurden Seiten des Tourismus. Nun erscheint das Werk in einer Neuausgabe, die
manches vermissen lässt.
Dem antiken Mythos nach findet der Satyr Marsyas die Doppelflöte, die von Athene weggeworfen worden war, weil das Spielen auf ihr die göttlichen Gesichtszüge verzerrt hatte, und lernt sie so meisterlich zu beherrschen, dass er bald Apollo zum Wettkampf herausfordert. Mit Bezug auf dieses Vorbild (in einer allerdings etwas verkürzenden Interpretation) hat es sich der gerade gegründete Wiener Marsyas Verlag zur Aufgabe gemacht, "achtlos weggeworfene literarische Kleinode" zu "bergen".
Dieses Vorhaben ist unbedingt zu begrüßen, und zweifellos ist Walter Mehrings Text "Algier oder die 13 Oasenwunder" aus dem Jahr 1927, der bei Marsyas jetzt in einer neuen Ausgabe mit den originalen Illustrationen des Autors erschienen ist, ein solches Kleinod. Zwar kann man wohl nicht sagen, er sei marginalisiert worden (immerhin wurde er seit 1965 mehrfach wieder aufgelegt), inzwischen ist er aber - wie sein Autor - in Vergessenheit geraten. Das indes ist bedauerlich, denn es handelt sich dabei um einen bemerkenswerten Text. Wollte man ihn einer Gattung zuordnen, wäre das am ehesten die Reiseerzählung - doch auch wieder nicht, wie schon Kurt Pinthus in seiner Rezension der Erstausgabe feststellte: "Das ist, weiß der Himmel, das seltsamste je erschienene Reisebuch."
Seltsam ist der Text schon allein aufgrund seiner sprachlichen Form: Mehring schreibt eine virtuose, kunstvoll überdrehte Prosa, der man auf jeder Seite anmerkt, dass sie von einem Autor stammt, der in erster Linie ein durch die Schule der Avantgarden gegangener Lyriker war. Von der Sprache konventioneller Reiseberichte ist das denkbar weit entfernt, und das gilt auch für die Gliederung in 13 heterogene Abschnitte mit Überschriften, die einem Abenteuerroman entnommen sein könnten, und die ins Phantastische übergehenden Binnenerzählungen. Man hat es demnach mit einer Reiseerzählung und zugleich einer Parodie dieser Gattung zu tun. Vor allem ist diese Erzählung aber eine Satire, die den europäischen Nordafrika-Tourismus der Zwischenkriegszeit so angriffslustig wie scharfsichtig ins Visier nimmt. Von ferne fühlt man sich an die Kreuzfahrt-Satire "Schrecklich amüsant - aber in Zukunft ohne mich" von David Foster Wallace erinnert. Doch Mehrings Text ist abgründiger: Er berichtet nicht nur von den absurden Seiten des "Cook-Tourismus", sondern auch von Schädelmessungen, Prostitution, Sex mit Minderjährigen, Gewalt, und dies alles ist grundiert von dem tief sitzenden Rassismus der Touristen und Reiseveranstalter. Mehring registriert ihn genau, auch in seinen Auswirkungen auf die Betroffenen, etwa bei der Charakterisierung des bestens gekleideten muslimischen "Guides": "Hätten sonst all die Islambegeisterten Damen die Überlegenheit ihrer Rasse in seiner Umarmung vergessen?" An solchen Stellen ist der Text erschreckend aktuell.
Wurde dieses Kleinod in der neuen Ausgabe also erfolgreich geborgen? Ja und nein. Denn leider hat der Verlag darauf verzichtet, das Geborgene dem Publikum von heute auch zu erschließen, obwohl dies dringend nötig gewesen wäre, nicht nur wegen der Polyglossie des Textes, in dem auch Arabisch und Norwegisch gesprochen wird. Dass man ihm keinen Kommentar beigeben wollte, mag noch verständlich sein - andererseits hätte es hilfreiche Vorarbeiten dazu in der Ausgabe der "Werke" Mehrings von 1980 gegeben.
Die neue Ausgabe hat aber nicht einmal ein Nachwort, dem man etwa entnehmen könnte, wann und unter welchen Umständen Mehring nach Algier gereist war oder was George Grosz, Walter Hasenclever und Ernst Toller (die im Inhaltsverzeichnis genannt werden) mit dieser Reise zu tun hatten. Stattdessen muss man sich mit einem Klappentext zufriedengeben, der den Text falsch datiert. Das ist schade, und es wäre sehr zu wünschen, dass der Marsyas Verlag bei seinen vielversprechenden Bergungsarbeiten in Zukunft sorgfältiger vorgeht. FRIEDER VON AMMON
Walter Mehring: "Algier oder die 13 Oasenwunder."
Mit 14 Zeichnungen von Walter Mehring. Marsyas Verlag, Wien 2023. 116 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Lyriker der Avantgarde: Walter Mehrings "Algier oder die 13 Oasenwunder" von 1927 zeigt die schon damals absurden Seiten des Tourismus. Nun erscheint das Werk in einer Neuausgabe, die
manches vermissen lässt.
Dem antiken Mythos nach findet der Satyr Marsyas die Doppelflöte, die von Athene weggeworfen worden war, weil das Spielen auf ihr die göttlichen Gesichtszüge verzerrt hatte, und lernt sie so meisterlich zu beherrschen, dass er bald Apollo zum Wettkampf herausfordert. Mit Bezug auf dieses Vorbild (in einer allerdings etwas verkürzenden Interpretation) hat es sich der gerade gegründete Wiener Marsyas Verlag zur Aufgabe gemacht, "achtlos weggeworfene literarische Kleinode" zu "bergen".
Dieses Vorhaben ist unbedingt zu begrüßen, und zweifellos ist Walter Mehrings Text "Algier oder die 13 Oasenwunder" aus dem Jahr 1927, der bei Marsyas jetzt in einer neuen Ausgabe mit den originalen Illustrationen des Autors erschienen ist, ein solches Kleinod. Zwar kann man wohl nicht sagen, er sei marginalisiert worden (immerhin wurde er seit 1965 mehrfach wieder aufgelegt), inzwischen ist er aber - wie sein Autor - in Vergessenheit geraten. Das indes ist bedauerlich, denn es handelt sich dabei um einen bemerkenswerten Text. Wollte man ihn einer Gattung zuordnen, wäre das am ehesten die Reiseerzählung - doch auch wieder nicht, wie schon Kurt Pinthus in seiner Rezension der Erstausgabe feststellte: "Das ist, weiß der Himmel, das seltsamste je erschienene Reisebuch."
Seltsam ist der Text schon allein aufgrund seiner sprachlichen Form: Mehring schreibt eine virtuose, kunstvoll überdrehte Prosa, der man auf jeder Seite anmerkt, dass sie von einem Autor stammt, der in erster Linie ein durch die Schule der Avantgarden gegangener Lyriker war. Von der Sprache konventioneller Reiseberichte ist das denkbar weit entfernt, und das gilt auch für die Gliederung in 13 heterogene Abschnitte mit Überschriften, die einem Abenteuerroman entnommen sein könnten, und die ins Phantastische übergehenden Binnenerzählungen. Man hat es demnach mit einer Reiseerzählung und zugleich einer Parodie dieser Gattung zu tun. Vor allem ist diese Erzählung aber eine Satire, die den europäischen Nordafrika-Tourismus der Zwischenkriegszeit so angriffslustig wie scharfsichtig ins Visier nimmt. Von ferne fühlt man sich an die Kreuzfahrt-Satire "Schrecklich amüsant - aber in Zukunft ohne mich" von David Foster Wallace erinnert. Doch Mehrings Text ist abgründiger: Er berichtet nicht nur von den absurden Seiten des "Cook-Tourismus", sondern auch von Schädelmessungen, Prostitution, Sex mit Minderjährigen, Gewalt, und dies alles ist grundiert von dem tief sitzenden Rassismus der Touristen und Reiseveranstalter. Mehring registriert ihn genau, auch in seinen Auswirkungen auf die Betroffenen, etwa bei der Charakterisierung des bestens gekleideten muslimischen "Guides": "Hätten sonst all die Islambegeisterten Damen die Überlegenheit ihrer Rasse in seiner Umarmung vergessen?" An solchen Stellen ist der Text erschreckend aktuell.
Wurde dieses Kleinod in der neuen Ausgabe also erfolgreich geborgen? Ja und nein. Denn leider hat der Verlag darauf verzichtet, das Geborgene dem Publikum von heute auch zu erschließen, obwohl dies dringend nötig gewesen wäre, nicht nur wegen der Polyglossie des Textes, in dem auch Arabisch und Norwegisch gesprochen wird. Dass man ihm keinen Kommentar beigeben wollte, mag noch verständlich sein - andererseits hätte es hilfreiche Vorarbeiten dazu in der Ausgabe der "Werke" Mehrings von 1980 gegeben.
Die neue Ausgabe hat aber nicht einmal ein Nachwort, dem man etwa entnehmen könnte, wann und unter welchen Umständen Mehring nach Algier gereist war oder was George Grosz, Walter Hasenclever und Ernst Toller (die im Inhaltsverzeichnis genannt werden) mit dieser Reise zu tun hatten. Stattdessen muss man sich mit einem Klappentext zufriedengeben, der den Text falsch datiert. Das ist schade, und es wäre sehr zu wünschen, dass der Marsyas Verlag bei seinen vielversprechenden Bergungsarbeiten in Zukunft sorgfältiger vorgeht. FRIEDER VON AMMON
Walter Mehring: "Algier oder die 13 Oasenwunder."
Mit 14 Zeichnungen von Walter Mehring. Marsyas Verlag, Wien 2023. 116 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Frieder von Ammon freut sich, dass der Marsyas-Verlag den vergessenen Autor Walter Mehring wiederauflegt. In seinen vorliegenden Reiseerzählungen, die 1927 erstveröffentlicht wurden, beschreibt Mehring den europäischen Tourismus nach Nordafrika als eine "ins Phantastische übergehende Binnenerzählung", wobei er auch immer noch aktuelle Themen wie den "tief sitzenden Rassismus" der europäischen Touristen anspricht, schreibt Ammon. Dass die Ausgabe mit den originalen Illustrationen von Mehring erscheint, freut Ammon. Ganz gelungen findet Ammon diese Ausgabe allerdings nicht: Fremdsprachige Stellen werden nicht übersetzt, nicht mal mit einem Kommentar versehen, erfahren wir. Ein Nachwort zur Einordnung des Werks fehlt auch - eigentlich schade, findet Ammon.
© Perlentaucher Medien GmbH
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