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Grace Marks ist eine historische Gestalt, deren Geschichte in Kanada um 1840 großes Aufsehen erregte. Im Alter von 16 Jahren wurde das schöne junge Mädchen des Mordes an ihrem Arbeitgeber und dessen Haushälterin und Geliebten für schuldig befunden und zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt. Nach langen Haftjahren wird sie, dank der Bemühungen des jungen Nervenarztes Simon Jordan, der von ihrer Unschuld überzeugt ist, in die Freiheit entlassen. Der erfolgreichen kanadischen Autorin Margaret Atwood gelingt es, das Schicksal dieser schwerdurchschaubaren Frau vor dem Hintergrund einer…mehr

Produktbeschreibung
Grace Marks ist eine historische Gestalt, deren Geschichte in Kanada um 1840 großes Aufsehen erregte. Im Alter von 16 Jahren wurde das schöne junge Mädchen des Mordes an ihrem Arbeitgeber und dessen Haushälterin und Geliebten für schuldig befunden und zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt. Nach langen Haftjahren wird sie, dank der Bemühungen des jungen Nervenarztes Simon Jordan, der von ihrer Unschuld überzeugt ist, in die Freiheit entlassen. Der erfolgreichen kanadischen Autorin Margaret Atwood gelingt es, das Schicksal dieser schwerdurchschaubaren Frau vor dem Hintergrund einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung überzeugend darzustellen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.1996

Eine Steppdecke für Lady Macbeth
Vielleicht auch für Ophelia: Margaret Atwood liefert Handarbeit / Von Kristina Maidt-Zinke

Früher, als die Frauen noch nicht so viele dicke Bücher lesen und schreiben mußten wie heute, hatten sie Muße, sich allerlei vertrackten Handarbeitstechniken zu widmen. Ein beliebter Zeitvertreib der viktorianischen Epoche war in England und Amerika die Herstellung von Patchwork-Quilts, Steppdecken aus bunten Stoffresten, die in kleine und kleinste Teile zerschnitten, zu geometrischen Mustern gefügt und unter Anwendung komplizierter Stichfolgen mit Wolle oder Baumwolle wattiert wurden. Die Muster, von Generationen emsiger Näherinnen ersonnen und überliefert, spielten mit bedeutungsschweren Namen wie "Zerbrochenes Geschirr", "Das Fräulein vom See" oder "Die Büchse der Pandora" auf Ereignisse aus der privaten Chronik, auf literarische oder mythologische Motive an. Im Zusammenwirken von Lammsgeduld und Kunstfertigkeit entstanden textile Wunderwerke, mit denen sich vieles zudecken ließ - nur nicht das Böse, dessen unheimliche Anziehungskraft die Schauerromane jener Zeit beflügelte und das, wenn es leibhaftig auftrat, die Öffentlichkeit auch damals schon in blutrünstige Erregung versetzte.

Kanada, das wilde Kanada, hatte um die Mitte des vorigen Jahrhunderts nicht bloß eine florierende Quiltkultur, sondern auch einen sensationellen Mordfall: Die zur Tatzeit sechzehnjährige Dienstmagd Grace Marks wurde 1843 angeklagt, gemeinsam mit ihrem angeblichen Liebhaber, dem Knecht James McDermott, ihren Arbeitgeber Thomas Kinnear durch Axtschläge getötet und dessen schwangere Haushälterin und Geliebte Nancy Montgomery erdrosselt zu haben. Die Verquickung von Sex, Gewalt und Unterschicht-Rebellion in dieser moritatenreifen Affäre besaß für das viktorianische Publikum eine solche Zugkraft, daß beim Prozeß der Fußboden des Gerichtssaals wegen Überlastung einbrach.

McDermott wurde im Beisein einer aufgebrachten Volksmenge gehängt; das Todesurteil gegen Grace Marks wandelten die Richter im letzten Augenblick in eine lebenslange Gefängnisstrafe um. Man begnadigte sie nach dreißig Jahren Haft, die sie teilweise in der Irrenanstalt von Toronto verbrachte. Ihre Rolle bei der Planung und Ausführung des Verbrechens konnte nie eindeutig geklärt werden; ihre auffallende Attraktivität und ihr rätselhaftes Verhalten versorgten zahlreiche Kommentatoren über Jahrzehnte mit Stoff für Mutmaßungen und Meinungskämpfe.

Margaret Atwood, Kanadas maliziöse Vorzeigeautorin und Beinahe-Feministin, fand schon in ihren Studienjahren Geschmack an der Geschichte der mörderischen Magd, versuchte sich vergeblich an einem Opernlibretto und schrieb 1974 ein Fernsehspiel mit dem Titel "The Servant Girl", das auf den melodramatischen Schilderungen der Marks-Zeitgenossin Susanna Moodie basierte und, wie es in einer Nachbemerkung zum Roman "alias Grace" heißt, "jetzt nicht mehr als definitiv angesehen werden kann". Definitiv, im Sinne von endgültig, ist aber hoffentlich der Roman, denn nach gut sechshundert engbedruckten Seiten wird das Gefühl unabweisbar, über Miss Marks nun ein für allemal genug zu wissen.

Wie zu erwarten war, hat Mrs. Atwood, Tochter eines Insektenforschers, bei ihrer fiktiven Rekonstruktion der Ereignisse gründliche Arbeit geleistet: Penibler kann man kaum recherchieren, disziplinierter kann man mit dem eigenen Erfindungsreichtum nicht umgehen, und mehr Ausgewogenheit kann man einer möglicherweise zu Unrecht Verurteilten im nachhinein nicht angedeihen lassen. Wenn uns am Ende die Frage nach Graces' Schuld oder Unschuld, Wahnsinn oder Nichtwahnsinn so brennend interessiert wie ein in Kanada umgekippter Holzstapel, dann beweist das, daß sich ein Fall auch mit literarischen Mitteln restlos erledigen läßt.

Der epische Aufwand ist beträchtlich. Sechzehn Jahre nach ihrer Inhaftierung gibt Grace Marks, wegen guter Führung als Zugehfrau im Haus des Gefängnisdirektors beschäftigt, ihre eigene Geschichte zu Protokoll, teils als Ich-Erzählerin des Romans, teils im Gespräch mit dem jungen Nervenarzt und Gedächtnisspezialisten Dr. Simon Jordan, der Graces' Behauptung überprüfen will, sie könne sich an die Geschehnisse der Mordnacht nicht erinnern. Über den Doktor und seine Gefühlsverwirrungen, seine Beratungen mit Graces' Anwalt und einem ihr wohlgesinnten Geistlichen wird in der dritten Person berichtet; eingefügt sind ferner authentische und fiktive Briefe, Auszüge aus zeitgenössischen Kommentaren zum Kinnear-Mord sowie passende Perlen aus dem lyrischen Schatzkästlein der Romantik, etwa von Emily Brontë: "Die Gefangene hob das Gesicht, es war so sanft und lind/ Wie ein marmorner Heil'ger oder ein schlummerndes Kind."

In neueren Interviews hat die Autorin häufig ihre Absicht bekundet, die "böse Frau" als Romanheldin wiederaufleben zu lassen, die sie in der Nachkriegsliteratur vermißt. Cordelia in "Katzenauge" war nur ein bösartiges Mädchen, und Zenia, die "Räuberbraut", geriet eher zur Karikatur des weiblichen Dämons. Atwoods erklärtes Projekt ist eine Kreuzung zwischen Lady Macbeth und Ophelia, eine leidende Verbrecherin nach Art der Lucia di Lammermoor, Täterin und Opfer in Personalunion. Die enigmatische Grace Marks hätte durchaus das Zeug zu einer solchen Heroine gehabt, wäre ihre Persönlichkeit hier nicht so detailbesessen ausgeleuchtet, in all ihren Facetten und Widersprüchen so plausibel und letzten Endes harmlos dargestellt worden, daß ihr dabei das literarische Format abhanden kam.

Jedenfalls steht Margaret Atwood, spätestens seit ihrem utopischen Gruselroman "Der Report der Magd" mit patriarchalisch unterdrückten Dienerinnen verbündet, eindeutig und engagiert auf der Seite ihrer Heldin. Das konnte ja nur böse enden: die entbehrungsreiche Kindheit in Irland, die Trunksucht des Vaters, der Tod der Mutter auf der Überfahrt nach Kanada, Graces' frühe Stellungssuche unter ökonomischem Zwang, ihre seelische Erschütterung durch das tragische Schicksal ihrer Freundin Mary Whitney, deren Namen sie annimmt, als sie mit dem üblen Macho James McDermott vom Ort des Verbrechens fliehen muß. Trotz des Übermaßes an Prüfungen bewahrt sich Grace Marks lauter respektable Eigenschaften: sie ist gutherzig und gläubig, stolz und selbstgenügsam, dabei empfänglich für Freundlichkeit und Harmonie; sie neigt zu ironischen Aperçus und deftigen Lebensweisheiten, kann keinem Tier etwas zuleide tun und hält sich die Männer vom Leib, die hier nach bewährter Atwood-Manier mit Seitenhieben reichlich bedacht werden.

Graces' Nachtseite hat die Autorin in eine moderat mysteriöse Persönlichkeitsspaltung verlegt, die sie zu gelegentlichem Schlafwandeln umtreibt und sie glauben (oder vorspiegeln) läßt, vom Geist der verstorbenen Mary Whitney, ihrem "Alias", besessen zu sein. Aus diesem erzählerischen Trick ergibt sich die Gelegenheit, die damals aktuelle Konfrontation zwischen der spiritistischen Mode und den Anfängen der modernen Psychiatrie zu thematisieren. Darüber erfährt der am neunzehnten Jahrhundert interessierte Leser eine ganze Menge, ebenso über die Zustände auf Auswandererschiffen, den Alltag in Gefängnissen, Ansätze zur Reform der Nervenheilanstalten und die vielfältigen Aufgaben von Dienstmädchen in herrschaftlichen Häusern.

Was aber tut die fleißige Grace Marks, wenn sie sonst gerade nichts zu tun hat? Sie näht Quilts. Und so sind, zur metaphorischen Bekräftigung der Einsicht, daß unser Wissen Flickwerk ist, die einzelnen Kapitel mit den Namen traditioneller Quiltmuster überschrieben. Überhaupt besitzt der Roman die Qualitäten eines soliden Quilts: Er beeindruckt durch Länge und Breite, durch handwerkliche Sorgfalt und Präzision, und er paßt in jede Wohnungseinrichtung. Ehrgeizige Quilterinnen sahen es freilich als Herausforderung an, durch raffinierte optische Effekte etwas wie Räumlichkeit und Tiefe vorzutäuschen, den Eindruck einer dritten Dimension. Diesen Anspruch hat Margaret Atwood leider nicht eingelöst - aber ein Buch ist ja auch keine Steppdecke.

Margaret Atwood: "alias Grace". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Walitzek. Berlin Verlag, Berlin 1996. 624 S., geb., 48,- DM.

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