Eine neue Alice im Bilderbücher-Wunderland Die Besten der Besten haben Alices Abenteuer illustriert. Keiner aber spiegelt mit seinen Bildern den Irrgarten einer verdrehten Welt so traumsicher wie Jassen Ghiuselev. Das surreale Märchen von Alice, die kopfüber ins Wunderland fällt, ist der Klassiker aller Klassiker. Keiner aber spiegelt so konsequent Carrolls bizarre, auf den Kopf gestellte Albtraumwelt wie Jassen Ghiuselev. Die alogische, verrückte Welt, die Ernst und Aberwitz, Phantastik und Bedrohung so doppelbödig vorstellt, bringt Ghiuselev in imaginäre Räume, in absurde Konstruktionen mit augentäuschenden Perspektiven, die das Raffinement der geheimnisvollen Welt eines M. C. Escher zeigen. Es gibt dort Treppen, die ins Nichts führen, Orte, die gleichzeitig Innen und Außen, Oben und Unten sind; Verwandlungsbilder mit den wundersamsten Augentäuschungen. Und so phantastisch wie der Irrgarten sind auch die Figuren in dieser Wunderwelt: eine Alice, deren Anmut, Schönheit und Ernst ebenso verzaubern, wie die abstrus hässliche Herzogin schockiert. Sensibel und kunstvoll nimmt Barbara Frischmuth Carrolls Erzählfaden auf, um in einer knappen Version den Text dieses Weltklassikers für das Bilderbuch verständlich zu machen. Dem Buch liegt ein Plakat bei, das sich aus Ghiuselevs Einzelszenen ergibt und das den faszinierenden Kosmos seines Könnens und der Carrollschen Erzählung zeigt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000Zwischen Albtraum und Sonnenlicht
Es muß ein Herzenswunsch jedes Illustrators sein, einmal eine "Alice im Wunderland"-Ausgabe zu bebildern. In diesem Herbst kommen zwei Interpretationen auf den Buchmarkt, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Der bulgarische Künstler Jassen Ghiuselev zeigt uns "Alice"-Bilder, die wie Traumsequenzen über die breitformatigen Bilderbuchseiten schweben. Durch einen ockerfarbenen Filter, der alles leicht unscharf und körnig macht, sieht der Betrachter immer neue Perspektiven der Szenerie - mal ist sein Standpunkt weit entfernt und überhöht, mal ist er selber winzig klein zwischen riesenhaften Wesen und Geräten. So wirkt das Geschehen wie von einer schwerelosen Kamera aufgenommen, die frei durch Zeit und Raum taumelt wie Alice selbst. Jassen Ghiuselev hat sich ganz von der morbiden, albtraumhaften Seite der Geschichte einnehmen lassen, diese aber nicht dunkel verwischt, sondern akribisch genau dargestellt. Seine Szenerien üben eine Sogwirkung aus, wie man sie aus unheimlichen Fall- und Flugträumen kennt. Barbara Frischmuths kryptische Kurzfassung des Textes paßt insofern gut dazu, als sie für den Aufprall sorgt, der den Träumer jäh erwachen läßt. Die britische Illustratorin Helen Oxenbury betont dagegen die heitere, verspielte Seite der Geschichte. Alice ist bei ihr ein niedlicher Blondschopf, gerade dem Knuddelalter entwachsen. Die Tiere und anderen Wesen, denen sie begegnet, sehen arglos und sympathisch aus. Interieurs und Landschaften liegen oft im Sonnenlicht. Diese Alice ist ein Kind der Gegenwart, nicht nur wegen ihrer Turnschuhe, sondern auch, weil sie beweglich, optimistisch und selbständig wirkt, ganz wie es dem heutigen Kindheitsbild entspricht. Helen Oxenbury hat so einen selten unbekümmerten, kindlich freien Zugang zu einem Text eröffnet, der wie kaum ein anderer über die Jahrzehnte immer schwerer mit vorgefaßten Bildervorstellungen beladen wurde.
os.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es muß ein Herzenswunsch jedes Illustrators sein, einmal eine "Alice im Wunderland"-Ausgabe zu bebildern. In diesem Herbst kommen zwei Interpretationen auf den Buchmarkt, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Der bulgarische Künstler Jassen Ghiuselev zeigt uns "Alice"-Bilder, die wie Traumsequenzen über die breitformatigen Bilderbuchseiten schweben. Durch einen ockerfarbenen Filter, der alles leicht unscharf und körnig macht, sieht der Betrachter immer neue Perspektiven der Szenerie - mal ist sein Standpunkt weit entfernt und überhöht, mal ist er selber winzig klein zwischen riesenhaften Wesen und Geräten. So wirkt das Geschehen wie von einer schwerelosen Kamera aufgenommen, die frei durch Zeit und Raum taumelt wie Alice selbst. Jassen Ghiuselev hat sich ganz von der morbiden, albtraumhaften Seite der Geschichte einnehmen lassen, diese aber nicht dunkel verwischt, sondern akribisch genau dargestellt. Seine Szenerien üben eine Sogwirkung aus, wie man sie aus unheimlichen Fall- und Flugträumen kennt. Barbara Frischmuths kryptische Kurzfassung des Textes paßt insofern gut dazu, als sie für den Aufprall sorgt, der den Träumer jäh erwachen läßt. Die britische Illustratorin Helen Oxenbury betont dagegen die heitere, verspielte Seite der Geschichte. Alice ist bei ihr ein niedlicher Blondschopf, gerade dem Knuddelalter entwachsen. Die Tiere und anderen Wesen, denen sie begegnet, sehen arglos und sympathisch aus. Interieurs und Landschaften liegen oft im Sonnenlicht. Diese Alice ist ein Kind der Gegenwart, nicht nur wegen ihrer Turnschuhe, sondern auch, weil sie beweglich, optimistisch und selbständig wirkt, ganz wie es dem heutigen Kindheitsbild entspricht. Helen Oxenbury hat so einen selten unbekümmerten, kindlich freien Zugang zu einem Text eröffnet, der wie kaum ein anderer über die Jahrzehnte immer schwerer mit vorgefaßten Bildervorstellungen beladen wurde.
os.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"In einer Sammelbesprechung beschäftigt sich Lorenz Jäger mit den folgenden beiden Ausgaben von `Alice im Wunderland`:
1) Lewis Carroll: `Alice im Wunderland`. Übersetzt von Christian Enzensberger / Illustrationen Helen Oxenbury. (Ars Edition)
Die Rezeption des britischen Kinderbuchklassikers hat nicht umsonst Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre in der Bundesrepublik eingesetzt, findet Lorenz, denn da war eine Art psychedelische Wahrnehmungsverzerrung ohnehin en vogue. Die `sprachverliebte, sprachmächtige` Übersetzung von Christian Enzensberger hat Lorenz Jäger aufs Neue beeindruckt und ausnehmend gut gefallen. Sogar `langweilige` Stellen werden da zum Genuss, findet er, und die `leichten Illustrationen` von Helen Oxenbury machen aus dem `zarten viktorianischen Kind` ein waches Mädchen von heute.
2) Lewis Carroll: `Alice im Wunderland`. Erzählt von Barbara Frischmuth / Illustrationen Jassen Ghiuselev (Aufbau)
Mit dieser Ausgabe, meint Lorenz Jäger, tut man Kindern keinen Gefallen. Die Crux ist, dass hier etwas für die ganz Kleinen noch nicht Geeignetes partout auf ihrem Level erzählt werden soll. Was bei dabei herausgekommen ist, meint er, sind `begradigte Versionen`. Nicht `das Werk` wird vermittelt, sondern nur noch sein Inhalt erzählt. Einigermaßen im Kontrast dazu sind nach Jäger die Illustrationen, die eine Art `albtraumhaft verfremdeten Tenniel` darstellen, also eine gewissermaßen gotisch-überhöhte Horrorvision der ursprünglich eher niedlich-skurrilen Bilder.
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1) Lewis Carroll: `Alice im Wunderland`. Übersetzt von Christian Enzensberger / Illustrationen Helen Oxenbury. (Ars Edition)
Die Rezeption des britischen Kinderbuchklassikers hat nicht umsonst Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre in der Bundesrepublik eingesetzt, findet Lorenz, denn da war eine Art psychedelische Wahrnehmungsverzerrung ohnehin en vogue. Die `sprachverliebte, sprachmächtige` Übersetzung von Christian Enzensberger hat Lorenz Jäger aufs Neue beeindruckt und ausnehmend gut gefallen. Sogar `langweilige` Stellen werden da zum Genuss, findet er, und die `leichten Illustrationen` von Helen Oxenbury machen aus dem `zarten viktorianischen Kind` ein waches Mädchen von heute.
2) Lewis Carroll: `Alice im Wunderland`. Erzählt von Barbara Frischmuth / Illustrationen Jassen Ghiuselev (Aufbau)
Mit dieser Ausgabe, meint Lorenz Jäger, tut man Kindern keinen Gefallen. Die Crux ist, dass hier etwas für die ganz Kleinen noch nicht Geeignetes partout auf ihrem Level erzählt werden soll. Was bei dabei herausgekommen ist, meint er, sind `begradigte Versionen`. Nicht `das Werk` wird vermittelt, sondern nur noch sein Inhalt erzählt. Einigermaßen im Kontrast dazu sind nach Jäger die Illustrationen, die eine Art `albtraumhaft verfremdeten Tenniel` darstellen, also eine gewissermaßen gotisch-überhöhte Horrorvision der ursprünglich eher niedlich-skurrilen Bilder.
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»...sollte keinem Kind vorenthalten werden, denn es macht Mut, der uniformen Gesellschaft zum Trotz eigene Wunderwelten zu kreieren.« Basler Zeitung 20030615