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Ende der 1990er-Jahre fliegt Chris Kraus, die Figur dieses Romans, nach Berlin, um ihren Film »Gravity & Grace« auf einem Festival zu zeigen. Nicht auf der Berlinale natürlich, die das Filmprojekt über Hoffnung, Verzweiflung und quasireligiöse Ekstase nicht annehmen wollte, sondern nur auf einem kleinen Festival, für das sich niemand interessiert. Chris ist gescheitert. In ihrem Liebesleben sowieso, jetzt noch in ihrer Kunst und bald sicher auch in ihrem Denken. Während das neue Jahrtausend vor der Tür steht, wartet sie auf E-Mails ihres SM-Partners, der gerade in Namibia einen Hollywoodfilm…mehr

Produktbeschreibung
Ende der 1990er-Jahre fliegt Chris Kraus, die Figur dieses Romans, nach Berlin, um ihren Film »Gravity & Grace« auf einem Festival zu zeigen. Nicht auf der Berlinale natürlich, die das Filmprojekt über Hoffnung, Verzweiflung und quasireligiöse Ekstase nicht annehmen wollte, sondern nur auf einem kleinen Festival, für das sich niemand interessiert. Chris ist gescheitert. In ihrem Liebesleben sowieso, jetzt noch in ihrer Kunst und bald sicher auch in ihrem Denken. Während das neue Jahrtausend vor der Tür steht, wartet sie auf E-Mails ihres SM-Partners, der gerade in Namibia einen Hollywoodfilm dreht. Hilfe suchend wendet sie sich erneut Simone Weils Klassiker »Schwerkraft und Gnade« zu, der sie vor Jahren zu ihrem gefloppten Film inspirierte. Chris versinkt immer mehr im Leben und Denken der französischen Philosophin. Ausgehend von deren Askesepraxis sieht sie in der Anorexie eine Möglichkeit, den eigenen verhassten, dysfunktionalen Körper ein für alle Mal zu verlassen. Durch die Auseinandersetzung mit Ulrike Meinhofs theoretischem Werk, Paul Theks Kunst und Aldous Huxleys Drogenerfahrungen gelingt es Chris, ihre Perspektive auf das eigene Scheitern und Sein zu verändern.
Autorenporträt
Chris Kraus, 1955 in New York City geboren, ist Filmemacherin und Autorin. Index nannte sie »eine der subversivsten Stimmen der amerikanischen Literatur«. Ihre Arbeit wurde für ihre vernichtende Intelligenz, Verletzlichkeit und ihr grelles Tempo gelobt. Bei Matthes & Seitz erschien zuletzt ihr Roman I Love Dick.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.10.2021

Ulrike, Simone
und ich
Chris Kraus fantasiert in „Aliens & Anorexie“
von einer intellektuellen Schwesternschaft
VON MIRYAM SCHELLBACH
Es geht nicht anders, als mit Simone Weil zu beginnen. Ihr Name fällt in „Aliens und Anorexie“, dem Buch von Chris Kraus, das gerade erst übersetzt worden ist, obwohl es im amerikanischen Original schon 2000 erschien, sehr häufig. Genauso häufig fragt man sich, warum eigentlich. Dabei ließe sich Bedeutendes über die anarchistisch-jüdisch-katholische Philosophin sagen, die sich, obwohl Französin, dem Spanischen Bürgerkrieg anschloss, später vor Hitler nach England flüchtete und dort, sehr jung, an Magersucht starb.
Unter ihren philosophischen Schriften, vor allem posthum veröffentlichte Notizen, ärgerte und erfreute die Nachgeborenen am meisten „Schwerkraft und Gnade“, die Aphorismensammlung einer spirituell Suchenden, einer modernen Mystikerin. Weil hatte Talent zur Polarisierung. Der Philosoph Georges Bataille fand ihre Texte grotesk und abstoßend, Heinrich Böll lag sie „auf der Seele wie eine Prophetin“. Einige der wichtigsten Schriftstellerinnen und Philosophen der 1980er- und 90er-Jahre sonnten sich in ihrem Geist, darunter Albert Camus, Susan Sontag, Julia Kristeva, Emmanuel Levinas. Simone Weil ist eine gute intellektuelle Gesellschaft. Ihr Denken ist so offen, ihr Tod kam so früh, dass ihre Schriften sich kaum vor Vereinnahmung retten lassen.
Man könnte aber auch mit Chris Kraus beginnen, die nun eben über Simone Weil geschrieben hat, ohne wirklich über sie zu schreiben. Die amerikanische Starautorin autofiktionaler Essays mit Faible für die French Theory und kunstkritische Ad-hoc-Vorträge wurde im deutschsprachigen Raum weithin bekannt, als mit zwanzig Jahren Verspätung ihr Roman mit dem promisken Titel „I Love Dick“ ins Deutsche übersetzt wurde. Den hatte sie in Amerika zwar schon 1997 im selbstgeführten Hipster-Underground Verlag Semiotext(e) veröffentlicht. Vielleicht war damals aber noch nicht die richtige Zeit für den ihr eigenen, zur Selbstzerfleischung neigenden, selbstreflexiven Blick auf die amerikanische Upper-Class-Kunstszene. Vielleicht war man auch erst jetzt bereit für die für sie typische Intellektualisierung ihres Nachdenkens über Kunst, in der immer alles performativ und post-post-irgendwas sein musste.
Nahezu zwanzig Jahre Historisierungsreife taten dem Buch jedenfalls gut. Anfang der Zehnerjahre wuchs ihre Fanbase ins Unermessliche. 2015 schrieb die für ihre ebenfalls autofiktionalen und nah am Rand des Zynismus gelagerten Romane und Essays bekannte Leslie Jamison im New Yorker, über Chris Kraus’ Romane würde derzeit so geredet wie über eine Bar, zu deren Eintritt man ein geheimes Passwort braucht.
Dieses Kultstatus wegen ist nun wohl auch der Folgeroman „Aliens & Anorexie“ ins Deutsche gebracht worden. Wieder geht es um alles in diesem gelehrten und referenzverliebten Büchlein, um Kunsttheorie, Liebe und Sadomasochismus und um das amerikanische Künstlerdasein in heiterer Abgrundstimmung vor dem Millennium. Vorgetragen ist das in Chris Kraus’ charakteristischem Stil provokanter Wirklichkeitsbehauptung. Die Ich-Erzählung einer Frau, die Chris heißt und in allen, wirklich allen Lebenskoordinaten deckungsgleich mit der Autorin übereinstimmt.
Die Sprache ist am Strukturalismus geschult, kühl, hochgeistig und post-psychoanalytisch. Ständig „figuriert“ etwas als „Zeichen“ oder „Signifikant“ oder „Signatur“ für etwas anderes. Und gleichzeitig wird in diesem Buch durchgängig zumindest konzeptuell „gefickt“, „gefingert“ und „gefistet“, so wie sich die Geschichte in „I love Dick“ schon hauptsächlich um einen „Konzeptfick“, also die imaginierte und durchintellektualisierte Erotik des Kulturkritikers Dick Hebdige rankte.
In „Aliens & Anorexie“ laviert sich nun Chris, eine gescheiterte Filmemacherin, mit Darlehen bei ihrem Ehemann, dem Literaturwissenschaftler Sylvère Lotringer, durch das Produzentenmilieu von Los Angeles über Berlin bis nach Neuseeland. Die Produktion ihres Films „Gravity & Grace“, benannt nach Simone Weil, hat zwar ein Vermögen gekostet, anschauen will ihn aber keiner. Chris, die dieses Desinteresse als Verkennung ihres großen Geistes deutet, nimmt es zum Anlass, über Frauen nachzudenken, denen es genauso gegangen sein könnte. Und ab hier geraten in diesem Buch die Verhältnisse außer Rand und Band.
Ulrike Meinhof ist eine der Frauen, zu denen sich Chris eine intellektuelle Schwesternschaft herbeifantasiert. Sie interessiert sich besonders für deren Gefängnisnotizen, psychoanalysiert aber auch Meinhofs Filme „Bambule“. Meinhof als missverstandene Verkörperung einer hyperintelligenten Heiligen? Das mag für die deutsche Leserin noch abwegiger sein, als es für eine amerikanische ist. Besonders, so schreibt Kraus, interessiere sie, wie Meinhof, die „gewissenhaftigkeitsgetriebene Welt des akademischen öffentlichen Diskurses weit hinter sich ließ und unmittelbar vor ihrem Tod in das Reich der reinen Empfindung eintrat“. Das ist schon eine waghalsige Interpretation des RAF-Kopfes. Denn im Allgemeinen wissen wir wenig darüber, in welche Gemütszustände die inhaftierte Meinhof 1976 in ihrer Stammheimer Zelle, geschwächt durch längere Phasen des Hungerstreiks, eingetreten war.
Ulrike Meinhof ist früh gestorben. Simone Weil auch, allerdings aus einem anderen Grund. Sie hat sich zu Tode gehungert. Das wiederum hat einige Interpreten ihres Werks dazu bewogen, ihr ein grundsätzliches Aufmerksamkeitsdefizit zu unterstellen: Anorexie als Betteln um Zuneigung. Chris möchte diese Deutung abwenden, indem sie Simone Weils Nahrungsverzicht als eine gezielte „Entschaffung“, ein Wiedererlangen von Kontrolle durch die Dekonstruktion des Leibs, verstehen will. Der psychologischen Pathologie setzt sie ein philosophisches Selbstexperiment Weils entgegen: „all die Dinge, die sie schrieb, waren Feldnotizen für ein Projekt, das sie an sich selbst ausübte. Sie war eine performative Philosophin. Ihr Körper war Material“.
Auch wenn der Vergleich nicht direkt fällt, ist die Gegenüberstellung verräterisch. Auch Chris, die unter einer chronischen Magen-Darm-Entzündung leidet, muss ihren Leib beständig kontrollieren. Falsche Nahrung, aber auch zu viel Anteilnahme an der Welt, „Porosität“, wie sie es nennt, könnte neue Schübe auslösen. Was hat das mit der Philosophin Simone Weil zu tun? Nicht so viel. Es sei denn, man fasst es wie Chris: „Der panische Altruismus, Inhaltstrips oder Anorexie: drei Zustände erhöhten Bewusstseins.“ Selbst schräge Vergleiche und Identifikationen haben mitunter einen analytischen Wert, Nonsense-Vergleiche und Selbstmythisierungen aber allenfalls einen unterhaltenden. „Aliens & Anorexie“ gibt vor, Ulrike Meinhofs und Simone Weils Andenken als quasifeministische Widerstandsikonen zu retten. In Wahrheit dienen die beiden hochkomplexen und ambivalenten Frauen aber nur als holzschnittartige Projektionsfiguren zur Selbstbespiegelung von Chris. Die Unterhaltsamkeit dieses Buchs geht also auf die Kosten seines Personals. So lustig sind hungernde Frauenkörper nicht.
Die
Analogie
zwischen
diesen
Arten des
Hungers
wirkt
verräterisch
Die Bäume werden entrindet und gehäckselt, die Späne (hier im Bild) aufgeweicht und weiterverarbeitet. Das rege Treiben von Arbeitern, LKWs, Zügen kann einen erschlagen, es gibt sogar eine eigene
Betriebsfeuerwehr. Das Werk versorgt sich selbst mit Energie, anhand des Wasserdampfes, der bei der
Zellstoffherstellung entsteht.

Chris Kraus:
Aliens & Anorexie.
Aus dem Englischen
von Kevin Vennemann.
Matthes & Seitz,
Berlin 2021.
255 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensentin Miryam Schellbach hat einiges auszusetzen an Chris Kraus' "Aliens und Anorexie", das im Zuge des Erfolgs von "I love Dick" nun auch auf Deutsch vorliegt. Dass die strukturalistische Sprache "kühl und hochgeistig" daherkommt, dass sehr viel konzeptuell "gefickt, gefingert und gefistet" wird, geht für Schellbach offenbar in Ordnung, kennt sie ja bereits aus dem Vorgänger. Der Story um Chris, die als gescheiterte Filmemacherin Seelenverwandtschaften mit Simone Weil und Ulrike Meinhof imaginiert, kann die Kritikerin dann aber nicht mehr viel abgewinnen: Aus Meinhof macht sie eine "hyperintelligente Heilige", aus Weils Nahrungsverzicht eine bewusste "Dekonstruktion des Leibes", offenbar um eine Parallele zu ihrer eigenen chronischen Magen-Darm-Entzündung zu ziehen, vermutet Schellbach. Das ist der Kritikerin alles zu grob, zu viel "Selbstbespiegelung" und leider auch nicht besonders unterhaltsam.

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