Langsamer Abschied. Ein Buch über Demenz, Verlust und Verschwinden. Das Romandebüt einer der prägendsten Stimmen des deutschsprachigen Theaters.
Als im März 2014 ein Flugzeug auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking plötzlich vom Radar verschwindet, hat für Helgard Haug der Abschied vom Vater gerade begonnen. Sein Gedächtnis wird unzuverlässig, die Orientierung immer schwieriger, der ehedem wortmächtige Mann versinkt, er driftet ab - wie, ungefähr zur selben Zeit, MH370 mit 239 Personen an Bord im Meer. All right. Good night, soll der letzte Funkspruch des Piloten gelautet haben. Danach verliert sich die Spur. War es ein Unfall? Ein Anschlag oder Suizid? Das Flugzeug bleibt verschwunden, die Ursache des Absturzes ungeklärt. Die Vergesslichkeit des Vaters aber bekommt einen Namen: Demenz.
Helgard Haug verknüpft die eigene Erfahrung mit der Trauerarbeit der Hinterbliebenen. Und beide Ereignisse «erweisen sich dabei als von exemplarischer Relevanz, als typisch für die Gesellschaft der Gegenwart» (Andreas Reckwitz). All right. Good night berührt und erhellt, wie persönlicher Verlust und das Leiden anderer zusammengehen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Als im März 2014 ein Flugzeug auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking plötzlich vom Radar verschwindet, hat für Helgard Haug der Abschied vom Vater gerade begonnen. Sein Gedächtnis wird unzuverlässig, die Orientierung immer schwieriger, der ehedem wortmächtige Mann versinkt, er driftet ab - wie, ungefähr zur selben Zeit, MH370 mit 239 Personen an Bord im Meer. All right. Good night, soll der letzte Funkspruch des Piloten gelautet haben. Danach verliert sich die Spur. War es ein Unfall? Ein Anschlag oder Suizid? Das Flugzeug bleibt verschwunden, die Ursache des Absturzes ungeklärt. Die Vergesslichkeit des Vaters aber bekommt einen Namen: Demenz.
Helgard Haug verknüpft die eigene Erfahrung mit der Trauerarbeit der Hinterbliebenen. Und beide Ereignisse «erweisen sich dabei als von exemplarischer Relevanz, als typisch für die Gesellschaft der Gegenwart» (Andreas Reckwitz). All right. Good night berührt und erhellt, wie persönlicher Verlust und das Leiden anderer zusammengehen.
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Plötzlich das Nichts
"All right. Good night." von Helgard Haug
Die deutsche Autorin und Regisseurin Helgard Haug ist Mitbegründerin der Künstlergruppe Rimini Protokoll. Diese hat sich auf ortsspezifische oder dokumentarische Produktionen mit Laien spezialisiert, die als "Experten des Alltags" sich selbst und ihre Biographien darstellen. Fiktion und Realität, private und allgemeine Zusammenhänge überschneiden sich, um im besten Fall ein neues erweitertes Bild eines Klassikers (Schillers "Wallenstein") oder eines Rimini-Konzepts ("Situation Rooms") zu ergeben.
Dieser Methode entspricht nun mit "All right. Good night." auch das erste Buch von Helgard Haug, das als "Roman" auf den Markt kommt, allerdings eines ihrer Theaterstücke ist, das unter gleichem Titel 2021 in Berlin uraufgeführt wurde. Haug verwebt darin auf dramaturgisch höchst subtile Weise die Demenzerkrankung ihres Vaters, dessen Persönlichkeit sich vor ihren Augen zersetzt, mit dem mysteriösen Verschwinden der Boeing MH 370 der Malaysian Airline, die 2014 in Kuala Lumpur startete, doch den Zielort Peking nie erreichte - und bis heute nicht gefunden wurde.
Beide Ereignisse haben nicht das Geringste miteinander zu tun, aber die gestandene Theaterfrau weiß die Geschichten dennoch raffiniert miteinander zu verknüpfen: "Die Boeing hat über 53.400 Betriebsstunden und 7526 Flüge absolviert. Der Vater ist im Frühjahr 2014 76 Jahre alt. Ich frage mich, wie viele Betriebsstunden er absolviert hat. 76×365×24. Rechnet man so? Hochtourig." Immer wieder gelingen Helgard Haug verblüffende Analogien, die sich um die Schlüsselbegriffe Verschwinden und Verlust drehen. Wo ist der Vater mit seiner Vergangenheit geblieben? Wo ist die Maschine mit ihren Passagieren geblieben? Wie ergeht es den Angehörigen? Wie konkret lässt sich die Wirklichkeit eines Lebens und die des Flugs MH 370 rekonstruieren?
Gegliedert nach Jahren, schildert Haug ihre individuelle Trauer über den Verfall des Vaters und spiegelt sie im kollektiven Leid jener Angehörigen, die nicht wissen, was aus ihren Verwandten im Flugzeug geworden ist. Die suchen schon lange nicht mehr nach Passagieren, sondern nach Antworten, heißt es einmal. Akribisch hat Helgard Haug Materialien studiert und Kontakte aufgebaut, sie zitiert aus unzähligen Berichten etwa von professionellen Wracksuchern, von Journalisten, Buchautoren und Verschwörungstheoretikern. Es handelt sich schließlich um eines der größten Rätsel der Luftfahrt, das hier zu einem spektakulären Wahrnehmungsphänomen wird: Wie kann sich ein voll besetztes Flugzeug in einem weiträumig überwachten Luftraum in nichts auflösen? Wie kann aus einem materiellen Etwas so rigoros ein unspezifisches Nichts werden?
Demgegenüber bleibt auch vom Vater nur wenig übrig. Er erkennt irgendwann weder sich selbst mehr noch seine Familie. Man merkt den Kummer und die Verunsicherung der Autorin, die dabei empathisch und genau beschreibt, wie der alte Herr zunehmend Orientierung und Halt verliert. Problematisch ist freilich, dass er mit ein paar Klicks im Internet zu eruieren ist. Der Preis für diese Trauerarbeit ist hoch. Das Buch hingegen ist einfühlsam und in Bezug auf MH 370 unglaublich spannend. Die Erzählstränge schaukeln sich in ihrer Unvereinbarkeit zu suggestiver Eindringlichkeit auf, verbinden sich in der Frage, was Realität ist und sich als solche beweisen lässt. Während Wittgenstein einst postulieren konnte, dass die Welt alles ist, was der Fall ist, resümiert Helgard Haug über ihren Vater: "Du bist hier, vielleicht aber auch fort. Du bist fort, vielleicht aber noch hier." Diese Unklarheit zwischen den Aggregatszuständen des Bewusstseins sind schwer zu ertragen.
Manchmal unangenehm in seiner Indiskretion, entwickelt "All right. Good night." trotzdem einen narrativen Sog, in dem sämtliche Bedenken verschwinden und der beim Lesen eine verzweifelte Hoffnung auf Antworten in diesem diffusen Entrückungsprozess evoziert. Vergebens, denn ob im Flugzeug über dem Indischen Ozean oder beim Spaziergang im deutschen Wald - nichts und niemand kann sich seiner sicher sein. Das teilt uns das Buch so packend wie lapidar mit: wie einen Appell, um bei allem Schmerz das Unabänderliche zu ertragen. IRENE BAZINGER
Helgard Haug: "All right. Good night". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 160 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"All right. Good night." von Helgard Haug
Die deutsche Autorin und Regisseurin Helgard Haug ist Mitbegründerin der Künstlergruppe Rimini Protokoll. Diese hat sich auf ortsspezifische oder dokumentarische Produktionen mit Laien spezialisiert, die als "Experten des Alltags" sich selbst und ihre Biographien darstellen. Fiktion und Realität, private und allgemeine Zusammenhänge überschneiden sich, um im besten Fall ein neues erweitertes Bild eines Klassikers (Schillers "Wallenstein") oder eines Rimini-Konzepts ("Situation Rooms") zu ergeben.
Dieser Methode entspricht nun mit "All right. Good night." auch das erste Buch von Helgard Haug, das als "Roman" auf den Markt kommt, allerdings eines ihrer Theaterstücke ist, das unter gleichem Titel 2021 in Berlin uraufgeführt wurde. Haug verwebt darin auf dramaturgisch höchst subtile Weise die Demenzerkrankung ihres Vaters, dessen Persönlichkeit sich vor ihren Augen zersetzt, mit dem mysteriösen Verschwinden der Boeing MH 370 der Malaysian Airline, die 2014 in Kuala Lumpur startete, doch den Zielort Peking nie erreichte - und bis heute nicht gefunden wurde.
Beide Ereignisse haben nicht das Geringste miteinander zu tun, aber die gestandene Theaterfrau weiß die Geschichten dennoch raffiniert miteinander zu verknüpfen: "Die Boeing hat über 53.400 Betriebsstunden und 7526 Flüge absolviert. Der Vater ist im Frühjahr 2014 76 Jahre alt. Ich frage mich, wie viele Betriebsstunden er absolviert hat. 76×365×24. Rechnet man so? Hochtourig." Immer wieder gelingen Helgard Haug verblüffende Analogien, die sich um die Schlüsselbegriffe Verschwinden und Verlust drehen. Wo ist der Vater mit seiner Vergangenheit geblieben? Wo ist die Maschine mit ihren Passagieren geblieben? Wie ergeht es den Angehörigen? Wie konkret lässt sich die Wirklichkeit eines Lebens und die des Flugs MH 370 rekonstruieren?
Gegliedert nach Jahren, schildert Haug ihre individuelle Trauer über den Verfall des Vaters und spiegelt sie im kollektiven Leid jener Angehörigen, die nicht wissen, was aus ihren Verwandten im Flugzeug geworden ist. Die suchen schon lange nicht mehr nach Passagieren, sondern nach Antworten, heißt es einmal. Akribisch hat Helgard Haug Materialien studiert und Kontakte aufgebaut, sie zitiert aus unzähligen Berichten etwa von professionellen Wracksuchern, von Journalisten, Buchautoren und Verschwörungstheoretikern. Es handelt sich schließlich um eines der größten Rätsel der Luftfahrt, das hier zu einem spektakulären Wahrnehmungsphänomen wird: Wie kann sich ein voll besetztes Flugzeug in einem weiträumig überwachten Luftraum in nichts auflösen? Wie kann aus einem materiellen Etwas so rigoros ein unspezifisches Nichts werden?
Demgegenüber bleibt auch vom Vater nur wenig übrig. Er erkennt irgendwann weder sich selbst mehr noch seine Familie. Man merkt den Kummer und die Verunsicherung der Autorin, die dabei empathisch und genau beschreibt, wie der alte Herr zunehmend Orientierung und Halt verliert. Problematisch ist freilich, dass er mit ein paar Klicks im Internet zu eruieren ist. Der Preis für diese Trauerarbeit ist hoch. Das Buch hingegen ist einfühlsam und in Bezug auf MH 370 unglaublich spannend. Die Erzählstränge schaukeln sich in ihrer Unvereinbarkeit zu suggestiver Eindringlichkeit auf, verbinden sich in der Frage, was Realität ist und sich als solche beweisen lässt. Während Wittgenstein einst postulieren konnte, dass die Welt alles ist, was der Fall ist, resümiert Helgard Haug über ihren Vater: "Du bist hier, vielleicht aber auch fort. Du bist fort, vielleicht aber noch hier." Diese Unklarheit zwischen den Aggregatszuständen des Bewusstseins sind schwer zu ertragen.
Manchmal unangenehm in seiner Indiskretion, entwickelt "All right. Good night." trotzdem einen narrativen Sog, in dem sämtliche Bedenken verschwinden und der beim Lesen eine verzweifelte Hoffnung auf Antworten in diesem diffusen Entrückungsprozess evoziert. Vergebens, denn ob im Flugzeug über dem Indischen Ozean oder beim Spaziergang im deutschen Wald - nichts und niemand kann sich seiner sicher sein. Das teilt uns das Buch so packend wie lapidar mit: wie einen Appell, um bei allem Schmerz das Unabänderliche zu ertragen. IRENE BAZINGER
Helgard Haug: "All right. Good night". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 160 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Irene Bazinger staunt, wie gekonnt die Autorin und Theaterregisseurin Haug in ihrem Buch zwei Dinge verwebt, die nichts miteinander zu tun haben: die Demenzkrankheit ihres Vaters und das unaufgeklärte Verschwinden des Flugzeugs Boeing MH 370 im Jahre 2014. Wie Haug in dem Buch, ursprünglich ein Theaterstück, mindestens eine "suggestive Eindringlichkeit" schafft, immer wieder aber sogar erstaunlich treffende Analogien zustande bringt - etwa zwischen der eigenen Trauer um das Bewusstsein des Vaters und den trauernden Angehörigen der verschollenen Boeing-Passagiere, oder zwischen dem Ins-Nichts-Auflösen sowohl der väterlichen Luzidität als auch des riesigen Flugzeugs -, findet Bazinger "verblüffend" und "subtil". Auch Haugs akribische Materialrecherche zur MH 370 beeindruckt sie. Stellenweise ist ihr die "Indiskretion", mit der Haug über ihren Vater schreibt, etwas unangenehm, wie auch die Tatsache, dass dieser Mann mit wenigen Klicks im Internet zu finden sei - aber glücklicherweise gerate das bei dem "narrativen Sog", den Haug zu kreieren vermöge, schnell in Vergessenheit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Nicht nur ein herausragendes Stück dokumentarischer Literatur, sondern auch ein ungemein besonnenes und feines Vaterbuch ... ein großartiger Roman. Shirin Sojitrawalla Deutschlandfunk "Büchermarkt" 20230719
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.09.2023Plötzlich das Nichts
"All right. Good night." von Helgard Haug
Die deutsche Autorin und Regisseurin Helgard Haug ist Mitbegründerin der Künstlergruppe Rimini Protokoll. Diese hat sich auf ortsspezifische oder dokumentarische Produktionen mit Laien spezialisiert, die als "Experten des Alltags" sich selbst und ihre Biographien darstellen. Fiktion und Realität, private und allgemeine Zusammenhänge überschneiden sich, um im besten Fall ein neues erweitertes Bild eines Klassikers (Schillers "Wallenstein") oder eines Rimini-Konzepts ("Situation Rooms") zu ergeben.
Dieser Methode entspricht nun mit "All right. Good night." auch das erste Buch von Helgard Haug, das als "Roman" auf den Markt kommt, allerdings eines ihrer Theaterstücke ist, das unter gleichem Titel 2021 in Berlin uraufgeführt wurde. Haug verwebt darin auf dramaturgisch höchst subtile Weise die Demenzerkrankung ihres Vaters, dessen Persönlichkeit sich vor ihren Augen zersetzt, mit dem mysteriösen Verschwinden der Boeing MH 370 der Malaysian Airline, die 2014 in Kuala Lumpur startete, doch den Zielort Peking nie erreichte - und bis heute nicht gefunden wurde.
Beide Ereignisse haben nicht das Geringste miteinander zu tun, aber die gestandene Theaterfrau weiß die Geschichten dennoch raffiniert miteinander zu verknüpfen: "Die Boeing hat über 53.400 Betriebsstunden und 7526 Flüge absolviert. Der Vater ist im Frühjahr 2014 76 Jahre alt. Ich frage mich, wie viele Betriebsstunden er absolviert hat. 76×365×24. Rechnet man so? Hochtourig." Immer wieder gelingen Helgard Haug verblüffende Analogien, die sich um die Schlüsselbegriffe Verschwinden und Verlust drehen. Wo ist der Vater mit seiner Vergangenheit geblieben? Wo ist die Maschine mit ihren Passagieren geblieben? Wie ergeht es den Angehörigen? Wie konkret lässt sich die Wirklichkeit eines Lebens und die des Flugs MH 370 rekonstruieren?
Gegliedert nach Jahren, schildert Haug ihre individuelle Trauer über den Verfall des Vaters und spiegelt sie im kollektiven Leid jener Angehörigen, die nicht wissen, was aus ihren Verwandten im Flugzeug geworden ist. Die suchen schon lange nicht mehr nach Passagieren, sondern nach Antworten, heißt es einmal. Akribisch hat Helgard Haug Materialien studiert und Kontakte aufgebaut, sie zitiert aus unzähligen Berichten etwa von professionellen Wracksuchern, von Journalisten, Buchautoren und Verschwörungstheoretikern. Es handelt sich schließlich um eines der größten Rätsel der Luftfahrt, das hier zu einem spektakulären Wahrnehmungsphänomen wird: Wie kann sich ein voll besetztes Flugzeug in einem weiträumig überwachten Luftraum in nichts auflösen? Wie kann aus einem materiellen Etwas so rigoros ein unspezifisches Nichts werden?
Demgegenüber bleibt auch vom Vater nur wenig übrig. Er erkennt irgendwann weder sich selbst mehr noch seine Familie. Man merkt den Kummer und die Verunsicherung der Autorin, die dabei empathisch und genau beschreibt, wie der alte Herr zunehmend Orientierung und Halt verliert. Problematisch ist freilich, dass er mit ein paar Klicks im Internet zu eruieren ist. Der Preis für diese Trauerarbeit ist hoch. Das Buch hingegen ist einfühlsam und in Bezug auf MH 370 unglaublich spannend. Die Erzählstränge schaukeln sich in ihrer Unvereinbarkeit zu suggestiver Eindringlichkeit auf, verbinden sich in der Frage, was Realität ist und sich als solche beweisen lässt. Während Wittgenstein einst postulieren konnte, dass die Welt alles ist, was der Fall ist, resümiert Helgard Haug über ihren Vater: "Du bist hier, vielleicht aber auch fort. Du bist fort, vielleicht aber noch hier." Diese Unklarheit zwischen den Aggregatszuständen des Bewusstseins sind schwer zu ertragen.
Manchmal unangenehm in seiner Indiskretion, entwickelt "All right. Good night." trotzdem einen narrativen Sog, in dem sämtliche Bedenken verschwinden und der beim Lesen eine verzweifelte Hoffnung auf Antworten in diesem diffusen Entrückungsprozess evoziert. Vergebens, denn ob im Flugzeug über dem Indischen Ozean oder beim Spaziergang im deutschen Wald - nichts und niemand kann sich seiner sicher sein. Das teilt uns das Buch so packend wie lapidar mit: wie einen Appell, um bei allem Schmerz das Unabänderliche zu ertragen. IRENE BAZINGER
Helgard Haug: "All right. Good night". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 160 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"All right. Good night." von Helgard Haug
Die deutsche Autorin und Regisseurin Helgard Haug ist Mitbegründerin der Künstlergruppe Rimini Protokoll. Diese hat sich auf ortsspezifische oder dokumentarische Produktionen mit Laien spezialisiert, die als "Experten des Alltags" sich selbst und ihre Biographien darstellen. Fiktion und Realität, private und allgemeine Zusammenhänge überschneiden sich, um im besten Fall ein neues erweitertes Bild eines Klassikers (Schillers "Wallenstein") oder eines Rimini-Konzepts ("Situation Rooms") zu ergeben.
Dieser Methode entspricht nun mit "All right. Good night." auch das erste Buch von Helgard Haug, das als "Roman" auf den Markt kommt, allerdings eines ihrer Theaterstücke ist, das unter gleichem Titel 2021 in Berlin uraufgeführt wurde. Haug verwebt darin auf dramaturgisch höchst subtile Weise die Demenzerkrankung ihres Vaters, dessen Persönlichkeit sich vor ihren Augen zersetzt, mit dem mysteriösen Verschwinden der Boeing MH 370 der Malaysian Airline, die 2014 in Kuala Lumpur startete, doch den Zielort Peking nie erreichte - und bis heute nicht gefunden wurde.
Beide Ereignisse haben nicht das Geringste miteinander zu tun, aber die gestandene Theaterfrau weiß die Geschichten dennoch raffiniert miteinander zu verknüpfen: "Die Boeing hat über 53.400 Betriebsstunden und 7526 Flüge absolviert. Der Vater ist im Frühjahr 2014 76 Jahre alt. Ich frage mich, wie viele Betriebsstunden er absolviert hat. 76×365×24. Rechnet man so? Hochtourig." Immer wieder gelingen Helgard Haug verblüffende Analogien, die sich um die Schlüsselbegriffe Verschwinden und Verlust drehen. Wo ist der Vater mit seiner Vergangenheit geblieben? Wo ist die Maschine mit ihren Passagieren geblieben? Wie ergeht es den Angehörigen? Wie konkret lässt sich die Wirklichkeit eines Lebens und die des Flugs MH 370 rekonstruieren?
Gegliedert nach Jahren, schildert Haug ihre individuelle Trauer über den Verfall des Vaters und spiegelt sie im kollektiven Leid jener Angehörigen, die nicht wissen, was aus ihren Verwandten im Flugzeug geworden ist. Die suchen schon lange nicht mehr nach Passagieren, sondern nach Antworten, heißt es einmal. Akribisch hat Helgard Haug Materialien studiert und Kontakte aufgebaut, sie zitiert aus unzähligen Berichten etwa von professionellen Wracksuchern, von Journalisten, Buchautoren und Verschwörungstheoretikern. Es handelt sich schließlich um eines der größten Rätsel der Luftfahrt, das hier zu einem spektakulären Wahrnehmungsphänomen wird: Wie kann sich ein voll besetztes Flugzeug in einem weiträumig überwachten Luftraum in nichts auflösen? Wie kann aus einem materiellen Etwas so rigoros ein unspezifisches Nichts werden?
Demgegenüber bleibt auch vom Vater nur wenig übrig. Er erkennt irgendwann weder sich selbst mehr noch seine Familie. Man merkt den Kummer und die Verunsicherung der Autorin, die dabei empathisch und genau beschreibt, wie der alte Herr zunehmend Orientierung und Halt verliert. Problematisch ist freilich, dass er mit ein paar Klicks im Internet zu eruieren ist. Der Preis für diese Trauerarbeit ist hoch. Das Buch hingegen ist einfühlsam und in Bezug auf MH 370 unglaublich spannend. Die Erzählstränge schaukeln sich in ihrer Unvereinbarkeit zu suggestiver Eindringlichkeit auf, verbinden sich in der Frage, was Realität ist und sich als solche beweisen lässt. Während Wittgenstein einst postulieren konnte, dass die Welt alles ist, was der Fall ist, resümiert Helgard Haug über ihren Vater: "Du bist hier, vielleicht aber auch fort. Du bist fort, vielleicht aber noch hier." Diese Unklarheit zwischen den Aggregatszuständen des Bewusstseins sind schwer zu ertragen.
Manchmal unangenehm in seiner Indiskretion, entwickelt "All right. Good night." trotzdem einen narrativen Sog, in dem sämtliche Bedenken verschwinden und der beim Lesen eine verzweifelte Hoffnung auf Antworten in diesem diffusen Entrückungsprozess evoziert. Vergebens, denn ob im Flugzeug über dem Indischen Ozean oder beim Spaziergang im deutschen Wald - nichts und niemand kann sich seiner sicher sein. Das teilt uns das Buch so packend wie lapidar mit: wie einen Appell, um bei allem Schmerz das Unabänderliche zu ertragen. IRENE BAZINGER
Helgard Haug: "All right. Good night". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 160 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main