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Ein frühes Buch des hochgelobten Autors von "Mein Herz so weiß". Es ist ein Campus-Roman, den der Spanier Javier Marias unter dem Eindruck seines eigenen Oxford-Aufenthalts 1989 geschrieben hat. Es handelt sich um eine Liebesgeschichte, um eine absurde Komödie, deren Protagonist Oxford, die berühmte, altehrwürdige englische Universitätsstadt, selbst ist.

Produktbeschreibung
Ein frühes Buch des hochgelobten Autors von "Mein Herz so weiß". Es ist ein Campus-Roman, den der Spanier Javier Marias unter dem Eindruck seines eigenen Oxford-Aufenthalts 1989 geschrieben hat. Es handelt sich um eine Liebesgeschichte, um eine absurde Komödie, deren Protagonist Oxford, die berühmte, altehrwürdige englische Universitätsstadt, selbst ist.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.05.1997

Asche im Seidenstrumpf
Javier Marías' Roman "Alle Seelen" · Von Heinrich Detering

Am Anfang, am Eingang zur ehrwürdigen "Institutio Tayloriana" und zu diesem Roman, steht ein Portier, ein uralter Gentleman namens Will. Seit er vor langer Zeit zum Witwer wurde, hat Will ein Problem: mit seiner Frau hat er auch die Zeit verloren. Jeden Tag seit jener Verwundung glaubt er sich in einem anderen Jahr, einem anderen Jahrzehnt zu befinden; und entsprechend seinem zeitvergessenen inneren Kalender begrüßt er die Eintretenden mit den eigenwilligsten Namen und Titeln.

Ein höflicher Herr und ein trauriger Fall, der reichlich Anlaß zur Heiterkeit gibt, wie so vieles im Oxforder Panoptikum. Will ist eine der skurrilen Gestalten, die der junge Gastprofessor aus Madrid im Laufe seiner zwei Oxforder Jahre kennenlernen wird und von denen er nun im Rückblick erzählt. Die undurchschaubaren Regeln, nach denen der Verwirrte zwischen Zeiten und Identitäten wechselt, bilden den Anfang eines kaum leichter durchschaubaren Regelwerks der akademischen Riten und gesellschaftlichen Konventionen, von denen der Erzähler das Leben in der geschlossenen Welt der Universität bestimmt sieht. Ganz begreifen wird er sie nie, aber in sie einleben wird er sich so zwanglos und gründlich, daß er am Ende nicht weiß, wie er den doch unvermeidlichen Abschied nehmen soll.

In einem Interview hat Javier Marías sich ausdrücklich damit einverstanden erklärt, daß Literatur nach nationalen Kategorien geordnet werde. Auf seinen eigenen Roman läßt sich das freilich nicht leicht anwenden. Denn einerseits wird man schwerlich eine britischere Geschichte als diese finden. Aber deren formvollendete Wiedergabe angelsächsischer Riten und Redeweisen entspringt doch andererseits erst dem staunenden Blick eines ganz Fremden. Die auffälligsten Schauplätze dieser spanisch-englischen Begegnungen sind weltentrückte Antiquariate, in denen Liebhaber vergessener Phantasten wie (des realen) Arthur Machen und (des fiktiven?) John Gawsworth ein schattenhaftes Wesen treiben, und hochritualisierte Dinners, die inmitten liturgischer Konversationszeremonien, alkoholischer Ausschweifungen und nackter Geilheit abenteuerlich dahinschlingern und dem fremden Gast die Wahl zwischen Peinlichkeit und Vergnügen überlassen.

In solchen Szenen feiert Marías' artistisches Talent Triumphe. Einer davon ist die penible, weit ausholende Schilderung der Blickrichtungen während des small talk bei Tisch, eine vollkommene stilistische Mimikry des britischen Zeremoniells, ehe es dann mit steigendem Alkoholpegel sanft ins Burleske abgleitet und endlich auseinanderfällt - was sich abermals in Fügung und Rhythmus der Sätze makellos abbildet. Beim Porträt einer Lady spricht der spanische Gast von "jenem spezifisch englischen Lächeln, wie es die berühmten Würger dieser Nationalität auf der Leinwand verschwenden, wenn sie ein neues Opfer auswählen" - und wie zartsinnig ist auch das gesagt! Man versteht: In einer Nation, deren Ruhm den Charme der Würger einschließt, kann sich kein Besucher auf die Dauer ganz fremd fühlen.

Zwischen solchen Extremen aber spielt sich dann doch ein akademischer Alltag ab, in dem es um das Übliche geht: mehr um Bürger als um Würger, um Karrieren und Forschungsvorhaben, um Treue und Verrat, besonders dauerhaft aber um erotische Hoffnungen und Enttäuschungen. Der vertrauteste Freund des Erzählers, "mein Führer und Beschützer", ist ein liebenswürdiger, distinguiert-ironischer Homosexueller, der an zunehmender Vereinsamung leidet: am traurigen Ende fällt er einer ungenannten Krankheit zum Opfer. Der zweite Mentor verbirgt vielleicht eine menschlich und politisch bewegte Vergangenheit; auch er wird den Roman übrigens nicht überleben. Der spanische Besucher selbst schließlich, erstaunlich lebenstüchtig bis auf weiteres, hat eine dauerhafte und naturgemäß am ausführlichsten erinnerte Affäre mit der Ehefrau eines englischen Kollegen, über deren Leben der Schatten eines immer verheimlichten Todesfalls liegt.

Die spanische Kritik war einmütig hingerissen von diesem schon 1989 erschienenen Buch, das zwar bald danach auf deutsch vorlag, das aber erst nach dem Erfolg des Romans "Mein Herz so weiß" wahrgenommen wurde und jetzt in einer Neuausgabe vorliegt. Es hätte aber auch ohne diesen Bestseller an seiner Seite das Zeug, seine Leser glücklich und seinen Verfasser berühmt zu machen. Das liegt zunächst daran, daß Marías seine Geschichten von Lieben und Sterben in Oxford so teilnahmsvoll wie unterhaltsam erzählt und in einer wunderbaren Schwebe zwischen Drastik und Zartgefühl, Komik und elegischer Trauer hält. Es liegt auch an seinem freundlich-gelassenen Blick für die Kleinigkeiten, in denen die großen Gefühle sich manchmal verhaken.

Nicht nur die Leidenschaft zeigt er uns, sondern auch die zudringliche Gier, nicht nur die Seidenstrümpfe, sondern auch die unschönen Spuren, die unachtsam abgestreifte Zigarettenasche darin hinterlassen hat, nicht nur das große Glück erfüllter Augenblicke, sondern auch die kleinen Unglücke von Heimlichtuerei, häßlicher Hast und schlechtem Gewissen. Dabei hat er im übrigen gar nichts gegen die moralischen Lässigkeiten, will auch weder denunzieren noch dämonisieren, er will sich bloß genau erinnern - was freilich im Gewebe von Imagination und Erinnerung, im Wechsel der Perspektiven und der Stimmen von Figuren und Erzähler zunehmend schwierig wird und die Erzählung zum anmutigen, vielleicht unauflöslichen Vexierspiel macht. Diese lässige Balance von Spielwitz und träumerischer Trauer verliert der Erzähler nur in den wenigen Passagen, in denen er sonderbar altklug, als gelte es ein Pflichtprogramm der Moderne zu erledigen, das eigene Erzählen reflektieren und aussprechen will, wovon seine Geschichte so unaufdringlich durchdrungen ist.

Die größere Kunst dieses Romans aber, die ihn verläßlich vor dem Auseinanderfallen in possierliche Porträts und anekdotische Episoden bewahrt, liegt in der Raffinesse, mit der die realistische Detailfülle unverletzt so arrangiert wird, daß das Ganze eine emblematische Figur ergibt. Auf seine Weise versucht jeder der Akteure sich aus der bloßen Zufälligkeit des alltäglichen Lebens an die Ufer von Sinn und Notwendigkeit zu retten, zuerst der Vergangenheit und dann der Vergänglichkeit zu entkommen, der Todesangst das Maul zu stopfen und dem Sterben zu entwischen, das jeden von ihnen einholen wird.

Einmal beobachtet der Erzähler im Museum, selbst unbeobachtet, seine Geliebte mit ihrem Vater und ihrem Sohn und erkennt zu seiner Bestürzung, daß alle drei einander nicht bloß ähneln, sondern daß sie alle drei - die Frau, der Greis, das Kind - dasselbe Gesicht haben. Die Frage, welches davon er geküßt habe, erledigt sich von selbst: es ist ja eben nur ein einziges, das durch die Generationen zu wandern und die sterblichen Einzelwesen zu überdauern scheint. Wie ein Netz von feinen Rissen breitet diese Erfahrung sich durch die Erzählung aus und überzieht sie so unmerklich wie lückenlos. Je länger Marías die Erinnerung zum Sprechen bringt, desto beunruhigender gehen Zeiten und Orte ineinander über. Eigentlich geschieht es bloß im Spaß, daß der Erzähler dem Fluß, der durch Oxford fließt, den Namen des indischen Stroms gibt, an dessen Ufern seine Geliebte als Tochter eines Kolonialbeamten aufgewachsen ist; aber mit jeder neuen Nennung wird die Entfernung geringer. Wenn dieselbe Geliebte am Ende, in der letzten gemeinsamen Nacht, ihre Kindheitsgeschichte vom Selbstmord der Mutter in Delhi erzählt, dann leuchtet durchs Hotelfenster ein Widerschein der bunten Lichter über ihre Schulter, mit denen die indischen Hotelpaläste Brightons nächtlich geschmückt sind.

Solche Motivechos und Zeitspiegelungen zeigen nicht nur die Spuren des Lehrmeisters Nabokov, den Marías ins Spanische übersetzt hat und dessen Name wie eine versteckte Hommage durch manche Kapitel dieses Buches geistert. Die kleine Welt der "Institutio Tayloriana" unterhält auch andere Verwandtschaftsverhältnisse, zum Beispiel mit derjenigen eines wohlbekannten Grandhotels in Davos. Zwar nur zwei, nicht sieben Jahre verbringt der gutmütige Held wie "ein lebender Toter" auf seinem akademisch verkleideten und verkleinerten Zauberberg; zweifellos sind die beiden Mentoren, die von rechts und links väterlich um seine unschuldige Seele werben, in ihrer britischen Distinguiertheit verträglichere Gesellen als ihre alpinen Verwandten; und auch die Geliebte, die englische Professorengattin und Mutter, ist weder auffallend knabenhaft noch sonderlich dämonisch. Aber die Konstellationen sind doch beinahe dieselben, und es sind dieselben Zeitvermischungen, die in ihnen durchgespielt werden, dieselben durchlässigen Identitäten, dieselben realistischen Märchen von einer Welt jenseits der Zeit. Auch hier verflüssigen das dreifache Gesicht, die verdoppelten Flüsse und Paläste die festen Grenzen zwischen Zeiten, Orten und Figuren, polieren sie die genauen Details, bis sie durchsichtig werden und einen Untergrund aus mythischer Wiederkehr hindurchschimmern lassen, die dauerhafter sein könnte als alle sterblichen Einzelwesen - könnte und es doch nicht ist.

Denn die erhoffte Ewigkeit trügt, und vielleicht ist sie nicht einmal zu erhoffen. Jedesmal nämlich zeigt der zweite Blick, daß keine Wiederholung ganz rein ausfällt, immer stören Brüche und Verschiebungen das Spiegelbild. Das Leben, das hier erzählt wird, ist ein eifriger und schlechter Kopist. Es wiederholt sich ebenso gern wie ungenau, und allein seine kleinen Fehler verhindern die Stagnation der ewigen Wiederkehr. Mag sein, daß das, was "ich" sagt, ebenso verschwimmende Grenzen hat wie das, was in der Erinnerung als tatsächliches Geschehen erscheint - mag sein, aber daß es dennoch eine unwiederholbare Einheit bildet im Strom der Wiederkehr, das verdankt es diesen kleinen Abweichungen von den mythischen Vorgängern. Das Ich, zeigt Marías' Erzählung, ist ein Kunstfehler des Lebens; und für die bescheidenen Wonnen der Individuation ist die Endlichkeit vielleicht doch kein zu hoher Preis.

Kurz bevor wir den Roman und seine kleine Zauberwelt wieder verlassen, winkt uns noch einmal Will zu, der uralte Portier, der alle begrüßt hat. "Alle", das heißt hier und erst auf den letzten Seiten ausdrücklich "alle Seelen". Am Eingang zu ihrem zeitlosen Aufenthalt steht der Portier, der selbst die Zeit verloren hat, als ein gemütskranker Petrus. Die Seele dessen, der alle Seelen einläßt, ist beschädigt. Wer an ihm vorbei den Ausgang wiederfindet, kehrt ins Leben zurück. Vorläufig.

Javier Marías: "Alle Seelen". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Elke Wehr. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1997. 277 S., geb., 38,-DM.

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