Nedim Gürsel, Jahrgang 1951, erzählt von der eigenen Kindheit, die er bei den Großeltern in Manisa in der Türkei verlebte. Der Großvater führt Nedim in die Welt des Islam ein. Er tut es sanft und menschlich. Trotzdem beschäftigen und plagen den Jungen die Rätsel, Wunder und Legenden der Religion - von denen Gürsel ebenfalls erzählt: von der »Kindheit« des Islam, in der »Allahs Töchter« dem Kampf Mohammeds für den einen Gott zu weichen haben. In einer Mischung aus Bedauern, Eifersucht, Neid und Faszination läßt er Lat, Manat und Uzza - so heißen die drei weiblichen Götzen - aus der Kaaba in Mekka berichten. Der Großvater diente im Ersten Weltkrieg »nebenan«, in Medina, als Soldat. Aus seinen Erinnerungen erfahren wir mehr über den Untergang des Osmanischen Reichs, über Geburtswehen und »Kindheit« der modernen Türkei. Muslime kämpften gegen Muslime, Türken gegen Araber und Engländer ... Das alles ist aktuellste Vorgeschichte der Gegenwart, in der uns der Islam in manchen Erscheinungen absolut und bedrohlich begegnet. Fast unter der Hand führt Gürsels Geschichtenerzählen zu einer menschlich relativierenden Betrachtungsweise. (Übrigens ist, wovon der Autor die Töchter Allahs singen und klagen läßt, zwar überraschend und wenig bekannt, es entstammt jedoch der islamischen Überlieferung - weshalb von Blasphemie nicht die Rede sein kann.) Einnehmend, phantastisch und erhellend ist Nedim Gürsels weit in die Vergangenheit - bis zu Allahs Töchtern - ausgreifender Entwicklungsroman eines türkischen Jungen in der Mitte des 20. Jahrhunderts.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Für Stefan Weidner schließt Nedim Gürsels Roman eine Lücke, deren Existenz dem Rezensenten bisher gar nicht bewusst war: die Mythen und Legenden aus der Frühzeit des Islam, die den Glauben vieler Muslime wahrscheinlich stärker prägten als die schwer zugänglichen Korantexte. Auch Gürsels Blick auf den Ersten Weltkrieg war für den Rezensenten neu: Wie der Großvater des Erzählers seinen Kampf an der Seite des Deutschen Reichs und gegen die europäischen Großmächte und ihre arabischen Verbündeten (Lawrence!) rechtfertigt, das hat Weidner so noch nicht gelesen. Literarisch scheint Gürsel das Gewicht, das er sich hiermit aufbürdet, nicht ganz mühelos zu schultern, wie der Rezensent durchblicken lässt. Weidner kann aber versichern, dass Blasphemie-Vorwürfe gegen "Allahs Töchter" völlig an der Sache vorbei gehen, eher sieht er das Buch als Teil einer "religiös-imperialen Renaissance" in Erdogans Türkei, ohne dies weiter auszuführen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.2012Stille Post zwischen Himmel und Erde
Ist der Roman "Allahs Töchter" eine Hommage an die Wunder des Islams oder reine Blasphemie? Nedim Gürsel hat ein wunderbares Buch über Glauben und Glaubensverlust geschrieben.
Auf dem langen Weg vom Schöpfer über die Propheten bis hin zu den Gläubigen geht es über die Jahrhunderte zu wie bei der "Stillen Post". Nicht alles, was abgeschickt wurde, kam auch so an, und nicht alles, was zugestellt wurde, hatte den richtigen Absender, von den Sendungen in die andere Richtung ganz zu schweigen. Solche Fehler im Kommunikationssystem zwischen Himmel und Erde beschäftigen bis heute Heerscharen von Religionswissenschaftlern. Den Dichtern, die mit den Worten groß- und freizügiger umgehen, dienten diese Übertragungsfehler seit je als Nahrung für ihre Geschichten, die den ernannten Vertretern Gottes auf Erden wiederum nicht immer behagten.
Ob wir ohne Religion auskommen können, sei dahingestellt, unbestritten ist, dass wir ohne die Erzählungen der heiligen Bücher ziemlich arm dran wären. In diesem Sinne ist Nedim Gürsels Roman "Allahs Töchter", 2008 im türkischen Original erschienen, ein wunderbares Buch über den Glauben und ein sehr melancholisches über den Verlust desselben. Dass der seit den siebziger Jahren in Paris türkische Literatur lehrende Autor dafür in seiner Heimat der Blasphemie angeklagt wurde, ist hierzulande nur schwer nachvollziehbar, denn das Buch liest sich ganz und gar nicht als Kritik, sondern eher als eine Hommage an die Wunder des Islams, an seinen ästhetischen Zauber und die Kraft, die Religion verleihen kann.
Nedim Gürsel, der in Sachen Zensur und politischer Verfolgung schon unter der türkischen Militärregierung in den achtziger Jahren einiges einstecken musste und ins Exil ging, weiß sich heute immerhin in bester Gesellschaft, schließlich riefen auch die beiden anderen international bekannten türkischen Autoren Orham Pamuk und die in den Vereinigten Staaten lebende Elif Shafak mit ihren Büchern, die auf den armenischen Genozid anspielten, die türkische Justiz auf den Plan. Dabei wird in "Allahs Töchtern" gar nicht der Koran kritisch hinterfragt, auch nicht das Leben des Propheten, wiewohl einigen Religionshütern schon die Darstellung Mohammeds als Mensch aus Fleisch und Blut missfallen soll, sondern - eher nebenbei - die Usurpierung des Glaubens für politische Zwecke wie Nationalismus und Krieg.
Wie in einer filigranen Kalligraphie werden dazu zahlreiche Stimmen, Themen und Erzählzeiten, Legenden, Aufzeichnungen und Erinnerungen miteinander verbunden, stilistisch gekonnt zwischen Tradition und Postmoderne changierend: Da ist die vorislamische Zeit, jene Jahre des Übergangs der arabischen Stämme vom Poly- zum Monotheismus, die Geschichte des Aufstiegs eines mittellosen Waisenknaben zum Propheten und sein Kampf gegen die Götzenanbetung der Einwohner Mekkas. Die blutrünstigen heidnischen Kureysch beteten zu den drei in der Kaaba behausten Töchtern Allahs, Lat, Manat und Uzza, die ebenfalls ihre Stimmen im Kanon des Buches erheben. Mit den Religionen und den Romanen ist es wie beim Umzug in eine andere Wohnung, irgendeine Kiste muss immer noch mit und steht dann jahrelang unausgepackt in der Ecke, man könnte den Inhalt ja noch mal brauchen. In einer schwachen Stunde gibt der Prophet den vermeintlichen Einflüsterungen des Erzengels nach, die drei populären Göttinnen doch noch in die monotheistische Lehre einzubeziehen als Mittlerinnen zwischen Gott und Mensch, bis er bemerkt, dass die Worte nicht vom Herrn, sondern vom Teufel kamen, jene Verse also, die später als die "satanischen" in die Religionsgeschichte eingingen und aus dem Koran getilgt wurden. Wir begegnen zahlreichen historischen Figuren, darunter dem Haudegen und Bonvivant Imruü'l-Kays, der nach Konstantinopel zog, um die von der Hure zur Kaiserin aufgestiegene skandal- und sagenumwobene Theodora zu verführen, auf dass ihm der eifersüchtige Herrscher, der ihn nie empfing, eine Jacke hinterherschickte, deren vergifteter Stoff den Barden und Dichter in einer Karawanserei elend verrecken ließ. Für die Architektur des Romans entbehrlich, aber wunderschön.
In poetisch-nostalgischen Gemälden erinnert sich der Erzähler an seine Kindheit im anatolischen Manisa in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, die er bei den tiefreligiösen Großeltern verbrachte. Dort erlebte er zum ersten Mal den Zauber des Korans und lauschte gebannt den religiösen Erzählungen des Großvaters und den Gesängen der Straßenmusiker, die im traditionellen anatolischen Islam, seiner Mystik und seiner sinnlichen Wortgewalt verwurzelt waren. Die arabische Sprache der Koranverse war für den Jungen ein fremder, exotischer Klang, die Ornamentik des Alphabets ein Geheimnis; die Erzählungen über Himmel und Hölle, über die Opferung des Sohnes Abrahams und seine Rettung in letzter Minute packende Märchen. Das Paradies mit seinen "knospenbrüstigen Jungfrauen" schien dagegen ziemlich fad.
Auf sehr subtile Weise stellt das Buch nicht nur die Frage nach dem Preis des durch die Moderne hervorgerufenen Bruches zwischen Religion und Kultur, lokaler Tradition und Glauben, sondern auch die nach dem Band zwischen Istanbul und Mekka, Arabien und der Türkei. Darin knüpft es an den vorangegangenen Roman "Turbane in Venedig" (2002) an, der kulturelle und emotionale Verbindungen zwischen Europa und Eurasien und den beiden mediterranen Hafenstädten aufzuspüren suchte.
Als frischgebackener Absolvent der Rechtswissenschaften der Universität von Istanbul zog der Großvater einst beherzt in den Ersten Weltkrieg und verlor bei der Belagerung der heiligen Stadt Medina gegen die von Engländern aufgerüsteten Araber seinen linken Arm - noch bevor er das Grab des Propheten besuchen konnte. Mehr als der durch den Verlust der Gliedmaßen hervorgerufene Phantomschmerz erschütterte den frommen Muslim die Tatsache, dass sich Glaubensbrüder brutal niedermetzelten oder die Osmanen in Damaskus Dutzende Mitglieder eines arabischen Geheimbundes öffentlich hängten. "In ihm kochte ein Gefühl der Empörung hoch ... Er glaubte an den Koran, doch er hatte es nie für richtig gehalten, dass Jahrhunderte nach der Offenbarung ... sich Gerichtsurteile auf die Scharia und das Wort Gottes beriefen. Die Herrschaft des Rechts sollte sich von der Herrschaft Gottes unterscheiden."
Im Nachlass des Großvaters finden sich Jahre nach dessen Tod Papiere, die erklären, was der Alte einst damit meinte, wenigstens einmal einem Menschen das Leben gerettet zu haben. Zwischen Ratio und Glauben blieb dem angesehenen Rechtsanwalt in einer Anklage nur der Irrsinn, den er dem Bäcker Ibrahim bescheinigte, nachdem dieser seinen einzigen, heißgeliebten Sohn Ismail zu opfern bereit war, um Gott seinen Glauben zu beweisen. Als Allah dem Bäcker im Gegenzug weder ein Schaf noch eine Ziege sandte, erstach der Vater den Jungen, einen Spielkameraden des Erzählers, und verlor nicht nur den Glauben, sondern auch den Verstand. Ob die Tat des Großvaters eine gute war oder eine Sünde, müssten die Schreibengel, die Gott den Muslimen auf die Schultern setzt, bilanzieren. Der auf der rechten Schulter notiert für den jüngsten Tag die guten Taten, der auf der linken die Sünden. Die aber fehlte dem Großvater seit der Schlacht um Medina.
SABINE BERKING.
Nedim Gürsel: "Allahs Töchter". Roman.
Aus dem Türkischen von Barbara Yurtdas. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 340 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ist der Roman "Allahs Töchter" eine Hommage an die Wunder des Islams oder reine Blasphemie? Nedim Gürsel hat ein wunderbares Buch über Glauben und Glaubensverlust geschrieben.
Auf dem langen Weg vom Schöpfer über die Propheten bis hin zu den Gläubigen geht es über die Jahrhunderte zu wie bei der "Stillen Post". Nicht alles, was abgeschickt wurde, kam auch so an, und nicht alles, was zugestellt wurde, hatte den richtigen Absender, von den Sendungen in die andere Richtung ganz zu schweigen. Solche Fehler im Kommunikationssystem zwischen Himmel und Erde beschäftigen bis heute Heerscharen von Religionswissenschaftlern. Den Dichtern, die mit den Worten groß- und freizügiger umgehen, dienten diese Übertragungsfehler seit je als Nahrung für ihre Geschichten, die den ernannten Vertretern Gottes auf Erden wiederum nicht immer behagten.
Ob wir ohne Religion auskommen können, sei dahingestellt, unbestritten ist, dass wir ohne die Erzählungen der heiligen Bücher ziemlich arm dran wären. In diesem Sinne ist Nedim Gürsels Roman "Allahs Töchter", 2008 im türkischen Original erschienen, ein wunderbares Buch über den Glauben und ein sehr melancholisches über den Verlust desselben. Dass der seit den siebziger Jahren in Paris türkische Literatur lehrende Autor dafür in seiner Heimat der Blasphemie angeklagt wurde, ist hierzulande nur schwer nachvollziehbar, denn das Buch liest sich ganz und gar nicht als Kritik, sondern eher als eine Hommage an die Wunder des Islams, an seinen ästhetischen Zauber und die Kraft, die Religion verleihen kann.
Nedim Gürsel, der in Sachen Zensur und politischer Verfolgung schon unter der türkischen Militärregierung in den achtziger Jahren einiges einstecken musste und ins Exil ging, weiß sich heute immerhin in bester Gesellschaft, schließlich riefen auch die beiden anderen international bekannten türkischen Autoren Orham Pamuk und die in den Vereinigten Staaten lebende Elif Shafak mit ihren Büchern, die auf den armenischen Genozid anspielten, die türkische Justiz auf den Plan. Dabei wird in "Allahs Töchtern" gar nicht der Koran kritisch hinterfragt, auch nicht das Leben des Propheten, wiewohl einigen Religionshütern schon die Darstellung Mohammeds als Mensch aus Fleisch und Blut missfallen soll, sondern - eher nebenbei - die Usurpierung des Glaubens für politische Zwecke wie Nationalismus und Krieg.
Wie in einer filigranen Kalligraphie werden dazu zahlreiche Stimmen, Themen und Erzählzeiten, Legenden, Aufzeichnungen und Erinnerungen miteinander verbunden, stilistisch gekonnt zwischen Tradition und Postmoderne changierend: Da ist die vorislamische Zeit, jene Jahre des Übergangs der arabischen Stämme vom Poly- zum Monotheismus, die Geschichte des Aufstiegs eines mittellosen Waisenknaben zum Propheten und sein Kampf gegen die Götzenanbetung der Einwohner Mekkas. Die blutrünstigen heidnischen Kureysch beteten zu den drei in der Kaaba behausten Töchtern Allahs, Lat, Manat und Uzza, die ebenfalls ihre Stimmen im Kanon des Buches erheben. Mit den Religionen und den Romanen ist es wie beim Umzug in eine andere Wohnung, irgendeine Kiste muss immer noch mit und steht dann jahrelang unausgepackt in der Ecke, man könnte den Inhalt ja noch mal brauchen. In einer schwachen Stunde gibt der Prophet den vermeintlichen Einflüsterungen des Erzengels nach, die drei populären Göttinnen doch noch in die monotheistische Lehre einzubeziehen als Mittlerinnen zwischen Gott und Mensch, bis er bemerkt, dass die Worte nicht vom Herrn, sondern vom Teufel kamen, jene Verse also, die später als die "satanischen" in die Religionsgeschichte eingingen und aus dem Koran getilgt wurden. Wir begegnen zahlreichen historischen Figuren, darunter dem Haudegen und Bonvivant Imruü'l-Kays, der nach Konstantinopel zog, um die von der Hure zur Kaiserin aufgestiegene skandal- und sagenumwobene Theodora zu verführen, auf dass ihm der eifersüchtige Herrscher, der ihn nie empfing, eine Jacke hinterherschickte, deren vergifteter Stoff den Barden und Dichter in einer Karawanserei elend verrecken ließ. Für die Architektur des Romans entbehrlich, aber wunderschön.
In poetisch-nostalgischen Gemälden erinnert sich der Erzähler an seine Kindheit im anatolischen Manisa in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, die er bei den tiefreligiösen Großeltern verbrachte. Dort erlebte er zum ersten Mal den Zauber des Korans und lauschte gebannt den religiösen Erzählungen des Großvaters und den Gesängen der Straßenmusiker, die im traditionellen anatolischen Islam, seiner Mystik und seiner sinnlichen Wortgewalt verwurzelt waren. Die arabische Sprache der Koranverse war für den Jungen ein fremder, exotischer Klang, die Ornamentik des Alphabets ein Geheimnis; die Erzählungen über Himmel und Hölle, über die Opferung des Sohnes Abrahams und seine Rettung in letzter Minute packende Märchen. Das Paradies mit seinen "knospenbrüstigen Jungfrauen" schien dagegen ziemlich fad.
Auf sehr subtile Weise stellt das Buch nicht nur die Frage nach dem Preis des durch die Moderne hervorgerufenen Bruches zwischen Religion und Kultur, lokaler Tradition und Glauben, sondern auch die nach dem Band zwischen Istanbul und Mekka, Arabien und der Türkei. Darin knüpft es an den vorangegangenen Roman "Turbane in Venedig" (2002) an, der kulturelle und emotionale Verbindungen zwischen Europa und Eurasien und den beiden mediterranen Hafenstädten aufzuspüren suchte.
Als frischgebackener Absolvent der Rechtswissenschaften der Universität von Istanbul zog der Großvater einst beherzt in den Ersten Weltkrieg und verlor bei der Belagerung der heiligen Stadt Medina gegen die von Engländern aufgerüsteten Araber seinen linken Arm - noch bevor er das Grab des Propheten besuchen konnte. Mehr als der durch den Verlust der Gliedmaßen hervorgerufene Phantomschmerz erschütterte den frommen Muslim die Tatsache, dass sich Glaubensbrüder brutal niedermetzelten oder die Osmanen in Damaskus Dutzende Mitglieder eines arabischen Geheimbundes öffentlich hängten. "In ihm kochte ein Gefühl der Empörung hoch ... Er glaubte an den Koran, doch er hatte es nie für richtig gehalten, dass Jahrhunderte nach der Offenbarung ... sich Gerichtsurteile auf die Scharia und das Wort Gottes beriefen. Die Herrschaft des Rechts sollte sich von der Herrschaft Gottes unterscheiden."
Im Nachlass des Großvaters finden sich Jahre nach dessen Tod Papiere, die erklären, was der Alte einst damit meinte, wenigstens einmal einem Menschen das Leben gerettet zu haben. Zwischen Ratio und Glauben blieb dem angesehenen Rechtsanwalt in einer Anklage nur der Irrsinn, den er dem Bäcker Ibrahim bescheinigte, nachdem dieser seinen einzigen, heißgeliebten Sohn Ismail zu opfern bereit war, um Gott seinen Glauben zu beweisen. Als Allah dem Bäcker im Gegenzug weder ein Schaf noch eine Ziege sandte, erstach der Vater den Jungen, einen Spielkameraden des Erzählers, und verlor nicht nur den Glauben, sondern auch den Verstand. Ob die Tat des Großvaters eine gute war oder eine Sünde, müssten die Schreibengel, die Gott den Muslimen auf die Schultern setzt, bilanzieren. Der auf der rechten Schulter notiert für den jüngsten Tag die guten Taten, der auf der linken die Sünden. Die aber fehlte dem Großvater seit der Schlacht um Medina.
SABINE BERKING.
Nedim Gürsel: "Allahs Töchter". Roman.
Aus dem Türkischen von Barbara Yurtdas. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 340 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.07.2012Die Göttinnen und die Bagdad-Bahn
In seinem neuen Roman „Allahs Töchter“ beschwört Nedim Gürsel den Islam seiner
Kindheit herauf – und erzählt von den offenen Wunden der Modernisierung in der Türkei
VON STEFAN WEIDNER
Wenn man dieses Buch gelesen hat, weiß man endlich, was man als westlicher Leser selbst in den gelungensten Romanen aus der islamischen Welt immer vermisst hat, ohne es je so recht benennen zu können: Den Einblick in die fundamentalen Vorstellungswelten, den aus Mythen und Legenden gespeisten geistigen Unterbau der Menschen, von denen wir lesen. Dass wir so selten davon erfahren, verwundert genau besehen nicht, sind doch diese Vorstellungswelten für Autoren und Leser eine unhinterfragte Gemeinsamkeit. Es braucht einen wie Nedim Gürsel, um diesen Urgrund sichtbar zu machen. Einerseits schreibt Gürsel als muslimisch sozialisierter Autor für ein westliches Publikum; andererseits schreibt er als Verwestlichter für die türkischen Muslime, die selber in der Regel nur ein gebrochenes, bestenfalls restauratives Verhältnis zur eigenen Tradition haben.
1951 geboren, verbrachte Gürsel seine Kindheit in der Türkei, Jugend- und Ausbildungsjahre jedoch in Paris, wo er heute lebt und an der Sorbonne lehrt. Fast alle seine mittlerweile fünf Bücher auf Deutsch bezeugen, wie sich Gürsel auch deshalb in die Vergangenheit der osmanisch-islamischen Kultur versenkt, weil sie ihm keine selbstverständliche Tradition mehr ist: sei es in seinem (deutschen) Erstling über Mehmet II., den Eroberer Istanbuls, sei es in seiner Nacherzählung der anatolischen Legenden, „Sieben Derwische“.
Ganz besonders gilt dies für „Allahs Töchter“. Der Roman paart die – größtenteils autobiographische – Geschichte einer Kindheit geschickt mit der Darstellung des verlorenen kollektiven Imaginationsraums. Vermessen wird dabei nichts weniger als Religion, Geschichte, Nation mitsamt der bis heute offenen Wunde, die die Entstehung der modernen Türkei hinterlassen hat. Die Schlüsselfigur dafür ist der Großvater, denn das Kind Nedim wuchs bei den Großeltern auf und kam dadurch in den Genuss einer Verschiebung im Generations- und Sozialisationsgefüge der modernen Türkei, die seine nicht mehr osmanisch geprägten Altersgenossen nicht erfahren haben und die ihn überhaupt erst zu den besonderen Blicken und Einsichten befähigt, die wir als Leser jetzt so bewundern.
Haci, Mekkapilger, wurde der Großvater genannt. In Wahrheit kam er nur bis Medina, und das als Gazi, wörtlich „Eroberer“: Er war Veteran. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er für das wankende Osmanische Reich, und Medina war die letzte Station der mit deutscher Hilfe gebauten Berlin-Bagdad-Bahn und damit ein wichtiges Angriffsziel. Wann hat man in der türkischen Literatur überhaupt je davon gelesen? Gürsel gelingt es, an dieser in der Türkei wohlverdrängten Geschichte ein ganzes Bündel von Traumata aufzuarbeiten. Als frommer Muslim glaubte der Großvater den Islam gegen die europäischen Großmächte – verkörpert in Lawrence’s britisch-arabischen Truppen – zu verteidigen; zugleich aber kämpfte er gegen niemand anderes als die Nachfahren des Propheten.
Gürsel referiert die Aufzeichnungen seines Großvaters, die er nur mit Hilfe eines Spezialisten für osmanische Handschrift entziffern kann. Wo die Grenze zwischen den Gedanken des Großvaters, der in Medina einen Arm verliert, und denen Gürsels zu ziehen wäre, wissen wir nicht. Aber was wir lesen, entspringt einem zutiefst humanen Geist, ist eine Art erzählerischer Versöhnung von Islam und Pazifismus, gerade weil die problematischen Seiten dieser Versöhnung nicht verschwiegen werden: „Wenn er ‚Nicht ihr habt sie getötet, sondern Allah hat sie getötet‘ vor sich hinmurmelte, dann überlegte er, ob er diesen und ähnliche Verse im Koran nicht kritisch hinterfragen sollte, doch dann bereute er diese Anwandlung. Allein Allah konnte wissen, was am besten, was am richtigsten war.“
Gürsels Buch ist aber noch viel mehr. Die Beschwörung der Kindheit im Schoß der Großmutter mündet in eine Nacherzählung der volkstümlichen Mythen des Islams, vor allem der Legenden über den Propheten. „Und wenn ich“, schreibt Gürsel, „geklaut habe, dann habe ich aus der gemeinsamen arabischen Überlieferung geklaut, ohne auf einen falschen Weg einzubiegen“. Die „geklauten“ Erzählungen entstammen der „offiziellen“ Mohammed-„Biographie“ (tatsächlich eher eine Sammlung von Heiligenlegenden) von Ibn Ishaq aus dem achten Jahrhundert.
Nach und nach führt das Andenken an die Kindheit so zu einer Art religiöser Wiederverzauberung: Selbst der von französischer Aufklärung durchtränkte Autor kann sich dem Charme der einst aus dem Mund der Großmutter gehörten Geschichten nicht entziehen. Für uns abendländische Leser liegt der Reiz an anderer Stelle: dass wir von diesen Legenden, die sonst nur der Spezialist kennt, überhaupt erst einmal erfahren. Sie prägen nämlich das Islambild der meisten Muslime mehr als die – den meisten Muslimen nur schwer zugänglichen – Texte in Koran und Hadith.
Literarisch hat diese Nacherzählung der in der islamischen Welt weitverbreiteten Mythen freilich einen kleinen Haken: Mohammed wird von einer so penetranten Aura des Guten, Schönen, und – last but not least – Erfolgreichen umwabert, dass der Text zwar viele Kuriosa, aber wenig Spannung bietet. Mit den titelgebenden „Töchtern Allahs“, den heidnischen Göttinnen des vorislamischen Mekka, die in den berüchtigten „Satanischen Versen“ erwähnt werden, setzt Gürsel einen Kontrapunkt. Aus der Perspektive der religiösen Verlierer(innen) wird noch einmal erzählt, was geschah, als der Islam die sinnenfrohe Welt der vorislamischen Heiden aus dem Tempel – der Kaaba – vertrieb. Dass religiöse Eiferer in der Türkei wegen dieser Passagen vor Gericht zogen, wundert jedoch. Es mag Gläubigen nicht passen, dass die heidnischen Göttinnen auf einmal eine eigene Stimme bekommen. Doch im Endeffekt unterhält der Roman ein affirmatives Verhältnis zu der vom Erzähler heraufbeschworenen Religion seiner Kindheit.
Zwar kann der Glaube von Fanatikern und Nationalisten missbraucht werden – Gürsel liefert zahlreiche Beispiele dafür –, ein integraler und letztlich positiver Bestandteil der türkischen Identität, so die Kernaussage des Buchs, ist er gleichwohl. Damit ließe sich dieser Roman in gewisser Weise sogar in die religiös-imperiale Renaissance einreihen, die die Türkei seit Erdogans Amtsantritt prägt und zu der auch die Wiederentdeckung des osmanischen Erbes zählt, von der Gürsel am Beispiel des eigenen Lebens berichtet.
Als frommer Muslim wollte der
Großvater den Islam gegen die
europäischen Mächte verteidigen
Noch einmal wird hier erzählt, wie
der Islam die sinnenfrohe Welt der
Heiden aus der Kaaba vertrieb
„Du hast jene Fahrt auf den Holzbänken der dritten Klasse nicht vergessen, die vor dem Fenster vorbeiziehenden kahlen Hügel, die Kinder, die ,Zeituuung, Zeituuung!‘ schreiend dem Zug nachrannten.“ Reisende und die Bagdad-Bahn, 1935.
Foto: Ullstein Bild
Nedim Gürsel: Allahs
Töchter. Roman. Aus dem Türkischen von Barbara Yurtadas. Suhrkamp
Verlag, Berlin 2012.
346 Seiten, 24,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In seinem neuen Roman „Allahs Töchter“ beschwört Nedim Gürsel den Islam seiner
Kindheit herauf – und erzählt von den offenen Wunden der Modernisierung in der Türkei
VON STEFAN WEIDNER
Wenn man dieses Buch gelesen hat, weiß man endlich, was man als westlicher Leser selbst in den gelungensten Romanen aus der islamischen Welt immer vermisst hat, ohne es je so recht benennen zu können: Den Einblick in die fundamentalen Vorstellungswelten, den aus Mythen und Legenden gespeisten geistigen Unterbau der Menschen, von denen wir lesen. Dass wir so selten davon erfahren, verwundert genau besehen nicht, sind doch diese Vorstellungswelten für Autoren und Leser eine unhinterfragte Gemeinsamkeit. Es braucht einen wie Nedim Gürsel, um diesen Urgrund sichtbar zu machen. Einerseits schreibt Gürsel als muslimisch sozialisierter Autor für ein westliches Publikum; andererseits schreibt er als Verwestlichter für die türkischen Muslime, die selber in der Regel nur ein gebrochenes, bestenfalls restauratives Verhältnis zur eigenen Tradition haben.
1951 geboren, verbrachte Gürsel seine Kindheit in der Türkei, Jugend- und Ausbildungsjahre jedoch in Paris, wo er heute lebt und an der Sorbonne lehrt. Fast alle seine mittlerweile fünf Bücher auf Deutsch bezeugen, wie sich Gürsel auch deshalb in die Vergangenheit der osmanisch-islamischen Kultur versenkt, weil sie ihm keine selbstverständliche Tradition mehr ist: sei es in seinem (deutschen) Erstling über Mehmet II., den Eroberer Istanbuls, sei es in seiner Nacherzählung der anatolischen Legenden, „Sieben Derwische“.
Ganz besonders gilt dies für „Allahs Töchter“. Der Roman paart die – größtenteils autobiographische – Geschichte einer Kindheit geschickt mit der Darstellung des verlorenen kollektiven Imaginationsraums. Vermessen wird dabei nichts weniger als Religion, Geschichte, Nation mitsamt der bis heute offenen Wunde, die die Entstehung der modernen Türkei hinterlassen hat. Die Schlüsselfigur dafür ist der Großvater, denn das Kind Nedim wuchs bei den Großeltern auf und kam dadurch in den Genuss einer Verschiebung im Generations- und Sozialisationsgefüge der modernen Türkei, die seine nicht mehr osmanisch geprägten Altersgenossen nicht erfahren haben und die ihn überhaupt erst zu den besonderen Blicken und Einsichten befähigt, die wir als Leser jetzt so bewundern.
Haci, Mekkapilger, wurde der Großvater genannt. In Wahrheit kam er nur bis Medina, und das als Gazi, wörtlich „Eroberer“: Er war Veteran. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er für das wankende Osmanische Reich, und Medina war die letzte Station der mit deutscher Hilfe gebauten Berlin-Bagdad-Bahn und damit ein wichtiges Angriffsziel. Wann hat man in der türkischen Literatur überhaupt je davon gelesen? Gürsel gelingt es, an dieser in der Türkei wohlverdrängten Geschichte ein ganzes Bündel von Traumata aufzuarbeiten. Als frommer Muslim glaubte der Großvater den Islam gegen die europäischen Großmächte – verkörpert in Lawrence’s britisch-arabischen Truppen – zu verteidigen; zugleich aber kämpfte er gegen niemand anderes als die Nachfahren des Propheten.
Gürsel referiert die Aufzeichnungen seines Großvaters, die er nur mit Hilfe eines Spezialisten für osmanische Handschrift entziffern kann. Wo die Grenze zwischen den Gedanken des Großvaters, der in Medina einen Arm verliert, und denen Gürsels zu ziehen wäre, wissen wir nicht. Aber was wir lesen, entspringt einem zutiefst humanen Geist, ist eine Art erzählerischer Versöhnung von Islam und Pazifismus, gerade weil die problematischen Seiten dieser Versöhnung nicht verschwiegen werden: „Wenn er ‚Nicht ihr habt sie getötet, sondern Allah hat sie getötet‘ vor sich hinmurmelte, dann überlegte er, ob er diesen und ähnliche Verse im Koran nicht kritisch hinterfragen sollte, doch dann bereute er diese Anwandlung. Allein Allah konnte wissen, was am besten, was am richtigsten war.“
Gürsels Buch ist aber noch viel mehr. Die Beschwörung der Kindheit im Schoß der Großmutter mündet in eine Nacherzählung der volkstümlichen Mythen des Islams, vor allem der Legenden über den Propheten. „Und wenn ich“, schreibt Gürsel, „geklaut habe, dann habe ich aus der gemeinsamen arabischen Überlieferung geklaut, ohne auf einen falschen Weg einzubiegen“. Die „geklauten“ Erzählungen entstammen der „offiziellen“ Mohammed-„Biographie“ (tatsächlich eher eine Sammlung von Heiligenlegenden) von Ibn Ishaq aus dem achten Jahrhundert.
Nach und nach führt das Andenken an die Kindheit so zu einer Art religiöser Wiederverzauberung: Selbst der von französischer Aufklärung durchtränkte Autor kann sich dem Charme der einst aus dem Mund der Großmutter gehörten Geschichten nicht entziehen. Für uns abendländische Leser liegt der Reiz an anderer Stelle: dass wir von diesen Legenden, die sonst nur der Spezialist kennt, überhaupt erst einmal erfahren. Sie prägen nämlich das Islambild der meisten Muslime mehr als die – den meisten Muslimen nur schwer zugänglichen – Texte in Koran und Hadith.
Literarisch hat diese Nacherzählung der in der islamischen Welt weitverbreiteten Mythen freilich einen kleinen Haken: Mohammed wird von einer so penetranten Aura des Guten, Schönen, und – last but not least – Erfolgreichen umwabert, dass der Text zwar viele Kuriosa, aber wenig Spannung bietet. Mit den titelgebenden „Töchtern Allahs“, den heidnischen Göttinnen des vorislamischen Mekka, die in den berüchtigten „Satanischen Versen“ erwähnt werden, setzt Gürsel einen Kontrapunkt. Aus der Perspektive der religiösen Verlierer(innen) wird noch einmal erzählt, was geschah, als der Islam die sinnenfrohe Welt der vorislamischen Heiden aus dem Tempel – der Kaaba – vertrieb. Dass religiöse Eiferer in der Türkei wegen dieser Passagen vor Gericht zogen, wundert jedoch. Es mag Gläubigen nicht passen, dass die heidnischen Göttinnen auf einmal eine eigene Stimme bekommen. Doch im Endeffekt unterhält der Roman ein affirmatives Verhältnis zu der vom Erzähler heraufbeschworenen Religion seiner Kindheit.
Zwar kann der Glaube von Fanatikern und Nationalisten missbraucht werden – Gürsel liefert zahlreiche Beispiele dafür –, ein integraler und letztlich positiver Bestandteil der türkischen Identität, so die Kernaussage des Buchs, ist er gleichwohl. Damit ließe sich dieser Roman in gewisser Weise sogar in die religiös-imperiale Renaissance einreihen, die die Türkei seit Erdogans Amtsantritt prägt und zu der auch die Wiederentdeckung des osmanischen Erbes zählt, von der Gürsel am Beispiel des eigenen Lebens berichtet.
Als frommer Muslim wollte der
Großvater den Islam gegen die
europäischen Mächte verteidigen
Noch einmal wird hier erzählt, wie
der Islam die sinnenfrohe Welt der
Heiden aus der Kaaba vertrieb
„Du hast jene Fahrt auf den Holzbänken der dritten Klasse nicht vergessen, die vor dem Fenster vorbeiziehenden kahlen Hügel, die Kinder, die ,Zeituuung, Zeituuung!‘ schreiend dem Zug nachrannten.“ Reisende und die Bagdad-Bahn, 1935.
Foto: Ullstein Bild
Nedim Gürsel: Allahs
Töchter. Roman. Aus dem Türkischen von Barbara Yurtadas. Suhrkamp
Verlag, Berlin 2012.
346 Seiten, 24,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Wenn man dieses Buch gelesen hat, weiß man endlich, was man als westlicher Leser selbst in den gelungensten Romanen aus der islamischen Welt immer vermisst hat, ohne es je so recht benennen zu können: Den Einblick in die fundamentalen Vorstellungswelten, den aus Mythen und Legenden gespeisten geistigen Unterbau der Menschen, von denen wir lesen.« Stefan Weidner qantara.de 20130404