Es ist ihr letzter Sommer vor dem College, der beste Sommer seit der achten Klasse. Kim badet im Fluss, steigt in ihren alten Chevy und macht sich auf den Weg zum Schnellrestaurant, wo sie arbeitet. Dann verliert sich ihre Spur.
Familie, Freunde, Polizei - plötzlich sind alle betroffen. Kims Verschwinden rührt an den Grundfesten der mittelständischen Ordnung. Aus Menschen, die sie kannten, werden solche, die sie bloß zu kennen glaubten. Sie werden sich selbst und einander verdächtig. Und halten nach Kräften an dem fest, was ihnen zu entgleiten droht: Kim oder die Erinnerung an sie, die kleinstädtische Ruhe - und die eigenen Geheimnisse.
Mit feinem Gespür für die abgründigen Schattierungen des Alltäglichen zeichnet Stewart O'Nan das Psychogramm einer Kleinstadt im Ausnahmezustand. Ein hochliterarischer Thriller - unaufdringlich anrührend und von nachgerade beklemmender Präzision.
Familie, Freunde, Polizei - plötzlich sind alle betroffen. Kims Verschwinden rührt an den Grundfesten der mittelständischen Ordnung. Aus Menschen, die sie kannten, werden solche, die sie bloß zu kennen glaubten. Sie werden sich selbst und einander verdächtig. Und halten nach Kräften an dem fest, was ihnen zu entgleiten droht: Kim oder die Erinnerung an sie, die kleinstädtische Ruhe - und die eigenen Geheimnisse.
Mit feinem Gespür für die abgründigen Schattierungen des Alltäglichen zeichnet Stewart O'Nan das Psychogramm einer Kleinstadt im Ausnahmezustand. Ein hochliterarischer Thriller - unaufdringlich anrührend und von nachgerade beklemmender Präzision.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.01.2009Das Leben nach der Katastrophe
Stewart O’Nan erzählt in seinem neuen Roman „Alle, alle lieben dich” vom Verschwinden eines Mädchens
Im Kreis der Familie Larsen gibt es ein eingespieltes Ritual: „Jedes Mal, wenn sie sich auf engem Raum drängten wie in der Küche, rief der Erste, dem es auffiel: ‚Die ganze Familie in einem Zimmer.‘” Eine kleine, etwas alberne Angewohnheit, die ab dem Juli 2005 aus dem Leben der Larsens getilgt ist, wie sich überhaupt dieses Leben schlagartig verändert – Kim, die achtzehnjährige Tochter, verschwindet an einem heißen Sommertag spurlos. Gerade war sie noch mit ihren Freundinnen am Fluss baden, hat sich in ihr Auto gesetzt, um zur Arbeit zu fahren, einer Aushilfstätigkeit an der Tankstelle. Dann verliert sich ihre Spur. Es sollte der beste Sommer ihres Lebens werden, „der Sommer, von dem sie seit der achten Klasse geträumt hatten.”
Bereits in seinem im Jahr 2005 erschienenen fabelhaften Roman „Abschied von Chautauqua” zieht sich das Motiv eines an einer Tankstelle verschwundenen Mädchens bedrohlich über die brüchige Idylle einer Sommerfrische. Nun hat O’Nan aus diesem Stoff einen ganzen Roman gewonnen, der, wie das Nachwort vermuten lässt, auf einer realen Begebenheit beruht. Das allerdings tut der literarischen Qualität von „Alle, alle lieben dich” keinen Abbruch – wie in seinem gesamten Werk zeigt O’Nan sich als ein genauer Beobachter des durchschnittlichen amerikanischen Kleinstadtlebens und der dahinter lauernden Abgründe.
Idiotische Disneytränen
Das ist O’Nans Terrain, auf dem er sich so perfekt auskennt wie sonst wohl kein anderer amerikanischer Gegenwartsautor. Kingsville, Ohio, so heißt die Kleinstadt, in der die Larsens leben und aus der sich Kim und ihre Freundinnen herausträumen. Eine insgesamt friedliche Gemeinde im Mittleren Westen, nicht weit von Cleveland entfernt. Fran, Kims Mutter, arbeitet im Krankenhaus; Ed, der Vater, bekommt als Immobilienmakler seit Jahren die Vorzeichen der großen Krise zu spüren; seit einiger Zeit müssen die anfallenden Rechnungen zum Teil von den Ersparnissen bezahlt werden. Kims fünfzehnjährige Schwester Lindsay schließlich, die heimliche Protagonistin des Romans, leidet unter der Schönheit und Beliebtheit ihrer Schwester, während sie selbst sich mit einer Brille und einer Zahnspange herumplagen muss. Eine ganz normale Familie.
Raffiniert arrangiert O’Nan seinen Roman um eine schmerzhafte Leerstelle und setzt in Mosaiktechnik nach und nach ein Bild zusammen, das sich nicht zu einem harmonischen Ganzen fügen kann und will. Minutiös werden gleich zu Beginn Kims letzte Stunden mit den Freunden, der Schwester und den Eltern beschrieben; was danach geschieht, bleibt lange im Dunkeln und ist auch nicht weiter wichtig – „Alle, alle lieben dich” ist kein Thriller, wie der Klappentext behauptet, sondern ein mitreißendes, manchmal anrührendes, aber niemals sentimentales Buch über das Weiterleben nach einer Katastrophe. Und eine Studie darüber, wie sowohl jeder Einzelne, aber auch eine ganze Stadt als soziale Gemeinschaft mit einem Ereignis wie diesem umgeht. Der familiären Panik und Hilflosigkeit steht die Nüchternheit und Routine entgegen, mit der die Polizei den Fall behandelt. Es ist ein unauflösbarer Widerspruch, den O’Nan aufeinanderprallen lässt: Die einzelnen Kapitelüberschriften tragen Namen wie „Beschreibung der vermissten Person” oder „Letzter bekannter Aufenthaltsort”. Hinter der Sachlichkeit tut sich Verzweiflung auf: Fran Larsen sucht Hilfe im Internet, durchforstet die zahlreichen Homepages mit ähnlich gelagerten Fällen, druckt Musterflugblätter aus. Währenddessen organisiert Ed Larsen Freiwilligentrupps, die in der Umgebung von Kingsville vergeblich nach Spuren von Kim suchen. So weit, so normal.
Doch es gibt einen Punkt, an dem die von Beginn an zweifelhaft erscheinende Familiensolidarität kippt; an dem die Risse im Lars’schen Mikrokosmos unübersehbar werden. Wie so oft sind es nicht die spektakulären, dunklen Seiten des American Way of Life, für die O’Nan sich interessiert. Er fängt vielmehr feine Stimmungslagen und -veränderungen auf. Die Suche nach Kim wird, angetrieben von Fran, zusehends zum Selbstzweck. Der blanke Aktionismus, der die dem Alkohol in großen Mengen zusprechende Mutter antreibt, kaschiert die Hoffnungslosigkeit. Die Tage gehen ins Land, von Kim fehlt weiterhin jede Spur; zunächst taucht noch nicht einmal ihr Auto auf. Eine aufwendig inszenierte Medien- und Betroffenheitsmaschinerie setzt sich in Gang; Buttons und Armbänder werden entworfen, mit deren Verkauf die Belohnung für Hinweise finanziert werden soll; im örtlichen Baseballstadion werden pompöse Gedenk- und Solidaritätsveranstaltungen für Kim abgehalten; das Lied „Somewhere over the Rainbow” wird zum Soundtrack der Kitschgala. Mittendrin sitzt die so kluge wie zurückhaltende Lindsay, bemüht sich, ihre „idiotischen Disneytränen” zurückzuhalten und denkt sich, wie bescheuert ihre große Schwester all das gefunden hätte.
Die Ordnung der Listen
Es ist eine subtile Doppelbödigkeit, die den Roman durchzieht: Die Polizei bittet die Eltern um eine Frontalaufnahme von Kim, auf der diese lächelt; kurze Zeit später liest Fran im Internet, „dass auf die Art der Gerichtsmediziner die Aufnahme eines Schädels über die ihres Gesichts legen und die Zähne direkt miteinander vergleichen konnte.” Und auch der Romantitel selbst spielt mit den Verklärungseffekten, die bereits kurz nach dem vermeintlichen Verbrechen einsetzen: Nicht nur dass Kim seit Jahren im Dauerstreit mit ihrer Mutter gelegen hat; noch dazu war sie wohl gemeinsam mit einem zwielichtigen Dealer (mit dem sie auch ihren Freund betrogen hat) in ein unsauberes Geschäft der größeren Art verwickelt. Die personale Erzählperspektive, die von Kapitel zu Kapitel wechselt, ist ein bewährtes Stilprinzip Stewart O’Nans. Auf diese Weise werden die Abgründe zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen Schein und Sein besonders augenfällig. So ist „Alle, alle lieben dich” auch das Porträt einer Ehe in Schieflage: Während Fran geradezu aufzublühen scheint und die sinnlose Suche nach einer spurlos Verschwundenen in endlose Listen und komplizierte Organisationsstrukturen verwandelt, ist Ed zusehends ausgelaugt und ausgebrannt. Zu Weihnachten besteht Fran noch darauf, auch für Kim ein Geschenk zu kaufen; die Gebühren für das College, auf das sie nie gegangen ist, werden weiterhin bezahlt.
Doch die Monate und die Jahre vergehen; die Benefizveranstaltungen werden schlechter besucht. Lindsay geht, wir schreiben mittlerweile 2008, auf ein College in Chicago, wo sie endlich nicht mehr nur die Schwester eines prominenten Opfers ist; Ed geht jeden Tag angeln und kapselt sich ab. „Es gab”, so heißt es gegen Ende, „immer noch Augenblicke, in denen alles, was mit seinem Leben nicht stimmte, gleichzeitig auf ihn einstürzte, unentrinnbar und fest miteinander verknüpft, und dann ballte er die Fäuste, um den Drang zu unterdrücken, den Menschen umzubringen, der ihnen Kim genommen hatte. Diese Augenblicke gingen vorbei, aber im Grunde seines Herzens befürchtete er, rachsüchtig und verbittert zu werden. Sonntags bat er um Vergebung. Den Rest der Woche fand er das Gefühl gerechtfertigt.”
Beiläufig kommt vieles daher. O’Nans Sprache ist ruhig, beherrscht, wenig aufregend, doch die Nähe zu seinen Figuren ist unerbittlich; dem fein justierten Blick entgeht kaum etwas – unterdrückte Wut und offene Trauer, Neid und Missgunst, Verlorenheit und Sehnsucht, Hoffnung und Ernüchterung. Der Umstand, dass das Zentrum des Romans eine Projektionsfläche all dessen ist, lässt die Verlaufslinien seiner Konflikte nur noch deutlicher zu Tage treten. In „Alle, alle lieben dich” erweist sich Stewart O’Nan einmal mehr als ein glänzender Erzähler, der nicht auf Effekte setzt, sondern auf so kunstvolle wie dezente Präzision.CHRISTOPH SCHRÖDER
STEWART O’NAN: Alle, alle lieben dich. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Thomas Gunkel. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009. 411 Seiten, 19,90 Euro.
Es sind nicht die spektakulär dunklen Seiten des American Way of Life, für die O’Nan sich interessiert, sondern die feinen Risse in der Normalität Getty Images
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Stewart O’Nan erzählt in seinem neuen Roman „Alle, alle lieben dich” vom Verschwinden eines Mädchens
Im Kreis der Familie Larsen gibt es ein eingespieltes Ritual: „Jedes Mal, wenn sie sich auf engem Raum drängten wie in der Küche, rief der Erste, dem es auffiel: ‚Die ganze Familie in einem Zimmer.‘” Eine kleine, etwas alberne Angewohnheit, die ab dem Juli 2005 aus dem Leben der Larsens getilgt ist, wie sich überhaupt dieses Leben schlagartig verändert – Kim, die achtzehnjährige Tochter, verschwindet an einem heißen Sommertag spurlos. Gerade war sie noch mit ihren Freundinnen am Fluss baden, hat sich in ihr Auto gesetzt, um zur Arbeit zu fahren, einer Aushilfstätigkeit an der Tankstelle. Dann verliert sich ihre Spur. Es sollte der beste Sommer ihres Lebens werden, „der Sommer, von dem sie seit der achten Klasse geträumt hatten.”
Bereits in seinem im Jahr 2005 erschienenen fabelhaften Roman „Abschied von Chautauqua” zieht sich das Motiv eines an einer Tankstelle verschwundenen Mädchens bedrohlich über die brüchige Idylle einer Sommerfrische. Nun hat O’Nan aus diesem Stoff einen ganzen Roman gewonnen, der, wie das Nachwort vermuten lässt, auf einer realen Begebenheit beruht. Das allerdings tut der literarischen Qualität von „Alle, alle lieben dich” keinen Abbruch – wie in seinem gesamten Werk zeigt O’Nan sich als ein genauer Beobachter des durchschnittlichen amerikanischen Kleinstadtlebens und der dahinter lauernden Abgründe.
Idiotische Disneytränen
Das ist O’Nans Terrain, auf dem er sich so perfekt auskennt wie sonst wohl kein anderer amerikanischer Gegenwartsautor. Kingsville, Ohio, so heißt die Kleinstadt, in der die Larsens leben und aus der sich Kim und ihre Freundinnen herausträumen. Eine insgesamt friedliche Gemeinde im Mittleren Westen, nicht weit von Cleveland entfernt. Fran, Kims Mutter, arbeitet im Krankenhaus; Ed, der Vater, bekommt als Immobilienmakler seit Jahren die Vorzeichen der großen Krise zu spüren; seit einiger Zeit müssen die anfallenden Rechnungen zum Teil von den Ersparnissen bezahlt werden. Kims fünfzehnjährige Schwester Lindsay schließlich, die heimliche Protagonistin des Romans, leidet unter der Schönheit und Beliebtheit ihrer Schwester, während sie selbst sich mit einer Brille und einer Zahnspange herumplagen muss. Eine ganz normale Familie.
Raffiniert arrangiert O’Nan seinen Roman um eine schmerzhafte Leerstelle und setzt in Mosaiktechnik nach und nach ein Bild zusammen, das sich nicht zu einem harmonischen Ganzen fügen kann und will. Minutiös werden gleich zu Beginn Kims letzte Stunden mit den Freunden, der Schwester und den Eltern beschrieben; was danach geschieht, bleibt lange im Dunkeln und ist auch nicht weiter wichtig – „Alle, alle lieben dich” ist kein Thriller, wie der Klappentext behauptet, sondern ein mitreißendes, manchmal anrührendes, aber niemals sentimentales Buch über das Weiterleben nach einer Katastrophe. Und eine Studie darüber, wie sowohl jeder Einzelne, aber auch eine ganze Stadt als soziale Gemeinschaft mit einem Ereignis wie diesem umgeht. Der familiären Panik und Hilflosigkeit steht die Nüchternheit und Routine entgegen, mit der die Polizei den Fall behandelt. Es ist ein unauflösbarer Widerspruch, den O’Nan aufeinanderprallen lässt: Die einzelnen Kapitelüberschriften tragen Namen wie „Beschreibung der vermissten Person” oder „Letzter bekannter Aufenthaltsort”. Hinter der Sachlichkeit tut sich Verzweiflung auf: Fran Larsen sucht Hilfe im Internet, durchforstet die zahlreichen Homepages mit ähnlich gelagerten Fällen, druckt Musterflugblätter aus. Währenddessen organisiert Ed Larsen Freiwilligentrupps, die in der Umgebung von Kingsville vergeblich nach Spuren von Kim suchen. So weit, so normal.
Doch es gibt einen Punkt, an dem die von Beginn an zweifelhaft erscheinende Familiensolidarität kippt; an dem die Risse im Lars’schen Mikrokosmos unübersehbar werden. Wie so oft sind es nicht die spektakulären, dunklen Seiten des American Way of Life, für die O’Nan sich interessiert. Er fängt vielmehr feine Stimmungslagen und -veränderungen auf. Die Suche nach Kim wird, angetrieben von Fran, zusehends zum Selbstzweck. Der blanke Aktionismus, der die dem Alkohol in großen Mengen zusprechende Mutter antreibt, kaschiert die Hoffnungslosigkeit. Die Tage gehen ins Land, von Kim fehlt weiterhin jede Spur; zunächst taucht noch nicht einmal ihr Auto auf. Eine aufwendig inszenierte Medien- und Betroffenheitsmaschinerie setzt sich in Gang; Buttons und Armbänder werden entworfen, mit deren Verkauf die Belohnung für Hinweise finanziert werden soll; im örtlichen Baseballstadion werden pompöse Gedenk- und Solidaritätsveranstaltungen für Kim abgehalten; das Lied „Somewhere over the Rainbow” wird zum Soundtrack der Kitschgala. Mittendrin sitzt die so kluge wie zurückhaltende Lindsay, bemüht sich, ihre „idiotischen Disneytränen” zurückzuhalten und denkt sich, wie bescheuert ihre große Schwester all das gefunden hätte.
Die Ordnung der Listen
Es ist eine subtile Doppelbödigkeit, die den Roman durchzieht: Die Polizei bittet die Eltern um eine Frontalaufnahme von Kim, auf der diese lächelt; kurze Zeit später liest Fran im Internet, „dass auf die Art der Gerichtsmediziner die Aufnahme eines Schädels über die ihres Gesichts legen und die Zähne direkt miteinander vergleichen konnte.” Und auch der Romantitel selbst spielt mit den Verklärungseffekten, die bereits kurz nach dem vermeintlichen Verbrechen einsetzen: Nicht nur dass Kim seit Jahren im Dauerstreit mit ihrer Mutter gelegen hat; noch dazu war sie wohl gemeinsam mit einem zwielichtigen Dealer (mit dem sie auch ihren Freund betrogen hat) in ein unsauberes Geschäft der größeren Art verwickelt. Die personale Erzählperspektive, die von Kapitel zu Kapitel wechselt, ist ein bewährtes Stilprinzip Stewart O’Nans. Auf diese Weise werden die Abgründe zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen Schein und Sein besonders augenfällig. So ist „Alle, alle lieben dich” auch das Porträt einer Ehe in Schieflage: Während Fran geradezu aufzublühen scheint und die sinnlose Suche nach einer spurlos Verschwundenen in endlose Listen und komplizierte Organisationsstrukturen verwandelt, ist Ed zusehends ausgelaugt und ausgebrannt. Zu Weihnachten besteht Fran noch darauf, auch für Kim ein Geschenk zu kaufen; die Gebühren für das College, auf das sie nie gegangen ist, werden weiterhin bezahlt.
Doch die Monate und die Jahre vergehen; die Benefizveranstaltungen werden schlechter besucht. Lindsay geht, wir schreiben mittlerweile 2008, auf ein College in Chicago, wo sie endlich nicht mehr nur die Schwester eines prominenten Opfers ist; Ed geht jeden Tag angeln und kapselt sich ab. „Es gab”, so heißt es gegen Ende, „immer noch Augenblicke, in denen alles, was mit seinem Leben nicht stimmte, gleichzeitig auf ihn einstürzte, unentrinnbar und fest miteinander verknüpft, und dann ballte er die Fäuste, um den Drang zu unterdrücken, den Menschen umzubringen, der ihnen Kim genommen hatte. Diese Augenblicke gingen vorbei, aber im Grunde seines Herzens befürchtete er, rachsüchtig und verbittert zu werden. Sonntags bat er um Vergebung. Den Rest der Woche fand er das Gefühl gerechtfertigt.”
Beiläufig kommt vieles daher. O’Nans Sprache ist ruhig, beherrscht, wenig aufregend, doch die Nähe zu seinen Figuren ist unerbittlich; dem fein justierten Blick entgeht kaum etwas – unterdrückte Wut und offene Trauer, Neid und Missgunst, Verlorenheit und Sehnsucht, Hoffnung und Ernüchterung. Der Umstand, dass das Zentrum des Romans eine Projektionsfläche all dessen ist, lässt die Verlaufslinien seiner Konflikte nur noch deutlicher zu Tage treten. In „Alle, alle lieben dich” erweist sich Stewart O’Nan einmal mehr als ein glänzender Erzähler, der nicht auf Effekte setzt, sondern auf so kunstvolle wie dezente Präzision.CHRISTOPH SCHRÖDER
STEWART O’NAN: Alle, alle lieben dich. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Thomas Gunkel. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009. 411 Seiten, 19,90 Euro.
Es sind nicht die spektakulär dunklen Seiten des American Way of Life, für die O’Nan sich interessiert, sondern die feinen Risse in der Normalität Getty Images
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.02.2009Und sie erwachten in einem Albtraum
Stewart O'Nan erzählt in seinem ergreifenden neuen Roman "Alle, alle lieben dich" von einem Weiterleben ohne Tochter, Schwester und Freundin.
Von Alexander Müller
Eigentlich wollte Kim Larsen nur weg aus Kingsville, Ohio. Sie freute sich darauf, nach diesem Sommer aufs College zu gehen, wo sie ein anderer, unabhängiger Menschen werden wollte, der nichts mehr mit der beklemmenden Kleinstadt des Mittleren Westens zu tun hat. Doch dann verschwindet die Achtzehnjährige spurlos, und ihr zunächst ungewisses Schicksal schreibt ihren Namen umso tiefer in die Heimat ein. Die erhoffte Veränderung einer Einzelnen, die nun fehlt, erzwingt die ungewollte Veränderung aller, die sie vermissen: ihrer Familie, ihrer Freunde, letztlich der ganzen Gemeinde, die sich an der Suche nach Kim in unterschiedlichster Form beteiligt.
Mehr als zehn Jahre habe ihn die Idee zu diesem Roman beschäftigt, sagte Stewart O'Nan vor wenigen Tagen bei der Vorstellung von "Alle, alle lieben dich" im Münchner Amerika-Haus. Anlässlich eines authentischen Falls, der sich im Bundesstaat Minnesota ereignet hatte, habe er darüber nachgedacht, was wirklich in Menschen vorgeht, die gemeinhin nur durch eine kurze Schreckensmeldung, durch einen verzweifelten Appell in den Medien unsere Aufmerksamkeit beanspruchen. Ihnen gelten die "Songs For The Missing", wie der Roman im amerikanischen Original heißt.
Was für den Leser wie ein spannungsgeladener Thriller beginnt, der jedes winzige Detail als Indiz präsentiert, mündet rasch in eine Analyse des scheinbar durchschnittlichen kleinstädtischen Lebens, in dem der 1961 in Pittsburgh geborene Autor mit der Präzision des ehemaligen Flugzeugingenieurs selbst nahezu unmerkliche emotionale Regungen kenntlich macht. Die schreckliche, auch von Slasher-Filmen oder spektakulären Kriminalfällen geprägte Frage, was Kim zugestoßen sein könnte, steht daher nur zu Beginn im Zentrum: Ist sie einfach abgehauen, hatte sie einen Unfall, wurde sie entführt, vergewaltigt, ermordet? Die einzelnen Familienmitglieder Kims, enttäuscht vom geringen Aktionsradius der Polizei, reagieren in ihrer jeweils eigenen Weise. Während sich ihre Mutter Fran an die Öffentlichkeit wendet - sie gibt Interviews, bittet das Lokalfernsehen um Hilfe, ruft zu Spenden auf und lässt Anstecker und T-Shirts der Anteilnahme gestalten -, versucht ihr Vater Ed, einem wohl nicht nur in den Vereinigten Staaten typischen Männlichkeitsideal zu entsprechen. Er will seine Tochter selbst finden, aus eigener Kraft, unterstützt von eilig zusammengetrommelten Suchtrupps aus Freiwilligen, die noch den letzten Rest Tageslicht ausnutzen, um etwa das unwegsame Gelände am Fluss zu durchkämmen, wo Kim sich gerne aufhielt. Ihre Schwester Lindsay wiederum, die später zur eigentlichen Hauptfigur des Romans werden wird, stand stets im Schatten der beliebten Kim. Sie wird von den verängstigten Eltern nicht mehr allein gelassen, was für diesen scheuen und klugen Teenager beinah unerträglich ist. Kims Schatten wird in der rückblickenden Idealisierung immer größer, und Lindsay zieht sich mehr und mehr in ihr eng bemessenes Privatleben zurück.
Jeden Abend vor ihrem Computer "machte sie sich unsichtbar", als könne sie dadurch ihrer verschollenen Schwester näher sein. Vor einer kläglich scheiternden Zeremonie für Kim während der Halbzeitpause eines Football-Matches an Thanksgiving sitzt sie mit gesenktem Kopf zwischen ihren Eltern, "als wäre sie ihre Gefangene"; sie kommt sich sogar benutzt vor, als bemitleidenswertes Element einer umfassenden Wohltätigkeitskampagne. Sie ist dann allerdings die Erste, die registriert, dass sie selbst durch die ihr peinlichen, jedoch aufsehenerregenden Benefizveranstaltungen ihrer Mutter mit anderen Augen gesehen wird. Plötzlich starren Mitschüler sie an wie eine Außerirdische, und sie gilt bald als Berühmtheit, der wildfremde Personen ihr Mitgefühl bekunden. Später, wenn Lindsay, der Heimat längst entflohen, auf ihrem MP3-Player die Musik von Cat Power und Holly Golightly hört, ahnen wir, dass ihr die Verwandlung gelingen wird, die Kim verwehrt blieb.
Doch nicht nur anhand von Lindsays Entwicklung zeigt O'Nan auf, wie es weitergehen kann nach einem sich immer deutlicher abzeichnenden Unglück. Kapitel für Kapitel wechselt er die Perspektive, fokussiert einmal Kims von Schuldgefühlen geplagte Freunde, die den Angehörigen und der Polizei wesentliche Informationen vorenthielten, ein andermal konzentriert er sich auf die stabile, indes fragiler werdende Ehe der Larsens. Dieser zwar altbekannte, aber doch effektive Kunstgriff erlaubt es ihm, selbst disparate Wahrnehmungsweisen aufeinanderprallen zu lassen und die sich stetig wandelnden Sorgen der Protagonisten ins Auge zu fassen: Wann gilt es, die Hoffnung auf Kims Rückkehr aufzugeben? Von welchem Zeitpunkt an darf man wieder normal sein, sich mit Freunden treffen, gar unbeschwert lachen? Kauft man für Kim vorsichtshalber Weihnachtsgeschenke - sie könnte ja plötzlich in der Tür stehen?
Hintergründig schleichen sich zudem die Probleme des Alltags wieder ein, wenn beispielsweise der Immobilienmakler Ed unter den ersten Auswirkungen einer Marktkrise zu leiden hat und sich daheim die unbezahlten Rechnungen stapeln. Stewart O'Nan beweist hier aufs Neue sein untrügliches Gespür für die so banalen wie ernsten Bürden von Smalltown America. Gleichmütig erzählt er von dieser Tragödie, lakonisch, penibel, frei von Kitsch und niemals kalt. Er hat seinen unprätentiösen Stil, den man unter anderem in "Letzte Nacht" (2007) studieren konnte, jenem prägnanten Roman über die letzte, winterliche Arbeitsschicht in einem Schnellrestaurant, weiter perfektioniert. Die ungeminderte Sympathie für seine vermeintlich einfachen Figuren verbindet ihn ebenso mit seinem großen Vorbild Richard Yates, an dessen Wiederentdeckung er wesentlichen Anteil hatte, wie seine Vorliebe für lapidare Dialoge. Nicht selten gelingen ihm dabei geradezu tragikomische Szenen, die inhaltlich bedrückender nicht sein könnten. So wird Fran auf ein Fernsehinterview vorbereitet, das schließlich von Rasenmäherlärm unterbrochen wird, indem eine Freundin sie darauf hinweist, dass sie vor laufenden Kameras nicht zusammenbrechen dürfe. Die Zuschauer vor den Fernsehschirmen sollen sie nicht für hysterisch halten. Sie wollen nicht beunruhigt werden, sondern hoffen, dass sie, wären sie selbst in Frans Situation, ebenfalls nicht zusammenbrechen würden. Fran soll "tapferer sein, als sie es sich selbst zutrauen" - also gefasster, als sie sich fühlt.
Unaufdringlich und vor allem unaufgeregt ergründet O'Nan, der für "Engel im Schnee" 1993 den William-Faulkner-Preis erhielt, die manchmal zwiespältigen Empfindungen und Reaktionen des Romanpersonals: versteckte und erzwungene Tränen, panischer Aktionismus, Erschöpfung und Hilflosigkeit, Trauer, Entrüstung und Frustration. Abermals - wie in "Das Glück der Anderen" (2001) oder "Halloween" (2004) - verarbeitet er einen albtraumhaften Stoff, der problemlos dem befreundeten Kollegen Stephen King als Ausgangspunkt eines Horrorszenarios hätte dienen können, zu einem fesselnden, anspruchsvollen Roman. Er habe mit "Alle, alle lieben dich" mehr schaffen wollen als einen "good read", mehr als eine anregende Lektüre, sagte O'Nan im Amerika-Haus. Denn Aufgabe des Schriftstellers sei es, so altmodisch es klingen mag, wie seinerzeit Faulkner an die "eternal verities", die ewigen Wahrheiten und Werte wie Liebe, Mitgefühl und Ehre zu erinnern. Das ist ihm mit diesem bewegenden Roman über das Abschiednehmen und Weiterleben, der trotz des hoffnungslosen Geschehens ein großes Maß an Zuversicht und Trost birgt, gelungen.
Stewart O'Nan: "Alle, alle lieben dich". Roman. Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009. 411 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Stewart O'Nan erzählt in seinem ergreifenden neuen Roman "Alle, alle lieben dich" von einem Weiterleben ohne Tochter, Schwester und Freundin.
Von Alexander Müller
Eigentlich wollte Kim Larsen nur weg aus Kingsville, Ohio. Sie freute sich darauf, nach diesem Sommer aufs College zu gehen, wo sie ein anderer, unabhängiger Menschen werden wollte, der nichts mehr mit der beklemmenden Kleinstadt des Mittleren Westens zu tun hat. Doch dann verschwindet die Achtzehnjährige spurlos, und ihr zunächst ungewisses Schicksal schreibt ihren Namen umso tiefer in die Heimat ein. Die erhoffte Veränderung einer Einzelnen, die nun fehlt, erzwingt die ungewollte Veränderung aller, die sie vermissen: ihrer Familie, ihrer Freunde, letztlich der ganzen Gemeinde, die sich an der Suche nach Kim in unterschiedlichster Form beteiligt.
Mehr als zehn Jahre habe ihn die Idee zu diesem Roman beschäftigt, sagte Stewart O'Nan vor wenigen Tagen bei der Vorstellung von "Alle, alle lieben dich" im Münchner Amerika-Haus. Anlässlich eines authentischen Falls, der sich im Bundesstaat Minnesota ereignet hatte, habe er darüber nachgedacht, was wirklich in Menschen vorgeht, die gemeinhin nur durch eine kurze Schreckensmeldung, durch einen verzweifelten Appell in den Medien unsere Aufmerksamkeit beanspruchen. Ihnen gelten die "Songs For The Missing", wie der Roman im amerikanischen Original heißt.
Was für den Leser wie ein spannungsgeladener Thriller beginnt, der jedes winzige Detail als Indiz präsentiert, mündet rasch in eine Analyse des scheinbar durchschnittlichen kleinstädtischen Lebens, in dem der 1961 in Pittsburgh geborene Autor mit der Präzision des ehemaligen Flugzeugingenieurs selbst nahezu unmerkliche emotionale Regungen kenntlich macht. Die schreckliche, auch von Slasher-Filmen oder spektakulären Kriminalfällen geprägte Frage, was Kim zugestoßen sein könnte, steht daher nur zu Beginn im Zentrum: Ist sie einfach abgehauen, hatte sie einen Unfall, wurde sie entführt, vergewaltigt, ermordet? Die einzelnen Familienmitglieder Kims, enttäuscht vom geringen Aktionsradius der Polizei, reagieren in ihrer jeweils eigenen Weise. Während sich ihre Mutter Fran an die Öffentlichkeit wendet - sie gibt Interviews, bittet das Lokalfernsehen um Hilfe, ruft zu Spenden auf und lässt Anstecker und T-Shirts der Anteilnahme gestalten -, versucht ihr Vater Ed, einem wohl nicht nur in den Vereinigten Staaten typischen Männlichkeitsideal zu entsprechen. Er will seine Tochter selbst finden, aus eigener Kraft, unterstützt von eilig zusammengetrommelten Suchtrupps aus Freiwilligen, die noch den letzten Rest Tageslicht ausnutzen, um etwa das unwegsame Gelände am Fluss zu durchkämmen, wo Kim sich gerne aufhielt. Ihre Schwester Lindsay wiederum, die später zur eigentlichen Hauptfigur des Romans werden wird, stand stets im Schatten der beliebten Kim. Sie wird von den verängstigten Eltern nicht mehr allein gelassen, was für diesen scheuen und klugen Teenager beinah unerträglich ist. Kims Schatten wird in der rückblickenden Idealisierung immer größer, und Lindsay zieht sich mehr und mehr in ihr eng bemessenes Privatleben zurück.
Jeden Abend vor ihrem Computer "machte sie sich unsichtbar", als könne sie dadurch ihrer verschollenen Schwester näher sein. Vor einer kläglich scheiternden Zeremonie für Kim während der Halbzeitpause eines Football-Matches an Thanksgiving sitzt sie mit gesenktem Kopf zwischen ihren Eltern, "als wäre sie ihre Gefangene"; sie kommt sich sogar benutzt vor, als bemitleidenswertes Element einer umfassenden Wohltätigkeitskampagne. Sie ist dann allerdings die Erste, die registriert, dass sie selbst durch die ihr peinlichen, jedoch aufsehenerregenden Benefizveranstaltungen ihrer Mutter mit anderen Augen gesehen wird. Plötzlich starren Mitschüler sie an wie eine Außerirdische, und sie gilt bald als Berühmtheit, der wildfremde Personen ihr Mitgefühl bekunden. Später, wenn Lindsay, der Heimat längst entflohen, auf ihrem MP3-Player die Musik von Cat Power und Holly Golightly hört, ahnen wir, dass ihr die Verwandlung gelingen wird, die Kim verwehrt blieb.
Doch nicht nur anhand von Lindsays Entwicklung zeigt O'Nan auf, wie es weitergehen kann nach einem sich immer deutlicher abzeichnenden Unglück. Kapitel für Kapitel wechselt er die Perspektive, fokussiert einmal Kims von Schuldgefühlen geplagte Freunde, die den Angehörigen und der Polizei wesentliche Informationen vorenthielten, ein andermal konzentriert er sich auf die stabile, indes fragiler werdende Ehe der Larsens. Dieser zwar altbekannte, aber doch effektive Kunstgriff erlaubt es ihm, selbst disparate Wahrnehmungsweisen aufeinanderprallen zu lassen und die sich stetig wandelnden Sorgen der Protagonisten ins Auge zu fassen: Wann gilt es, die Hoffnung auf Kims Rückkehr aufzugeben? Von welchem Zeitpunkt an darf man wieder normal sein, sich mit Freunden treffen, gar unbeschwert lachen? Kauft man für Kim vorsichtshalber Weihnachtsgeschenke - sie könnte ja plötzlich in der Tür stehen?
Hintergründig schleichen sich zudem die Probleme des Alltags wieder ein, wenn beispielsweise der Immobilienmakler Ed unter den ersten Auswirkungen einer Marktkrise zu leiden hat und sich daheim die unbezahlten Rechnungen stapeln. Stewart O'Nan beweist hier aufs Neue sein untrügliches Gespür für die so banalen wie ernsten Bürden von Smalltown America. Gleichmütig erzählt er von dieser Tragödie, lakonisch, penibel, frei von Kitsch und niemals kalt. Er hat seinen unprätentiösen Stil, den man unter anderem in "Letzte Nacht" (2007) studieren konnte, jenem prägnanten Roman über die letzte, winterliche Arbeitsschicht in einem Schnellrestaurant, weiter perfektioniert. Die ungeminderte Sympathie für seine vermeintlich einfachen Figuren verbindet ihn ebenso mit seinem großen Vorbild Richard Yates, an dessen Wiederentdeckung er wesentlichen Anteil hatte, wie seine Vorliebe für lapidare Dialoge. Nicht selten gelingen ihm dabei geradezu tragikomische Szenen, die inhaltlich bedrückender nicht sein könnten. So wird Fran auf ein Fernsehinterview vorbereitet, das schließlich von Rasenmäherlärm unterbrochen wird, indem eine Freundin sie darauf hinweist, dass sie vor laufenden Kameras nicht zusammenbrechen dürfe. Die Zuschauer vor den Fernsehschirmen sollen sie nicht für hysterisch halten. Sie wollen nicht beunruhigt werden, sondern hoffen, dass sie, wären sie selbst in Frans Situation, ebenfalls nicht zusammenbrechen würden. Fran soll "tapferer sein, als sie es sich selbst zutrauen" - also gefasster, als sie sich fühlt.
Unaufdringlich und vor allem unaufgeregt ergründet O'Nan, der für "Engel im Schnee" 1993 den William-Faulkner-Preis erhielt, die manchmal zwiespältigen Empfindungen und Reaktionen des Romanpersonals: versteckte und erzwungene Tränen, panischer Aktionismus, Erschöpfung und Hilflosigkeit, Trauer, Entrüstung und Frustration. Abermals - wie in "Das Glück der Anderen" (2001) oder "Halloween" (2004) - verarbeitet er einen albtraumhaften Stoff, der problemlos dem befreundeten Kollegen Stephen King als Ausgangspunkt eines Horrorszenarios hätte dienen können, zu einem fesselnden, anspruchsvollen Roman. Er habe mit "Alle, alle lieben dich" mehr schaffen wollen als einen "good read", mehr als eine anregende Lektüre, sagte O'Nan im Amerika-Haus. Denn Aufgabe des Schriftstellers sei es, so altmodisch es klingen mag, wie seinerzeit Faulkner an die "eternal verities", die ewigen Wahrheiten und Werte wie Liebe, Mitgefühl und Ehre zu erinnern. Das ist ihm mit diesem bewegenden Roman über das Abschiednehmen und Weiterleben, der trotz des hoffnungslosen Geschehens ein großes Maß an Zuversicht und Trost birgt, gelungen.
Stewart O'Nan: "Alle, alle lieben dich". Roman. Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009. 411 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Christoph Schröder ist beeindruckt von diesem ungeheuer präzise erzählten Roman, mit dem sich Stewart O?Nan seiner Meinung nach einmal mehr als "genauer Beobachter" der hinter den Kleinstadtfassaden "lauernden Abgründe" erweist. Dabei setze O'Nan nicht auf "spektakuläre, dunkle" Geschehnisse, sondern auf die "feinen Stimmungslagen", wie sich der Rezensent freut. Völlig verkehrt findet Schröder dabei den Klappentext, der einen Thriller verspreche. Seiner Meinung nach ist die Geschichte vor allem ein "mitreißendes, manchmal anrührendes, aber niemals sentimentales Buch" über Trauer und Missgunst, Verlorenheit und Sehnsucht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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