Carlos Fuentes furioser, vielstimmiger Roman über die konfliktreiche Gegenwart Mexikos.
Groß ist das Unglück im kleinen. Sechzehn familiäre Tragödien, die von verletzten Gefühlen und gekränkter Liebe erzählen, von Neid und Hass. Eine Frau wird von ihrem Mann gequält, zu Hause gefangen gehaltenund kann sich nicht befreien, weil sie Obsession mit Liebe verwechselt. Ein Sohn rebelliert gegen seinen übermächtigen Vater und kann doch ohne seine Protektion nicht leben. Eine Mutter schreibt dem Mörder ihrer Tochter ins Gefängnis. Sie will ihm sagen, wie der Mensch war, den er umgebracht hat. Ein sprachmächtiges Fresko, das den Stimmlosen eine Stimme gibt.
Groß ist das Unglück im kleinen. Sechzehn familiäre Tragödien, die von verletzten Gefühlen und gekränkter Liebe erzählen, von Neid und Hass. Eine Frau wird von ihrem Mann gequält, zu Hause gefangen gehaltenund kann sich nicht befreien, weil sie Obsession mit Liebe verwechselt. Ein Sohn rebelliert gegen seinen übermächtigen Vater und kann doch ohne seine Protektion nicht leben. Eine Mutter schreibt dem Mörder ihrer Tochter ins Gefängnis. Sie will ihm sagen, wie der Mensch war, den er umgebracht hat. Ein sprachmächtiges Fresko, das den Stimmlosen eine Stimme gibt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.11.2008Im Chor der Ehefrau
Der große mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes hat seiner Heimat in seinem neuesten Buch ein weiteres Denkmal gesetzt. Aber in erster Linie geht es in "Alle glücklichen Familien" um familiäre Tragödien.
Der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes, der am heutigen Dienstag seinen achtzigsten Geburtstag feiert, gehört wahrlich zu den Großen der lateinamerikanischen Literatur. Der sehr kultivierte, gewiss auch von Anfang an hochprivilegierte Mann blickt auf ein reiches Leben zurück - ein Leben auch von erstaunlicher Schaffenskraft: Romane, Erzählungen, Essays, Theaterstücke, Filmbücher.
Schon sein Vater war, was er selbst mit Selbstverständlichkeit ebenfalls wurde: Diplomat. Bereits als Kind und Heranwachsender ist Carlos Fuentes viel herumgekommen: Panama (dort wurde er geboren), Quito, Montevideo, Washington. In Genf studierte er Jura. Er war Botschafter seines Landes in Paris. Danach lebte und lehrte er in den Vereinigten Staaten - in Harvard, versteht sich -, dann abwechselnd in Mexiko-Stadt und London. Der Nobelpreis fehlt ihm, falls er ihm fehlt, aber er erhielt, schon vor zwanzig Jahren, den größten Literaturpreis der riesigen spanischsprachigen Welt, den "Premio Cervantes". Politisch versteht er sich noch immer als Linker. Eine Aufsatzsammlung von 2004 heißt so deutlich wie knapp "Contra Bush".
Der Roman "Alle glücklichen Familien" erschien im Original 2006. Lisa Grüneisen hat ihn gut übersetzt; nur gelegentlich gerät man ins Stocken. Eine Übersetzung aber, an der man nicht herummäkeln könnte, gibt es nicht. Zudem diese alles andere als leicht war: Es handelt sich um eine Folge von sechzehn Erzählungen. Jeder Erzählung folgt ein mit ihr kaum zusammenhängendes Gedicht. Diese Gedichte, die aber für den Zusammenhang insgesamt wichtig sind, gehen meist über mehrere Seiten. Sie sind ebenfalls erzählend, doch tun sie dies hastig, atemlos, vielfach auf Aufreihung einzelner Wörter reduziert. Sie sind auch anklagend, werden beherrscht von einem Unterton: "Seht, macht euch nichts vor, so geht's zu in der Welt!" Die Gedichte treten dem Leser jeweils als "Chor" entgegen: als "Chor der jungen Straßenmütter", "Chor der rivalisierenden Freunde", "Chor der unglücklichen Kinder" und so weiter. Es gibt sogar, im eigentlich unmöglichen Singular, einen "Chor der perfekten Ehefrau". Einzig das letzte Gedicht ist nicht mehr "Chor" überschrieben und sehr kurz: "die gewalt, die gewalt". Die lauert hier in der Tat, brutal oder subtil, vielförmig überall. Dabei sind die Gedichte nicht weniger packend als die Erzählungen.
Der Titel der Sammlung, die als solche ziemlich einheitlich, also beileibe kein Sammelsurium ist, nimmt den berühmten Anfang von Tolstois "Anna Karenina" auf: "Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich. Jede unglückliche Familie aber ist unglücklich auf ihre Weise." Ist dieser Gedanke nicht richtig, so ist er doch suggestiv. "Die glücklichen Völker", sagen die Franzosen, "haben keine Geschichte." Unter den Familien von Carlos Fuentes dominieren ganz klar die unglücklichen. Schuld sind beispielsweise "Eheliche Bande" (da gibt es sogar zwei auseinandergerückte und sich überraschend ergänzende Erzählungen), dann natürlich Mütter, Töchter, Väter ("Der unsterbliche Vater" heißt die letzte, besonders beunruhigende, ins Irreale gehende Geschichte). Es geht um Söhne, Brüder und Schwestern, "Die Dienstmagd des Vaters" fehlt ebenso wenig wie ein homoerotisches Männerpaar, das sich schließlich doch subtil auseinanderlebt. Es finden sich "feine" Leute, aber die "unfeinen" bleiben in der Mehrzahl.
Wie die Gedichte wild sind, sind es, auf eine andere, behutsamere Weise, auch die Geschichten. Zum Teil sind sie auf herrische Art ironisch grimmig. Eigentlichen Humor, gar Lustigkeit findet sich kaum. Sind die Erzählungen denn realistisch? Nicht in jeder Hinsicht. Der Lieblingsautor von Carlos Fuentes ist, wie man liest, Balzac, der ja ebenfalls als realistischer Autor unzureichend gekennzeichnet wäre. Außerdem habe ihn, heißt es, der Chilene Pablo Neruda stark beeinflusst. In ihren Themen ebenso wie in ihrer Sprache sind diese Gedichte und diese Erzählungen zum Teil sehr drastisch. Bewundernswert ist bei alledem, wie es dem kultivierten Autor Carlos Fuentes gelingt, seine Bildung so sparsam einzusetzen; auch, wie er an seiner eigentlich traditionellen Schreibweise festhält und diese dabei wieder modern macht.
Fast alle Geschichten und Gedichte des Bandes "spielen" in Mexiko. Dennoch sollte man "Alle glücklichen Familien" auf keinen Fall primär "exotisch" lesen. Das Buch will keine literarisches Porträt Mexikos sein. Die Erzählungen und Gedichte sind weniger spezifisch mexikanisch denn - wie alle große Literatur - universell. Das bunte Bild Mexikos ist das des Menschenlebens überhaupt, wenngleich es hier natürlich in mexikanischem Gewand daherkommt - "makesicko seedy". So heißt es in einem Gedicht, ins amerikanische Englisch gebracht für "Mexiko City": macht krank und ist "seedy", mies. Aber um die Gefahren, das Krankmachende dieser Stadt (Carlos Fuentes hat über Mexiko-City 1958, vor fünfzig Jahren, den ersten Großstadtroman, "Die durchsichtigste Gegend", geschrieben) geht es hier nur am Rand.
HANS-MARTIN GAUGER
Carlos Fuentes: "Alle glücklichen Familien". Aus dem Spanischen übersetzt von Lisa Grüneisen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 411 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der große mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes hat seiner Heimat in seinem neuesten Buch ein weiteres Denkmal gesetzt. Aber in erster Linie geht es in "Alle glücklichen Familien" um familiäre Tragödien.
Der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes, der am heutigen Dienstag seinen achtzigsten Geburtstag feiert, gehört wahrlich zu den Großen der lateinamerikanischen Literatur. Der sehr kultivierte, gewiss auch von Anfang an hochprivilegierte Mann blickt auf ein reiches Leben zurück - ein Leben auch von erstaunlicher Schaffenskraft: Romane, Erzählungen, Essays, Theaterstücke, Filmbücher.
Schon sein Vater war, was er selbst mit Selbstverständlichkeit ebenfalls wurde: Diplomat. Bereits als Kind und Heranwachsender ist Carlos Fuentes viel herumgekommen: Panama (dort wurde er geboren), Quito, Montevideo, Washington. In Genf studierte er Jura. Er war Botschafter seines Landes in Paris. Danach lebte und lehrte er in den Vereinigten Staaten - in Harvard, versteht sich -, dann abwechselnd in Mexiko-Stadt und London. Der Nobelpreis fehlt ihm, falls er ihm fehlt, aber er erhielt, schon vor zwanzig Jahren, den größten Literaturpreis der riesigen spanischsprachigen Welt, den "Premio Cervantes". Politisch versteht er sich noch immer als Linker. Eine Aufsatzsammlung von 2004 heißt so deutlich wie knapp "Contra Bush".
Der Roman "Alle glücklichen Familien" erschien im Original 2006. Lisa Grüneisen hat ihn gut übersetzt; nur gelegentlich gerät man ins Stocken. Eine Übersetzung aber, an der man nicht herummäkeln könnte, gibt es nicht. Zudem diese alles andere als leicht war: Es handelt sich um eine Folge von sechzehn Erzählungen. Jeder Erzählung folgt ein mit ihr kaum zusammenhängendes Gedicht. Diese Gedichte, die aber für den Zusammenhang insgesamt wichtig sind, gehen meist über mehrere Seiten. Sie sind ebenfalls erzählend, doch tun sie dies hastig, atemlos, vielfach auf Aufreihung einzelner Wörter reduziert. Sie sind auch anklagend, werden beherrscht von einem Unterton: "Seht, macht euch nichts vor, so geht's zu in der Welt!" Die Gedichte treten dem Leser jeweils als "Chor" entgegen: als "Chor der jungen Straßenmütter", "Chor der rivalisierenden Freunde", "Chor der unglücklichen Kinder" und so weiter. Es gibt sogar, im eigentlich unmöglichen Singular, einen "Chor der perfekten Ehefrau". Einzig das letzte Gedicht ist nicht mehr "Chor" überschrieben und sehr kurz: "die gewalt, die gewalt". Die lauert hier in der Tat, brutal oder subtil, vielförmig überall. Dabei sind die Gedichte nicht weniger packend als die Erzählungen.
Der Titel der Sammlung, die als solche ziemlich einheitlich, also beileibe kein Sammelsurium ist, nimmt den berühmten Anfang von Tolstois "Anna Karenina" auf: "Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich. Jede unglückliche Familie aber ist unglücklich auf ihre Weise." Ist dieser Gedanke nicht richtig, so ist er doch suggestiv. "Die glücklichen Völker", sagen die Franzosen, "haben keine Geschichte." Unter den Familien von Carlos Fuentes dominieren ganz klar die unglücklichen. Schuld sind beispielsweise "Eheliche Bande" (da gibt es sogar zwei auseinandergerückte und sich überraschend ergänzende Erzählungen), dann natürlich Mütter, Töchter, Väter ("Der unsterbliche Vater" heißt die letzte, besonders beunruhigende, ins Irreale gehende Geschichte). Es geht um Söhne, Brüder und Schwestern, "Die Dienstmagd des Vaters" fehlt ebenso wenig wie ein homoerotisches Männerpaar, das sich schließlich doch subtil auseinanderlebt. Es finden sich "feine" Leute, aber die "unfeinen" bleiben in der Mehrzahl.
Wie die Gedichte wild sind, sind es, auf eine andere, behutsamere Weise, auch die Geschichten. Zum Teil sind sie auf herrische Art ironisch grimmig. Eigentlichen Humor, gar Lustigkeit findet sich kaum. Sind die Erzählungen denn realistisch? Nicht in jeder Hinsicht. Der Lieblingsautor von Carlos Fuentes ist, wie man liest, Balzac, der ja ebenfalls als realistischer Autor unzureichend gekennzeichnet wäre. Außerdem habe ihn, heißt es, der Chilene Pablo Neruda stark beeinflusst. In ihren Themen ebenso wie in ihrer Sprache sind diese Gedichte und diese Erzählungen zum Teil sehr drastisch. Bewundernswert ist bei alledem, wie es dem kultivierten Autor Carlos Fuentes gelingt, seine Bildung so sparsam einzusetzen; auch, wie er an seiner eigentlich traditionellen Schreibweise festhält und diese dabei wieder modern macht.
Fast alle Geschichten und Gedichte des Bandes "spielen" in Mexiko. Dennoch sollte man "Alle glücklichen Familien" auf keinen Fall primär "exotisch" lesen. Das Buch will keine literarisches Porträt Mexikos sein. Die Erzählungen und Gedichte sind weniger spezifisch mexikanisch denn - wie alle große Literatur - universell. Das bunte Bild Mexikos ist das des Menschenlebens überhaupt, wenngleich es hier natürlich in mexikanischem Gewand daherkommt - "makesicko seedy". So heißt es in einem Gedicht, ins amerikanische Englisch gebracht für "Mexiko City": macht krank und ist "seedy", mies. Aber um die Gefahren, das Krankmachende dieser Stadt (Carlos Fuentes hat über Mexiko-City 1958, vor fünfzig Jahren, den ersten Großstadtroman, "Die durchsichtigste Gegend", geschrieben) geht es hier nur am Rand.
HANS-MARTIN GAUGER
Carlos Fuentes: "Alle glücklichen Familien". Aus dem Spanischen übersetzt von Lisa Grüneisen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 411 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als einen der ganz Großen der lateinamerikanischen Literatur würdigt Hans-Martin Gauger den mexikanischen Schriftsteller Carlos Fuentes, der heute achtzig wird. Er wirft einen Blick auf das Leben des Autors und vor allem auf seine verblüffende Schaffenskraft, bevor er auf Fuentes neues Buch "Alle glücklichen Familien" zu sprechen kommt, das er als ein "weiteres Denkmal" auf die Heimat des Schriftstellers bezeichnet. Allerdings hebt er zugleich hervor, dass das Buch kein "literarisches Porträt" Mexikos sein will. Die sechzehn Erzählungen, die von Gedichten kommentiert werden, beanspruchen seines Erachtens universelle Geltung. Im Mittelpunkt der Geschichten sieht Gauger unglückliche Familien und familiäre Tragödien. Die Gewalt lauere hier überall, mal subtil, mal brutal. Beeindruckt hat ihn, wie es Fuentes gelingt, seine im Grunde eher traditionelle Schreibweise "modern" zu machen. Mit Lob bedenkt er auch die Übersetzung von Lisa Grüneisen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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