Neun Menschen, deren Leben von Folter, Gewalt und Verschleppung durch die Soldaten des türkischen Militärs bestimmt werden. Darunter: Eine Mutter, die ihren toten Sohn auf einen Pick-up lädt. Ein Mann, der seine schlafende Tochter draußen ins Gebüsch legt, bevor er sein Haus anzündet. Eine Frau, die in einer Hundehütte gehalten wird. Neun Menschen, die ihr Exil in einem Hochhaus im Westen der Türkei finden. Während sie von ihrer Flucht berichten, holt sie der systematische Terror des türkischen Militärs wieder ein. »Alle Hunde sterben« ist eine Chronik über Menschen im Angesicht von Gewalt und Auslöschung - entschieden, klar, furios erzählt.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensentin Juliane Liebert fühlt sich beim Lesen von Cemile Sahins Roman über Gewalterfahrungen in der Türkei wie verwickelt in einen Unfall. Hart gehen sie die Folterszenen, Momente staatlicher Schikane und tausend Tode an, die die Autorin ganz bewusst kontextfrei und so direkt wie möglich erzählt, wie Liebert beschreibt. Weder die Umstände noch das Warum der Gewalt interessiert die Autorin, schreibt Liebert, nur der Effekt, den die Schilderungen auf die Leserin haben. So fühlt sich Liebert wie gefangen in einem Albtraum. Gewaltpornografisch" ist das für die Kritikerin dennoch nicht, denn mit Lustgewinn hat dieser Text nichts zu tun, meint sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2020Glauben wir das?
In "Alle Hunde sterben" erzählt Cemile Sahin von universeller Gewalt
Das Prinzip ihres - ohne Gattungsbezeichnung auskommenden - Buches "Alle Hunde sterben" setzt die Schriftstellerin, bildende Künstlerin und bis zum Sommer Autorin der "taz"-Kolumne "Orient Express" Cemile Sahin gleich zu Beginn: "Wir sehen", heißt es im Stile einer Szenenanweisung, "ein Hochhaus im Westen der Türkei. Das Hochhaus hat 17 Stockwerke. Auf jeder Etage sind sechs Wohnungen." Die siebenzeilige Anweisung endet mit dem Hinweis auf Uniformierte, die vom linken Bildrand aus das Hochhaus betreten und die Treppe hinaufstürmen. Was man allerdings auf der Fotografie auf der vorausgehenden Seite sieht, ist kein Hochhaus in der Türkei, vielmehr zeigt das Bild in Draufsicht ein menschenleeres winterliches Parkdeck, die weißen "One Way"-Markierungen auf dem Boden lassen auf einen Ort in den Vereinigten Staaten schließen.
Man kann in dieser Text-Bild-Schere eine Art V-Effekt erkennen, den Hinweis, dem zu misstrauen, was behauptet wird und dem ersten Anschein nach schlüssig scheint. Dem, was ins Bild passt.
Wenn Cemile Sahin nun in neun Episoden verschiedene Menschen, die in dem Hochhaus im Westen der Türkei zu leben gezwungen sind, von der brutalen Gewalt berichten lässt, die ihnen das von Spitzeln und Soldaten bestimmte Regime angetan hat und antut, dann offenbart sich in dem erzählerischen Prinzip immer wieder ein kaum erträglicher Zynismus. Nicht einer der Autorin, sondern der verbreitete Zynismus einer unbeteiligten Weltbetrachtung, die auch angesichts von Bildern oder Schilderungen schlimmster Greuel sich immer noch auf eine Position des Zweifelns zurückziehen kann.
In diesem Sinne kann man die neun Episoden, die jeweils eingeleitet werden von einer roten Seite samt der im Englischsprachigen üblichen Uhrzeitangabe, dem immergleichen Bild des Parkdecks und einer knappen Skizze der Person, die in der folgenden Episode von dem berichten wird, was ihr widerfahren ist, als Prüfungen für die Lesenden verstehen: Sie können sich nicht erschüttert den detaillierten Erzählungen von Folter aussetzen, sondern unterliegen stets dem Reflex des In-Frage-Stellens des Gelesenen.
Glauben wir also Necla, die erzählt, wie sie aus Angst vor der Unerbittlichkeit des Systems, das nach ihrem Mann suchte, ihre beiden Kinder wegschickte, in der Hoffnung, sie würden in der Obhut des Onkels überleben? Glauben wir, wie schließlich Necla selbst von einem Wachmann in der Hütte ihres Hundes angekettet wird, wie sie - die wohl drastischste Szene des Buches - gezwungen wird, von einer toten Ratte abzubeißen? Trauen wir Murat, der preisgibt, in einer Plastiktüte die Knochen seiner Mutter zu verwahren, die er ausgegraben habe, weil Panzer selbst vor der Totenruhe keinen Halt machten? Und wie steht es um die Geschichte von Haydar, dessen Sohn von acht Kugeln erschossen worden ist - die neunte Kugel ging daneben? Stimmt es, dass die Beerdigung des Jungen als Hochzeit getarnt werden musste, damit sie nicht verboten wurde?
Darin, dass Sahin durch ihre anfängliche Setzung ein Zweifeln, eine Ausflucht selbst und ausdrücklich nahelegt, liegt die Raffinesse dieses Buches. Es führt uns in Versuchung und wirft uns auf uns selbst zurück. Auseinanderzuhalten sind die verschiedenen Stimmen, die in den neun Episoden zu Wort kommen, kaum. Diesen Gleichklang kann man als literarische Schwäche verbuchen, eher noch mag es aber Teil des Konzepts sein: Zu viel Individualität würde Einfühlung befördern. Aber die Lesenden sollen sich der Ungeheuerlichkeit ihres Zweifelns nicht entziehen dürfen.
Sahin ist 1990 in Wiesbaden geboren, hat mit ihren kurdischen Eltern aber bis zu ihrem vierten Lebensjahr in Dêrsim gelebt, wo der türkische Nationalismus besonders grausam gewütet hat. Auch wenn in "Alle Hunde sterben", nach "Taxi" dem zweiten Buch der Autorin, nicht explizit davon gesprochen wird, liegt nahe, dass es sich bei jenen als Terroristen gebrandmarkten Menschen um Kurden handelt. Durch das Systematische der Gewalt aber und durch das Schematische der Täter- und Opfertypen, wie Sahin sie erzählt, wird "Alle Hunde sterben" zugleich zu einem universellen Buch über die Unmenschlichkeit von Regimen und über jene des Wegschauens.
WIEBKE POROMBKA
Cemile Sahin: "Alle Hunde sterben".
Aufbau Verlag, Berlin 2020. 239 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In "Alle Hunde sterben" erzählt Cemile Sahin von universeller Gewalt
Das Prinzip ihres - ohne Gattungsbezeichnung auskommenden - Buches "Alle Hunde sterben" setzt die Schriftstellerin, bildende Künstlerin und bis zum Sommer Autorin der "taz"-Kolumne "Orient Express" Cemile Sahin gleich zu Beginn: "Wir sehen", heißt es im Stile einer Szenenanweisung, "ein Hochhaus im Westen der Türkei. Das Hochhaus hat 17 Stockwerke. Auf jeder Etage sind sechs Wohnungen." Die siebenzeilige Anweisung endet mit dem Hinweis auf Uniformierte, die vom linken Bildrand aus das Hochhaus betreten und die Treppe hinaufstürmen. Was man allerdings auf der Fotografie auf der vorausgehenden Seite sieht, ist kein Hochhaus in der Türkei, vielmehr zeigt das Bild in Draufsicht ein menschenleeres winterliches Parkdeck, die weißen "One Way"-Markierungen auf dem Boden lassen auf einen Ort in den Vereinigten Staaten schließen.
Man kann in dieser Text-Bild-Schere eine Art V-Effekt erkennen, den Hinweis, dem zu misstrauen, was behauptet wird und dem ersten Anschein nach schlüssig scheint. Dem, was ins Bild passt.
Wenn Cemile Sahin nun in neun Episoden verschiedene Menschen, die in dem Hochhaus im Westen der Türkei zu leben gezwungen sind, von der brutalen Gewalt berichten lässt, die ihnen das von Spitzeln und Soldaten bestimmte Regime angetan hat und antut, dann offenbart sich in dem erzählerischen Prinzip immer wieder ein kaum erträglicher Zynismus. Nicht einer der Autorin, sondern der verbreitete Zynismus einer unbeteiligten Weltbetrachtung, die auch angesichts von Bildern oder Schilderungen schlimmster Greuel sich immer noch auf eine Position des Zweifelns zurückziehen kann.
In diesem Sinne kann man die neun Episoden, die jeweils eingeleitet werden von einer roten Seite samt der im Englischsprachigen üblichen Uhrzeitangabe, dem immergleichen Bild des Parkdecks und einer knappen Skizze der Person, die in der folgenden Episode von dem berichten wird, was ihr widerfahren ist, als Prüfungen für die Lesenden verstehen: Sie können sich nicht erschüttert den detaillierten Erzählungen von Folter aussetzen, sondern unterliegen stets dem Reflex des In-Frage-Stellens des Gelesenen.
Glauben wir also Necla, die erzählt, wie sie aus Angst vor der Unerbittlichkeit des Systems, das nach ihrem Mann suchte, ihre beiden Kinder wegschickte, in der Hoffnung, sie würden in der Obhut des Onkels überleben? Glauben wir, wie schließlich Necla selbst von einem Wachmann in der Hütte ihres Hundes angekettet wird, wie sie - die wohl drastischste Szene des Buches - gezwungen wird, von einer toten Ratte abzubeißen? Trauen wir Murat, der preisgibt, in einer Plastiktüte die Knochen seiner Mutter zu verwahren, die er ausgegraben habe, weil Panzer selbst vor der Totenruhe keinen Halt machten? Und wie steht es um die Geschichte von Haydar, dessen Sohn von acht Kugeln erschossen worden ist - die neunte Kugel ging daneben? Stimmt es, dass die Beerdigung des Jungen als Hochzeit getarnt werden musste, damit sie nicht verboten wurde?
Darin, dass Sahin durch ihre anfängliche Setzung ein Zweifeln, eine Ausflucht selbst und ausdrücklich nahelegt, liegt die Raffinesse dieses Buches. Es führt uns in Versuchung und wirft uns auf uns selbst zurück. Auseinanderzuhalten sind die verschiedenen Stimmen, die in den neun Episoden zu Wort kommen, kaum. Diesen Gleichklang kann man als literarische Schwäche verbuchen, eher noch mag es aber Teil des Konzepts sein: Zu viel Individualität würde Einfühlung befördern. Aber die Lesenden sollen sich der Ungeheuerlichkeit ihres Zweifelns nicht entziehen dürfen.
Sahin ist 1990 in Wiesbaden geboren, hat mit ihren kurdischen Eltern aber bis zu ihrem vierten Lebensjahr in Dêrsim gelebt, wo der türkische Nationalismus besonders grausam gewütet hat. Auch wenn in "Alle Hunde sterben", nach "Taxi" dem zweiten Buch der Autorin, nicht explizit davon gesprochen wird, liegt nahe, dass es sich bei jenen als Terroristen gebrandmarkten Menschen um Kurden handelt. Durch das Systematische der Gewalt aber und durch das Schematische der Täter- und Opfertypen, wie Sahin sie erzählt, wird "Alle Hunde sterben" zugleich zu einem universellen Buch über die Unmenschlichkeit von Regimen und über jene des Wegschauens.
WIEBKE POROMBKA
Cemile Sahin: "Alle Hunde sterben".
Aufbau Verlag, Berlin 2020. 239 S., geb., 20,- [Euro].
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»Wenn man Literatur mit den Mitteln der Architektur beschriebe, dann wäre diese Erzählung reiner Brutalismus - gebaut aus einer klaren, simplen Sprache, lakonischen Sätzen.« Tagesspiegel 20210117