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Produktdetails
  • Goldmann Taschenbücher
  • Verlag: Goldmann
  • Seitenzahl: 315
  • Gewicht: 281g
  • ISBN-13: 9783442447015
  • ISBN-10: 3442447011
  • Artikelnr.: 23927007
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.01.1998

Arbeit für die Axt im Haus
Zu gut geplant: Tim Parks' Wahnsinnsroman "Alle lieben Raymond"

"Planen ist zwecklos", sagt Tim Parks, "man vergißt immer etwas." Was für den realen Sozialismus galt, trifft auch für das organische Chaos der bürgerlichen Familie zu: Organisation ist Irrsinn oder Tod, während das Leben "Ergebnis einer Kombination aus spontanen Entscheidungen und Zufällen" ist. Ja, mach nur einen Plan - er wird an einem unerwünschten Kind, einer quengelnden Schwiegermutter oder einem hartnäckigen Prostataleiden zerschellen. In Parks' Roman "Gute Menschen" wurden die Karriere- und Familienpläne eines ehrgeizigen Yuppies der Thatcher-Ära von der Geburt eines behinderten Kindes durchkreuzt: genug Fallhöhe für eine böse Tragikomödie. In "Alle lieben Raymond" - das 1989 erschienene Original heißt treffender "Family Planning" - kommt das Unheil in Gestalt eines schizophrenen Riesenbabys. Raymond ist als "Planungsfaktor" ein Totalausfall. Mit strategischer Intelligenz und paranoider Hellsicht wirft der monströse Sohn alle Pläne für das "gemütliche Heim" über den Haufen, die sich die Baldwins in ihrem jahrelangen Exil für ihren Lebensabend in England erträumten. Mal schreibt er im Namen islamischer Terroristen obszöne Briefe an den amerikanischen Schwager Fred, mal bricht er Mrs. Baldwin, der fürsorglichen Mutterglucke, den Arm oder zerstückelt ihre Katze mit der Axt. Für den liebenswürdigen Spinner, wie ihn der neuere Film liebt, ist Raymond zu brutal, für die Einweisung in die Psychiatrie zu schlau: Er kennt seine Menschen- und Bürgerrechte und die Schliche der Psycho- und Familientherapeuten sowieso. Er simuliert und macht blutig Ernst, lügt und spricht doch nur aus, was alle denken, aber niemand zu sagen wagt. So spielt Raymond, unberechenbar und mit tückischem Kalkül, den Agent provocateur, der das Baldwinsche Seid-nett-zueinander als Lebenslüge aufdeckt und absichtsvoll jede Planungshoheit zerstört. Vor allem aber überführt er die Hoffnung, daß verwandtschaftliche Nähe gemeinschaftliche Verantwortung oder auch nur Sicherheit verbürge, als leeren Wahn.

Kein Wunder, daß seine Geschwister den Schoß der Familie meiden. Schwester Lorna, von ihrem hypochondrischen Gatten frustriert, schützt alten Hader mit dem Vater und lästige Arbeiten vor; dabei ist sie nur selbstgerecht, sentimental und chronisch antriebsschwach. Auch die Zwillingsbrüder haben andere Pläne: Garry, der zynische Bruder Leichtfuß und aalglatte Snob, bereitet sich mit Schnorren und narzißtischen Liebesabenteuern auf eine Politikerkarriere vor; der pedantische Geizkragen Graham bastelt an seinem spießigen Familienidyll. So sind die Eltern alleingelassen und überfordert mit der 35jährigen Mißgeburt. Die zu Hysterie und Geschwätzigkeit neigende Mutter reibt sich in ihrer Affenliebe auf, bis es ihr buchstäblich die Sprache verschlägt; der notorisch abwesende Vater nimmt wie gewöhnlich Reißaus. Die verbliebenen Baldwins halten vorzugsweise mit Telegrammen, Briefen und Zetteln Kontakt, in denen es in aller Regel um Geld und gegenseitige Schuldzuweisungen geht. Schon die telefonische Kommunikation will nicht recht gelingen. "Reden erleichtert" zwar; aber nur im Briefroman kann jeder monologisieren und larmoyant schwadronieren, ohne daß er unterbrochen oder der Autor zu eingehenderen Seelenschilderungen genötigt werden könnte. Als es endlich zum großen Familienratschlag kommt, ist es fast schon zu spät: Die Axt im Hause ersetzt nicht die Psychiatrie, und die Blutsbande erweisen sich noch im märchenhaften Happy Ending als Zwangsjacke.

Tim Parks, Preisträger des "Somerset Maugham Award", erzählt seine Familiensaga mit Sarkasmus, mit humaner Einfühlung, sanfter politischer Inkorrektheit und schwarzem britischem Humor. Kein Baldwin ist frei von Egoismus und Heuchelei, keiner vermag unsere Sympathie oder auch nur gesteigertes Interesse zu wecken. Der Erzähler freilich - es ist der zu Raymonds Pfleger bekehrte Tunichtgut Garry - plaudert gelegentlich so bieder und am Ende so versöhnlich, als zählte ein Familienvater im Lehnstuhl mit milder Ironie die Häupter seiner Lieben und die Neurosen des britischen Mittelstandes. "Alle lieben Raymond" ist kunstvoll gebaut, artig erzählt und einen Tick zu nett: Die eingestreuten Sottisen über Politik und alltäglichen Wahnsinn können unsere Wahrnehmung jedenfalls nicht nachhaltig verrücken. Der verstörte Geist ist bei Parks kein produktiver Defekt, der die Evolution des gehobenen Unterhaltungsromans voranbrächte, sondern nur der Versuch, aus dem Wahn "guter Menschen" noch einmal einen garstigen Bestseller zu klonen. Wie alle Pläne ist auch dieser zum Scheitern verurteilt. MARTIN HALTER

Tim Parks: "Alle lieben Raymond". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Becker und Claus Varrelmann. Verlag Antje Kunstmann, München 1997. 300 S., geb., 39,80 DM.

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"Tim Parks hat es fertig gebracht, ein von der ersten bis zur letzten Seite unerbittlich komisches Buch über ein ernstes Problem zu schreiben. Dies ist Literatur unter der Gürtellinie, und vom feinsten." (Daily Telegraph)