Marktplatzangebote
5 Angebote ab € 1,33 €
  • Broschiertes Buch

Wie sind wir geworden, was wir heute sind? "Alle oder keiner" erzählt die Geschichte eines Diplompsychologen am Institut für forensische Psychiatrie. Hinter ihm liegt ein jugendbewegtes Leben, intensiv erlebte er die späten 70er und frühen 80er Jahre mit ihren Demonstrationen. Neben dem Studium blieb genügend Freiraum für politische Aktivitäten und Diskussionsnächte, WG-Erfahrungen und Liebesgeschichten. In der Mitte seines Lebens erkennt er, dass er an einem Wendepunkt angekommen ist.

Produktbeschreibung
Wie sind wir geworden, was wir heute sind? "Alle oder keiner" erzählt die Geschichte eines Diplompsychologen am Institut für forensische Psychiatrie. Hinter ihm liegt ein jugendbewegtes Leben, intensiv erlebte er die späten 70er und frühen 80er Jahre mit ihren Demonstrationen. Neben dem Studium blieb genügend Freiraum für politische Aktivitäten und Diskussionsnächte, WG-Erfahrungen und Liebesgeschichten. In der Mitte seines Lebens erkennt er, dass er an einem Wendepunkt angekommen ist.
Autorenporträt
Ulrich Peltzer, geboren 1956 in Krefeld, studierte Philosophie und Psychologie in Berlin, wo er seit 1975 lebt. Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Preis der SWR-Bestenliste, der Bremer Literaturpreis und der Berliner Literaturpreis. Teil der Lösung war nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2009. Im Wintersemester 2010/2011 hat Ulrich Peltzer die Frankfurter Poetikdozentur inne. 2011 wurde er mit dem Heinrich-Böll-Preis ausgezeichnet, 2013 erhielt er den Carl-Amery-Literaturpreis, 2015 den Peter-Weiss-Preis sowie den Marieluise-Fleißer-Preis und 2016 den Gerty-Spies-Literaturpreis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.12.1999

Hängende Klänge
Ulrich Peltzer unter Kongruenzdruck · Von Kristina Maidt-Zinke

Bedenkt man einmal, wie hoch das Erzählen von Geschichten der spannenden und lehrreichen und verstörenden oder auch amüsanten Art zurzeit im Kurs steht, das Erzählen schlechthin, das neuerdings gern und auch mit guten Argumenten zum Nonplusultra der Prosaschriftstellerei erhoben wird, dann muss man die Beharrlichkeit und die Gelassenheit bewundern, mit der Ulrich Peltzer seinen eigenen, allen Erzählkonventionen abholden Weg verfolgt. Vier Jahre sind vergangen, seit der Berliner Autor mit dem sperrig-experimentellen Großstadtroman "Stefan Martinez", der das Thema Mauerfall kühn aussparte, einiges Aufsehen, aber auch Befremden erregte.

Und acht Jahre gar lagen zwischen jenem kiloschweren Opus und Ulrich Peltzers Debüt "Die Sünden der Faulheit", in dem manche das ultimative Berlin-Buch der Achtziger erkennen wollten. Auch in dem neuen, leserfreundlich recht schmalen Werk "Alle oder keiner" dient Berlin als Folie, aber der Verfasser ist auf den Metropolenbonus nicht angewiesen: Was er sich vorgenommen hat, das ließe sich vor jedem Hintergrund und mit jeglichem Material durchspielen. Der Schauplatz, der ihn interessiert, ist das Innere des Kopfes, jener Raum, in dem Wahrnehmungen und Erinnerungen und Reflexionen sich nach verborgenen Regeln zu komplexen Strukturen zusammenfügen.

Mit dem Versuch, bewusstseinsinterne Vorgänge in Sprache zu überführen, will Ulrich Peltzer, so scheint es, an das abgebrochene Projekt der literarischen Moderne wieder anknüpfen. Das aber ist eine sehr einsame Arbeit, ungefähr wie Schafehüten. Wie zum Ausgleich werden auf der Ebene des Stoffes gängige Erwartungen erfüllt: Zeitgeistgemäß porträtiert der Autor seine Generation, es sind die heutigen Mittvierziger, und er zeichnet den Bogen nach, der sich über zwei Dezennien hin von der politischen Rebellion zum kultivierten Weingenuss spannt, vom Demonstrationspilgertum zum Folklore-Tourismus, vom Kampflied zum Technorausch und vom Widerstandsfuror zu einer abgeklärten Melancholie.

Die Verwandtschaft zwischen dem Roman-Ich, also dem Diplompsychologen Bernhard, und dem ehemaligen Psychologiestudenten Ulrich Peltzer ist offensichtlich und liegt ganz auf der Hand, das Kreuzberger Milieu in seiner zunehmenden Aufgeräumtheit und Prosperität dürfte ebenfalls einen hohen Wiedererkennungswert besitzen. Bernhard, im Buch ist er Ende dreißig, hat sich von der Marktforscherin Evelin getrennt und darauf mit der Schriftstellerin Christine zusammengetan; er ist in eine Wohngemeinschaft gezogen, die auf einer komfortabel hergerichteten Fabriketage residiert, und arbeitet in institutionellem Auftrag an einem Handbuch der forensischen Psychologie.

So suspekt wie die Testmethoden, mit denen in diesem Zweig der Seelenklempnerei die Schuldfähigkeit von Straftätern untersucht wird, ist der Hauptfigur das Verhältnis zwischen Sprache und Gegenstand: "So, dass es unmöglich wird, sich wie gewohnt zu verhalten, man sich dagegen sträubt, bestimmte Wörter weiter zu gebrauchen; als seien es die Gegenstände selbst, die sie von sich abstießen, sich ihren alten Bezeichnungen verweigernd, dem, was sie die längste Zeit einmal bedeutet haben. Man kann es nicht mehr sagen in dieser Form, was man sagen will, entfernt sich von einem. Falsch, denkt man, das ist nicht richtig so, ohne zu wissen, warum, wo sich in der Sprache der Fehler verbirgt, ein Gefühl, als würde man in einem fremden Körper stecken, man hört sich reden, wie man einem Tonband mit der eigenen Stimme zuhört, ein leer im Raum hängender Klang. Hohl, meine ich, nur noch das Äußere der Sätze, eine fast zufällige Aneinanderreihung von aufgespeichertem Material, man stockt, räuspert sich und beginnt nach einer Ausdrucksweise zu suchen, die genauer erscheint in diesem Augenblick, wie jetzt etwas ist, das man für die Wirklichkeit hält."

Die tastende Suche nach der Kongruenz von Wort und Wahrnehmung, nach einer Genauigkeit, die doch schließlich unerreichbar bleibt, lässt Bernhards Erinnerungsstrom von einer Assoziation zur anderen fließen, von einer Momentaufnahme zur nächsten, vom Sinneseindruck zur Gemütsstimmung, vom Gesprächsfragment zur Gedankenkette. Wie es in einem der kursiv gedruckten, quasilyrischen Einschübe heißt, "reiht sich eins ans andere das nächste aus dem davor man treibt darin unwiderruflich der Spiegel beschlägt vom eigenen Atem".

Eine epochentypische Biographie wird in Zeitsprüngen, Schichtungen und Verschachtelungen rekonstruiert, als sollte das anarchische, von der Chronologie der Ereignisse unabhängige Funktionieren des Gedächtnisses naturgetreu abgebildet werden. Völlig überzeugend gelingt das in der Ouvertüre dieses Romans, in der atmosphärisch starke, dichte Impressionen von einer Demonstration im Baskenland in den siebziger Jahren mit Bernhards wohl geordneter, aber ereignisarmer Berliner Gegenwart derart verwoben sind, dass zwei grundverschiedene Lebensgefühle einander durchdringen.

Später, bei einem Intermezzo in Bukarest oder bei der Rückkehr in jene baskische Stadt nach zwanzig Jahren, verfestigt sich der Eindruck, dass Ulrich Peltzers assoziative Technik sich am besten auf Reisen bewährt, also immer dann, wenn Fremdartiges, Ungewohntes seinen Blick schärft und weitet. Die Banalität des Berliner Wohngemeinschaftsalltags steht zu dem hohen literarischen Anspruch, den die durchgeformten, rhythmisierten und oft mehr als seitenlangen Sätze demonstrativ vor sich hertragen, in einem merkwürdigen Kontrast; die belanglose Welt der Kneipen und der Konsummarken wird mit einem Ernst beschwert, der an manchen Stellen unfreiwillig komisch wirkt.

"Grund zum Lachen Grund" - auch dies ist ein kursiver Einschub - gibt es bei Ulrich Peltzer sonst jedoch nirgends, und darin liegt wohl auch der Grund dafür, dass wir am Ende doch froh sind, sein Kopfgefängnis wieder verlassen zu dürfen. Den deutungsbedürftigen Titel "Alle oder keiner" könnte man versuchsweise durch "Alles oder nichts" ersetzen, eine strenge Forderung, die der Autor offenbar an sich selbst gerichtet hat. Entsprechend disziplinierte Leser sind ihm zu wünschen.

Ulrich Peltzer: "Alle oder keiner". Roman. Ammann Verlag, Zürich 1999. 245 S., geb., 36,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr