Ein Panoptikum mit viel Hintersinn
Wo er recht hat, hat er recht, unser Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki, und deshalb verzichtet auch kein Verlag auf jenen verkaufsträchtigen Satz, den auch mein Buchexemplar ziert: «Begeistert bin ich von diesem Marías, ich glaube, das ist einer der größten im
Augenblick lebenden Schriftsteller der Welt». Vor etlichen Jahren habe ich «Mein Herz so weiß» von…mehrEin Panoptikum mit viel Hintersinn
Wo er recht hat, hat er recht, unser Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki, und deshalb verzichtet auch kein Verlag auf jenen verkaufsträchtigen Satz, den auch mein Buchexemplar ziert: «Begeistert bin ich von diesem Marías, ich glaube, das ist einer der größten im Augenblick lebenden Schriftsteller der Welt». Vor etlichen Jahren habe ich «Mein Herz so weiß» von Javier Marías gelesen, der als sein bester Roman gilt und mich seinerzeit begeistert hat. Deshalb war ich nun sehr gespannt, ob sein drei Jahre vorher erstmals erschienener Roman unter dem rätselhaften Titel «Alle Seelen», der auch mit dem Untertitel «Die Irren von Oxford» herausgebracht wurde, ebenso lesenswert ist. Was ich an dieser Stelle schon mal bejahen kann.
Das einzige, was mich stört an diesem Buch, um es vorweg zu sagen, ist die Art, wie die verschiedenen Verlage es anpreisen, sei es im Untertitel, der suggeriert, es gehe um schrullige britische Figuren in diesem Roman, im Coverfoto mit einer aufreizenden weiblichen Pose, die in der Erzählung kaum Entsprechung findet, oder im Klappentext, der die Liebesaffäre ins Zentrum rückt und mit einem Zitat aufwartet, in dem von «offener sexueller Bewunderung» die Rede ist. All das kommt auch vor, aber es ist beileibe nicht das, was diesen Roman ausmacht, worauf ja schon der Buchtitel «Alle Seelen» deutlich hinweist. Der Autor ist ein Könner im Beschreiben von Menschen, denen er in seinem Roman tief in die Seele schaut, ihr Innerstes offenlegt, ihr Wesen erfasst, sich also nicht nur mit ihrem Äußerlichen, Sichtbaren begnügt. Und er ist ein Meister im Erfinden unterschiedlichster Figuren, die für uns sehr lebendig werden in seinen Schilderungen, allesamt markante Individuen, die in großer Zahl auftreten in seinem literarischen Panoptikum. Es sind wahrlich skurrilen Typen darunter, von denen uns einige gleich zu Beginn bei einem «high table» genannten Essensritual an der Universität von Oxford vorgeführt werden, vom Autor allerdings satirisch ziemlich überzeichnet. Marías hat sich da wohl einiges von der Seele schreiben müssen aus seinen Erfahrungen im Umgang mit Spinnern, Genies und Exzentrikern verschiedenster Couleur während seiner Zeit als Dozent an dieser berühmten Uni.
Die Rahmenhandlung ist schnell erzählt: Der Ich-Erzähler geht für zwei Jahre als Gastdozent für spanische Literatur nach Oxford (sic!) und bandelt schon bald mit seiner verheirateten Kollegin Clare an, von der er sich, das ist vorhersehbar, am Ende wird trennen müssen. Für ihn als Spanier ist und bleibt Oxford fremd und unwirtlich, sein Aufenthalt ist also nur ein berufliches Zwischenspiel, und seine Geliebte andererseits wird Mann, Kind und Oxford niemals verlassen. Eine Liaison auf Zeit also, auch wenn er das am Ende nicht wahrhaben will und versucht, ihr beim letzten Rendezvous eine gemeinsame Zukunft schmackhaft zu machen. Sie erzählt ihm daraufhin ein beklemmendes Erlebnis aus ihrer Kindheit, das sensiblen Lesern unter die Haut gehen dürfte. War in «Mein Herz so weiß» gleich zu Beginn der Selbstmord einer gerade erst von der Hochzeitsreise zurückgekehrten jungen Frau ein ziemlicher Schock, dessen Hintergründe dann in Rückblenden erzählt werden, so ist in Clares Erzählung ganz am Ende der ebenso überraschende Selbstmord ihrer Mutter der Schock. Von Marías sehr raffiniert konstruiert auch hier, denn Clare ist als kleines Kind völlig ahnungslos, als sie ihre Mutter vom Garten aus auf einer hohen Eisenbahnbrücke entdeckt und dann mit ansehen muss, wie sie sich hinunterstürzt in den Fluss. Auch dabei ging es um Ehebruch.
Die Stärken dieses Romans sind sein klug konstruierter Plot, seine wunderbar detailgenau beschriebenen Figuren, das universitäre Ambiente mit der Literatur im Mittelpunkt. Hinzu kommen viele kluge Gedanken philosophischer Art, so zum Beispiel auch Reflexionen über den Tod, die ein genialer emeritierter Professor äußert, - etwas sehr Weises zu diesem permanent verdrängten Thema.