Alle Türen, sind sie auf oder geschlossen? Die Operette würde immer behaupten: sie sind beides. Sie finden dort Flügeltüren, Tunnel und Tapetentüren, spukhafte Geistertüren und die Türen, die sich in der Welle auftun, um einen zu verschlingen und an ganz anderer Stelle abzuliefern. Nicht zu schweigen: von den Türen, die auf die Bühne gehen, Dielen, bevölkert mit Füchsen und Faunen, humanen und posthumanen Agenten, dem aufgekratzten Operettenchor. Die Kulissen stammen aus dem Hause Negativität&Ramsch und werden von Fasanen geschoben. Alles liegt offen da, das Licht ist silbern, die Tage überblenden, niemand verlässt den Raum.
Rinck lenkt ihre Aufmerksamkeit auf die Frau als Mensch, die Unbeständigkeit der Wilden Seele, die Grand-Duchesse von Gerolstein, den Grand Pacific Garbage Patch und die allgegenwärtige Groteske der Grenzen und deutsche Dünnhäutigkeit.
Doch bei aller Ausgelassenheit geht es in ALLE TÜREN um die Grenze, den Ausschluss, das Wegerecht, die freie und die versperrte Passage. Das sind die Grenzen der Operette. Wer sich eben noch frohen Muts in den Strudel hineinwarf, wird jetzt von Plastikmüll umkreist und die Temperaturen steigen. Nicht zuletzt ist ALLE TÜREN eine tiefe Verbeugung vor Jacques Offenbach, der im Jahr 2019 seinen 200. Geburtstag feiert. Ein ruhigeres Schlusskapitel, das den Titel MERCI
trägt, gedenkt der Toten, bedankt sich und schnauft kräftig aus. Das könnte gerade noch gut gegangen sein.
Rinck lenkt ihre Aufmerksamkeit auf die Frau als Mensch, die Unbeständigkeit der Wilden Seele, die Grand-Duchesse von Gerolstein, den Grand Pacific Garbage Patch und die allgegenwärtige Groteske der Grenzen und deutsche Dünnhäutigkeit.
Doch bei aller Ausgelassenheit geht es in ALLE TÜREN um die Grenze, den Ausschluss, das Wegerecht, die freie und die versperrte Passage. Das sind die Grenzen der Operette. Wer sich eben noch frohen Muts in den Strudel hineinwarf, wird jetzt von Plastikmüll umkreist und die Temperaturen steigen. Nicht zuletzt ist ALLE TÜREN eine tiefe Verbeugung vor Jacques Offenbach, der im Jahr 2019 seinen 200. Geburtstag feiert. Ein ruhigeres Schlusskapitel, das den Titel MERCI
trägt, gedenkt der Toten, bedankt sich und schnauft kräftig aus. Das könnte gerade noch gut gegangen sein.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Meike Fessmann lässt sich immer wieder gern ein auf die lyrische Welt der Monika Rinck, die wie keine Zweite Schwung, Kraft Witz, "Verlangen und eine kleine Portion Koketterie" mixt. Und doch muss die Kritikerin im inzwischen vierten Gedichtband der studierten Religionswissenschaftlerin und Sprachakrobatin Abnutzungserscheinungen feststellen: Das "Leuchten" ihrer Lyrik will sich in diesen "Gelegenheitstexten" nicht recht einstellen, mit Ausnahmen natürlich, wie Fessmann etwa mit Blick auf das Gedicht "Schnauf" vermerkt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.05.2019Aber leben kann man davon nicht
Niemand, der sie nicht mag: Monika Rinck ist die Lyrikerin, auf die sich alle einigen können.
Ihr neues Buch zeigt aber auch: Lyriker sind heute mit Festivals und Dozenturen so beschäftigt, dass die Gedichte mitunter leiden
VON MEIKE FESSMANN
Glück, das heißt, etwas ausdrücken und Anklang finden“, zitiert Monika Rinck Antonio Negri, und Anklang findet sie selbst seit vielen Jahren. Wo immer man sich über Gegenwartslyrik unterhält, leuchten die Augen, sobald ihr Name fällt. Gehört sie also, gerade fünfzig geworden, zum Mainstream? Oder ist der Zirkel der Lyrikenthusiasten, trotz des Booms der Gattung seit fast zwei Jahrzehnten, immer noch so klein, dass sein Mittelpunkt von allen Seiten erkennbar ist?
Die 1969 in Zweibrücken geborene Schriftstellerin ist in einem Maße anerkannt, wie es im Literaturbetrieb selten vorkommt. „Verzückte Distanzen“ hieß ihr erster Gedichtband aus dem Jahr 2004. Gerade ist „Alle Türen“, ihr vierter Gedichtband, bei kookbooks erschienen. Sie ist aber nicht nur Lyrikerin, sondern auch Essayistin – und dies auf genuin literarische Weise, wenn man Literatur mit einer klugen Fügung Peter Sloterdijks als „syntaktische Glückstechnik“ versteht. Im selben Gespräch sagt er auch, wie das funktioniert: „Mit der nicht-alltäglichen Zusammenfügung von zwei, drei Wörtern beginnt die Levitation.“
Die Wörter so zusammenzufügen, dass sie nicht alltäglich klingen und trotzdem auf verlockende Weise verstehbar, das ist eine ihrer Fertigkeiten. Sie ist eine lustvolle Denkerin und Gesellschaftskritikerin, aber keine Apokalyptikerin. Auch ihre Gedichte sind Denkbilder oder genauer: Denkbewegungen. Sie erkunden nicht unbedingt die Dinge, die es schon gibt, sie vervielfältigen die Möglichkeiten, über referenzlose Objekte zu sprechen. Oder hat schon mal jemand die Liebe gesehen? Mit dem erzählenden Essay „Ah, das Love-Ding“, der 2006 als ihr zweites Buch erschien, und dem Gedichtband „Honigprotokolle“ von 2012 hat sie zwei vollkommene Artefakte erschaffen. Als Gegenstände zur Welt- und Selbsterkundung vereinen sie Verve, Energie, Komik, Verlangen und eine kleine Portion Koketterie. Es ist eine Atmosphäre, in die man sofort eintauchen will, wohlig, aber nicht ohne Gefahr.
Ihre Welt gehört der unseren an und hat doch einen Spin ins Surreale. Sie ist dem Traum ebenso nah wie dem Spiel. Das Imaginäre regiert ganz ungeniert in diesem Kosmos hochgeschraubter Wortverwicklungen. Man kann das auskosten, etwa, wenn man ein paarmal hintereinander eines ihrer Gedichte aus „Honigprotokolle“ liest, zum Beispiel „Duft“. Es beginnt mit einer Halbzeile, die in 48 von 66 Gedichten des Bandes wiederholt wird: „Hört ihr das, so höhnen Honigprotokolle, es kann sein, dass ein Duft, / ein betörender Duft, den durchquerend ich scheu wurde vor Freude, / würzig, wie von gepflegten, rasend schnellen Pferden, ein Duft, / in dem Zuneigung und Umsturz einander hingerissen noch stützten, / dass so ein Duft eines Tages aufgespalten in seine Bestandteile wird / (eines sei Harz, ein andres Moosfäule, ein drittes steif wie Säure), / die dann so vereinzelt, jeweils herber, plumper, blöder, träger würden.“
Dass Vereinzelung plump und träg und blöde macht, ist eine Erkenntnis, die Monika Rinck nicht allein aus der Olfaktorik gewinnt. Sie entspricht ihrem Tier- und Menschenbild. Was man in Gemeinschaft machen kann, sollte man nicht alleine tun, auf jeden Fall macht es gemeinsam mehr Spaß. So hat sie den einfallsreich komponierten Sammelband ihres Werks, der gerade bei S. Fischer erschienen ist, zusammen mit ihrer kookbooks-Verlegerin Daniela Seel herausgegeben. Eine schöne Kooperation nicht nur zweier Dichterinnen, sondern auch zweier Verlage, die für die Lebendigkeit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur stehen.
Nichts an diesem Buch ist Zufall, es ist so streng komponiert wie ein Gedicht. Vom Untertitel, „Ein Lesebuch“, der sich als Referenz an die Eltern, ein Lehrerpaar, deuten lässt, bis hin zum Titel, der an exzentrischer Flapsigkeit kaum zu überbieten ist: „Champagner für die Pferde“! Es versteht sich von selbst, dass er sich durch unterschiedliche Kontexte, die das Buch darbietet, immer weiter anreichert. Pferde aller Art kann man als Monika Rincks Wappentier durchgehen lassen – vom geflügelten Pegasus der Dichtkunst über das zottlige Pony bis hin zu einem dünnen Stofftier.
Und in der Tat hat die Art ihrer Sprachakrobatik auch etwas von Reitkunst, mal scheint der Schenkeldruck der Dressurreiterin die Dinge voranzubringen, mal hängt sie mit langer Peitsche an der Longe des im Kreis galoppierenden Pferds, mal ist sie Teil der Voltigiergruppe, die sich auf dessen Rücken zur Kür-Formation verrenkt. Aber natürlich lässt sie sich auch als Zuschauerin eines Trabrennens imaginieren, mit Pilotenbrille, wie auf der Fotocollage des Covers, an dem die Kollegin Ann Cotten ihren Anteil hat. Im Alltag scheint ihr das Schwimmen näher zu sein, davon erzählt der ein oder andere Text und rückt das Schwimmen in die Nähe des Schreibens.
Leiblichkeit und Transzendenz sind bei Monika Rinck eng verknüpft. Es gibt kein Denken ohne den Leib. Aber die Kräfte des Aufschwungs, wie sie in den Praktiken und Symbolisierungen der Religionen eingeübt werden, spielen für ihr Schreiben eine gleichermaßen bedeutende Rolle. Sie hat (neben Geschichte und Vergleichender Literaturwissenschaft) Religionswissenschaft bei Klaus Heinrich an der FU in Berlin studiert und schwärmt von den Freiheiten des Studentinnenlebens in den Neunzigerjahren. Die fünf Kapitel des Lesebuchs heißen „Ansprechen, Schwimmen, Schlafen, Verkörpern, Sammeln“, ein Prolog und ein Epilog setzen die Akzente. Es ist eine sehr spezielle Form der Gesellschaftskri-tik, wenn sie vorschlägt, man sollte Ästhetik als Sozialwissenschaft verstehen. Wie kommt sie darauf?
Es ist eine der klügsten Ideen in diesem geistreichen Buch, die Zeitstruktur, die Lesen, Schreiben, Nachdenken brauchen, als eine Art ästhetischen Widerstand aufzufassen. Wer sich mit diesen Tätigkeiten befasst, weiß, wie unverhältnismäßig lang Verstehen dauert, wie viele Durchläufe nötig sind, bis man der Eigenart eines Gedankens oder einer poetischen Fügung auf die Spur kommt. Wer das in einen Stundenlohn umrechnet, ist schon verloren. Aber geht es darum? In gewisser Weise geht es ums Gegenteil. „Weil das Gedicht kein Geld hat, hat es Zeit“, schreibt sie im Prolog, der überarbeiteten Fassung eines Zeitschriftenbeitrags zur „Zukunft der Literatur“, wohl wissend, dass die „Idealisierung des Marginalen“ ebenso vermieden werden muss wie seine Entwertung.
Die Debatten um die Lyrik der Gegenwart sind fast immer von diesem Zwiespalt geprägt. Zunächst werfen alle die Orgel an, wie gut es um die Lyrik steht und was für eine tolle Sache Gedichte sind, dann stellt irgendein Spielverderber die blasphemische Frage, ob man davon leben könne, und die Beteiligten kriechen gedemütigt vom Podium. Nein, man kann davon nicht leben. Also muss man anderes tun: Poetik-Dozenturen annehmen, Vorträge halten, Literatur übersetzen, auf Lesereise gehen, Festivals und Kongresse kuratieren. Das alles schadet womöglich gar nicht. Aber es raubt Zeit – und es perforiert die Konzentration.
Das merkt man beispielsweise an den vier bisher unveröffentlichten Vorlesun-gen der Münsterschen Poetikdozentur aus dem Winter 2015, bei denen die Attitüde des Nachdenkens gelegentlich den Vorgang selbst ersetzt. Auch wenn die Leserin an anderer Stelle entdeckt, dass das nervige „Hm“, das in den Vorlesungen ständig auftaucht, ein Dylan-Zitat ist – „All the tired horses in the sun / How’m I supposed to get any ridin’ done? Hmm.“ –, lässt sich doch nicht übersehen, dass sich darin Routine mit sanfter Unlust paart. Ähnlich verhält es sich mit dem neuen Gedichtband, „Alle Türen“.
Allzu oft lassen die Gedichte erkennen, dass es sich um Gelegenheitstexte handelt. Die Vorzüge der offenen Form, die Monika Rinck, wenn sie mit Leib und Seele bei der Sache ist, so glänzend zum Summen und Leuchten bringen kann, geraten ins Hintertreffen, wo der Zeitdruck schnelle Lösungen verlangt. Natürlich finden sich auch in diesem Band gelungene Gedichte – wie ein Gedicht über die Körperlichkeit von Trau-rigkeit mit dem lakonischen Titel „Schnauf“.
Sind die „luftwesen der begeisterung“, wie es in der Kleinschreibung früherer Gedichte heißt, mit den Jahren einfach etwas seltener unterwegs? Oder hat sich die Zeitstimmung geändert? Die Begeisterung für das schnelle Hin und Her digitaler Kommunikation hat auf jeden Fall abgenommen. Seit sie ihren Facebook-Account mit all den Ablenkungen, Angriffen und Projektionen geschlossen hat, bekennt Monika Rinck, sei sie „ein viel glücklicherer Mensch“.
Wie Handke und Strauß hat auch sie eine Zeit lang die Figur des Idioten gegen den Zeitgeist ständiger Ansprechbarkeit und Verfügbarkeit gespielt. „Risiko und Idiotie“ heißen ihre „Streitschriften“ von 2015. Darin profiliert sie auch „das Prinzip Diva“ als Figur der „lebenserhaltenden Überspanntheiten“, mit denen sich Angebote auch mal ausschlagen lassen, damit die Kreativität nicht versiegt.
Von Marilyn Monroe erzählt Monika Rinck, sie habe stets nur aus frisch geöff-neten Champagnerflaschen getrunken und nur das erste Glas. So gab es „Champagner für alle – immer. Den Rest eben. Und das war schon viel: Verweigerung und Fülle.“
Vielleicht hat die charmante Champagner-Logik, die sich im Titel kundtut, mit den großen Preisen zu tun, die Monika Rinck in den letzten Jahren bekommen hat. Für Schriftsteller und Schriftstellerinnen sind sie das Pendant zum bedingungslosen Grundeinkommen, für das der Soziologe Hartmut Rosa plädiert, um jenes Phänomen zu fördern, an dem sich gutes Leben bemisst: Resonanz.
Monika Rinck: Champagner für die Pferde. Ein Lesebuch. Herausgegeben von Monika Rinck und Daniela Seel. S. Fischer, Frankfurt am Main 2019. 528 Seiten, 24 Euro.
Monika Rinck: Alle Türen. Gedichte. kookbooks, Berlin 2019, 104 Seiten, 19,90 Euro.
Was man in Gemeinschaft
machen kann,
sollte man nicht alleine tun
Wie Handke und Strauß
hat auch sie eine Weile
die Figur des Idioten gespielt
Seit sie ihren Facebook-Account geschlossen hat, sei sie ein viel glücklicherer Mensch, sagt Monika Rinck.
Foto: Gene Glover
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Niemand, der sie nicht mag: Monika Rinck ist die Lyrikerin, auf die sich alle einigen können.
Ihr neues Buch zeigt aber auch: Lyriker sind heute mit Festivals und Dozenturen so beschäftigt, dass die Gedichte mitunter leiden
VON MEIKE FESSMANN
Glück, das heißt, etwas ausdrücken und Anklang finden“, zitiert Monika Rinck Antonio Negri, und Anklang findet sie selbst seit vielen Jahren. Wo immer man sich über Gegenwartslyrik unterhält, leuchten die Augen, sobald ihr Name fällt. Gehört sie also, gerade fünfzig geworden, zum Mainstream? Oder ist der Zirkel der Lyrikenthusiasten, trotz des Booms der Gattung seit fast zwei Jahrzehnten, immer noch so klein, dass sein Mittelpunkt von allen Seiten erkennbar ist?
Die 1969 in Zweibrücken geborene Schriftstellerin ist in einem Maße anerkannt, wie es im Literaturbetrieb selten vorkommt. „Verzückte Distanzen“ hieß ihr erster Gedichtband aus dem Jahr 2004. Gerade ist „Alle Türen“, ihr vierter Gedichtband, bei kookbooks erschienen. Sie ist aber nicht nur Lyrikerin, sondern auch Essayistin – und dies auf genuin literarische Weise, wenn man Literatur mit einer klugen Fügung Peter Sloterdijks als „syntaktische Glückstechnik“ versteht. Im selben Gespräch sagt er auch, wie das funktioniert: „Mit der nicht-alltäglichen Zusammenfügung von zwei, drei Wörtern beginnt die Levitation.“
Die Wörter so zusammenzufügen, dass sie nicht alltäglich klingen und trotzdem auf verlockende Weise verstehbar, das ist eine ihrer Fertigkeiten. Sie ist eine lustvolle Denkerin und Gesellschaftskritikerin, aber keine Apokalyptikerin. Auch ihre Gedichte sind Denkbilder oder genauer: Denkbewegungen. Sie erkunden nicht unbedingt die Dinge, die es schon gibt, sie vervielfältigen die Möglichkeiten, über referenzlose Objekte zu sprechen. Oder hat schon mal jemand die Liebe gesehen? Mit dem erzählenden Essay „Ah, das Love-Ding“, der 2006 als ihr zweites Buch erschien, und dem Gedichtband „Honigprotokolle“ von 2012 hat sie zwei vollkommene Artefakte erschaffen. Als Gegenstände zur Welt- und Selbsterkundung vereinen sie Verve, Energie, Komik, Verlangen und eine kleine Portion Koketterie. Es ist eine Atmosphäre, in die man sofort eintauchen will, wohlig, aber nicht ohne Gefahr.
Ihre Welt gehört der unseren an und hat doch einen Spin ins Surreale. Sie ist dem Traum ebenso nah wie dem Spiel. Das Imaginäre regiert ganz ungeniert in diesem Kosmos hochgeschraubter Wortverwicklungen. Man kann das auskosten, etwa, wenn man ein paarmal hintereinander eines ihrer Gedichte aus „Honigprotokolle“ liest, zum Beispiel „Duft“. Es beginnt mit einer Halbzeile, die in 48 von 66 Gedichten des Bandes wiederholt wird: „Hört ihr das, so höhnen Honigprotokolle, es kann sein, dass ein Duft, / ein betörender Duft, den durchquerend ich scheu wurde vor Freude, / würzig, wie von gepflegten, rasend schnellen Pferden, ein Duft, / in dem Zuneigung und Umsturz einander hingerissen noch stützten, / dass so ein Duft eines Tages aufgespalten in seine Bestandteile wird / (eines sei Harz, ein andres Moosfäule, ein drittes steif wie Säure), / die dann so vereinzelt, jeweils herber, plumper, blöder, träger würden.“
Dass Vereinzelung plump und träg und blöde macht, ist eine Erkenntnis, die Monika Rinck nicht allein aus der Olfaktorik gewinnt. Sie entspricht ihrem Tier- und Menschenbild. Was man in Gemeinschaft machen kann, sollte man nicht alleine tun, auf jeden Fall macht es gemeinsam mehr Spaß. So hat sie den einfallsreich komponierten Sammelband ihres Werks, der gerade bei S. Fischer erschienen ist, zusammen mit ihrer kookbooks-Verlegerin Daniela Seel herausgegeben. Eine schöne Kooperation nicht nur zweier Dichterinnen, sondern auch zweier Verlage, die für die Lebendigkeit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur stehen.
Nichts an diesem Buch ist Zufall, es ist so streng komponiert wie ein Gedicht. Vom Untertitel, „Ein Lesebuch“, der sich als Referenz an die Eltern, ein Lehrerpaar, deuten lässt, bis hin zum Titel, der an exzentrischer Flapsigkeit kaum zu überbieten ist: „Champagner für die Pferde“! Es versteht sich von selbst, dass er sich durch unterschiedliche Kontexte, die das Buch darbietet, immer weiter anreichert. Pferde aller Art kann man als Monika Rincks Wappentier durchgehen lassen – vom geflügelten Pegasus der Dichtkunst über das zottlige Pony bis hin zu einem dünnen Stofftier.
Und in der Tat hat die Art ihrer Sprachakrobatik auch etwas von Reitkunst, mal scheint der Schenkeldruck der Dressurreiterin die Dinge voranzubringen, mal hängt sie mit langer Peitsche an der Longe des im Kreis galoppierenden Pferds, mal ist sie Teil der Voltigiergruppe, die sich auf dessen Rücken zur Kür-Formation verrenkt. Aber natürlich lässt sie sich auch als Zuschauerin eines Trabrennens imaginieren, mit Pilotenbrille, wie auf der Fotocollage des Covers, an dem die Kollegin Ann Cotten ihren Anteil hat. Im Alltag scheint ihr das Schwimmen näher zu sein, davon erzählt der ein oder andere Text und rückt das Schwimmen in die Nähe des Schreibens.
Leiblichkeit und Transzendenz sind bei Monika Rinck eng verknüpft. Es gibt kein Denken ohne den Leib. Aber die Kräfte des Aufschwungs, wie sie in den Praktiken und Symbolisierungen der Religionen eingeübt werden, spielen für ihr Schreiben eine gleichermaßen bedeutende Rolle. Sie hat (neben Geschichte und Vergleichender Literaturwissenschaft) Religionswissenschaft bei Klaus Heinrich an der FU in Berlin studiert und schwärmt von den Freiheiten des Studentinnenlebens in den Neunzigerjahren. Die fünf Kapitel des Lesebuchs heißen „Ansprechen, Schwimmen, Schlafen, Verkörpern, Sammeln“, ein Prolog und ein Epilog setzen die Akzente. Es ist eine sehr spezielle Form der Gesellschaftskri-tik, wenn sie vorschlägt, man sollte Ästhetik als Sozialwissenschaft verstehen. Wie kommt sie darauf?
Es ist eine der klügsten Ideen in diesem geistreichen Buch, die Zeitstruktur, die Lesen, Schreiben, Nachdenken brauchen, als eine Art ästhetischen Widerstand aufzufassen. Wer sich mit diesen Tätigkeiten befasst, weiß, wie unverhältnismäßig lang Verstehen dauert, wie viele Durchläufe nötig sind, bis man der Eigenart eines Gedankens oder einer poetischen Fügung auf die Spur kommt. Wer das in einen Stundenlohn umrechnet, ist schon verloren. Aber geht es darum? In gewisser Weise geht es ums Gegenteil. „Weil das Gedicht kein Geld hat, hat es Zeit“, schreibt sie im Prolog, der überarbeiteten Fassung eines Zeitschriftenbeitrags zur „Zukunft der Literatur“, wohl wissend, dass die „Idealisierung des Marginalen“ ebenso vermieden werden muss wie seine Entwertung.
Die Debatten um die Lyrik der Gegenwart sind fast immer von diesem Zwiespalt geprägt. Zunächst werfen alle die Orgel an, wie gut es um die Lyrik steht und was für eine tolle Sache Gedichte sind, dann stellt irgendein Spielverderber die blasphemische Frage, ob man davon leben könne, und die Beteiligten kriechen gedemütigt vom Podium. Nein, man kann davon nicht leben. Also muss man anderes tun: Poetik-Dozenturen annehmen, Vorträge halten, Literatur übersetzen, auf Lesereise gehen, Festivals und Kongresse kuratieren. Das alles schadet womöglich gar nicht. Aber es raubt Zeit – und es perforiert die Konzentration.
Das merkt man beispielsweise an den vier bisher unveröffentlichten Vorlesun-gen der Münsterschen Poetikdozentur aus dem Winter 2015, bei denen die Attitüde des Nachdenkens gelegentlich den Vorgang selbst ersetzt. Auch wenn die Leserin an anderer Stelle entdeckt, dass das nervige „Hm“, das in den Vorlesungen ständig auftaucht, ein Dylan-Zitat ist – „All the tired horses in the sun / How’m I supposed to get any ridin’ done? Hmm.“ –, lässt sich doch nicht übersehen, dass sich darin Routine mit sanfter Unlust paart. Ähnlich verhält es sich mit dem neuen Gedichtband, „Alle Türen“.
Allzu oft lassen die Gedichte erkennen, dass es sich um Gelegenheitstexte handelt. Die Vorzüge der offenen Form, die Monika Rinck, wenn sie mit Leib und Seele bei der Sache ist, so glänzend zum Summen und Leuchten bringen kann, geraten ins Hintertreffen, wo der Zeitdruck schnelle Lösungen verlangt. Natürlich finden sich auch in diesem Band gelungene Gedichte – wie ein Gedicht über die Körperlichkeit von Trau-rigkeit mit dem lakonischen Titel „Schnauf“.
Sind die „luftwesen der begeisterung“, wie es in der Kleinschreibung früherer Gedichte heißt, mit den Jahren einfach etwas seltener unterwegs? Oder hat sich die Zeitstimmung geändert? Die Begeisterung für das schnelle Hin und Her digitaler Kommunikation hat auf jeden Fall abgenommen. Seit sie ihren Facebook-Account mit all den Ablenkungen, Angriffen und Projektionen geschlossen hat, bekennt Monika Rinck, sei sie „ein viel glücklicherer Mensch“.
Wie Handke und Strauß hat auch sie eine Zeit lang die Figur des Idioten gegen den Zeitgeist ständiger Ansprechbarkeit und Verfügbarkeit gespielt. „Risiko und Idiotie“ heißen ihre „Streitschriften“ von 2015. Darin profiliert sie auch „das Prinzip Diva“ als Figur der „lebenserhaltenden Überspanntheiten“, mit denen sich Angebote auch mal ausschlagen lassen, damit die Kreativität nicht versiegt.
Von Marilyn Monroe erzählt Monika Rinck, sie habe stets nur aus frisch geöff-neten Champagnerflaschen getrunken und nur das erste Glas. So gab es „Champagner für alle – immer. Den Rest eben. Und das war schon viel: Verweigerung und Fülle.“
Vielleicht hat die charmante Champagner-Logik, die sich im Titel kundtut, mit den großen Preisen zu tun, die Monika Rinck in den letzten Jahren bekommen hat. Für Schriftsteller und Schriftstellerinnen sind sie das Pendant zum bedingungslosen Grundeinkommen, für das der Soziologe Hartmut Rosa plädiert, um jenes Phänomen zu fördern, an dem sich gutes Leben bemisst: Resonanz.
Monika Rinck: Champagner für die Pferde. Ein Lesebuch. Herausgegeben von Monika Rinck und Daniela Seel. S. Fischer, Frankfurt am Main 2019. 528 Seiten, 24 Euro.
Monika Rinck: Alle Türen. Gedichte. kookbooks, Berlin 2019, 104 Seiten, 19,90 Euro.
Was man in Gemeinschaft
machen kann,
sollte man nicht alleine tun
Wie Handke und Strauß
hat auch sie eine Weile
die Figur des Idioten gespielt
Seit sie ihren Facebook-Account geschlossen hat, sei sie ein viel glücklicherer Mensch, sagt Monika Rinck.
Foto: Gene Glover
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2019Ach, die jungen Verse vom Varieté!
Wir sind entfesselt: Monika Rinck erklärt ihre Poetik und dichtet in Jacques Offenbachs Manier.
Von Patrick Bahners
Einen bescheidenen Vorschlag unterbreitete Monika Rinck in ihrer Poetikvorlesung an der Universität Göttingen: Der Buchhandel möge Gedichtbände doch bitte nicht mehr hinter den Romanen einsortieren, sondern ins Sachbuchregal stellen, also dorthin, wo zwar kein zeitloser Ruhm winkt, aber der Lohn des Bestsellerautors erworben werden kann. Rinck kann vermelden, dass es diese Ordnung in der Los Angeles Public Library schon gibt. Dass Obdachlose dort ausdrücklich willkommen sind, illustriert in der Vorlesung Rincks kommunitaristische Idee des Lesens, die gerade nicht utopisch ist. Leser mögen einsam sein, aber nicht allein, kommen an Orten zusammen. "Die Anwesenheit vieler obdachloser Menschen verändert freilich die Atmosphäre in der Bibliothek, man könnte sagen: sie wird realistischer." Rinck sieht die Welthaltigkeit des Gedichts dadurch verbürgt, dass es sich nicht von selbst versteht, sondern der Deutung bedarf. Sie belegt die These mit einigen Interpretationen. Auch ein eigenes Gedicht traktiert sie, aus dem jüngsten Band "Alle Türen".
Wie wirbt sie in dieser Sammlung für ihr gattungspolitisches Postulat, die Dichter mit einem Begriff von Robert Gernhardt unter die Ernstmacher aufzunehmen? Indem sie ihr Metier schon in der Ouvertüre, dem Gedicht "Die reine Affirmation", und dann durchgängig mit dem schlechthin albernen und halbseidenen Genre der darstellenden Künste vergleicht, mit der Operette. "Auf die Bühne öffnen sich mit Kawatz acht Doppeltüren, / durch die ein Wirbel hereinstürmt, es ist das Ensemble." Das Bild des Bandtitels wird illustriert mit dem kurzfristigen Effekt technischer Meisterschaft: Gleichklang ist Überwältigung und Routine.
"Dass Operettenverschwörer singen, ist plausibel." Dieser Vers, kursiv gesetzt, ist ein Zitat, und anders als bei den meisten weiteren Stellen, die Rinck irgendwo herauskopiert und in ihre Gedichte eingeklebt hat, wird der Urheber im Text genannt: Karl Kraus. Die Zitate sind selbst wie Türen, die den Blick in literarische Parallelwelten freigeben. Der Witz des Satzes von Kraus liegt in der Erkenntnis, dass die Absurdität der Konvention ihre eigene Glaubwürdigkeit produziert. Alles, was in Operettenhandlungen passiert, ist unplausibel, und deshalb ist es plausibel, dass Operettenverschwörer etwas für das Gelingen ihrer konspirativen Pläne Unpraktisches tun, nämlich singen.
In der Vorlesung bemerkt Rinck über Wendy Treviso, von der sie ein Sonett mit dem Titelvers "A border, like race, is a cruel fiction" vorstellt, dass in den Gedichten ihrer aus Texas gebürtigen Kollegin für sie gerade die Lücken informativ gewesen seien. Namen, die sie nicht kannte, Stichworte, die ihr dunkel blieben - "ich schlug alles nach oder gab es ein ins Netz". Auch der Leser von "Alle Türen" wird sich dem Reiz des Nachschlagens hingeben. Im Aufsatz "Grimassen über Kultur und Bühne" von Karl Kraus findet man im Anschluss an die Beschwörung der singenden Verschwörer die Sentenz: "Der Gedanke der Operette ist Rausch, aus dem Gedanken geboren werden; die Nüchternheit geht leer aus."
Das taugt als Devise der Poetik Monika Rincks. Ihre Phantasie ist halluzinatorisch. Die Gedanken zu den philosophischen oder politischen Sachen sind Produkte von Assoziationen, die sich typischerweise aus dem Wortklang ergeben. Auch Wörter, die sich als Homonyme darstellen, wenn man sie lallend ausspricht oder ein paar Buchstaben verdreht, funktionieren wie Türen. Die schönsten Pointen stammen aus dem Wortspielhimmel. Das über das Kraus-Zitat versteckt eingeführte Thema des Rauschs wird explizit im vierten Gedicht, wo Rinck aus "der ersten Haschisch-Interpretation" Walter Benjamins die "große Empfindlichkeit gegen offene Türen" zitiert.
Der längste Abschnitt des Bandes trägt den Titel "Das Prinzip der Operette und seine Grenzen" und bietet im ersten Gedicht das urkomische Resümee einer idealtypischen Opéra bouffe von Jacques Offenbach, ein Pastiche des Gesamtwerks des Kölner Meisters, pünktlich zu seinem zweihundertsten Geburtstag. In der ersten Szene des zweiten Aktes "versammeln sich" die Mitwirkenden, "die Lyriklobby mit Broschüren" eingeschlossen, "am Strand vor Santa Monica Pier und kreisen Drogen". Die Autorin hat in Kalifornien an diesem Buch gearbeitet. Selbstheiligsprechung ist ein klassischer Effekt des Drogenkonsums, aber die berauschende Wirkung von Lyrikbroschüren kann der Leser von "Alle Türen" bestätigen.
Doch wie ist es um die Sachhaltigkeit der Lesefrüchte aus dem künstlichen Paradies bestellt? Gegen Käte Hamburger besteht Rinck in der Vorlesung darauf, dass "die verifizierende Prüfung des Gedichts zu seiner ästhetischen Qualität" gehöre. "Der große Plastikstrudel" behandelt ein Thema von weltumspannender Dringlichkeit, die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts der Meere. Hier bewährt sich eine Lehre, die Rinck in der Vorlesung anhand eines Gedichts des syrisch-palästinensischen Lyrikers Ramy Al-Asheq entwickelt, der seit 2015 in Deutschland lebt. "Was das Material angeht: Weg mit der falschen Anschaulichkeit, der gut gebauten Struktur, der Erwartbarkeit, der Indienstnahme von symbolischen nature-mortalen Details zur verschwiegenen Bestätigung des Vorgewussten."
Beim Thema der Vermüllung der Ozeane hätte das Motiv der toten Natur unwiderstehlich sein müssen, der Horror der Monstren, die sich den Plastikschrott einverleibt haben. Die Dichterin aber setzt sich selbst in Szene, als kritische Medienkonsumentin, die "erstmal sehen" will, was los ist. "Verwegen wie ich bin - stürz ich mich in den Strudel, / Strudel rein! Ich stürz mich, ruf ich, in den Strudel, Strudel rein!, / der wie eine Krankheit zwei Welten miteinander verbindet." Und schon haben wir uns in das Publikum einer Operette verwandelt, denn sofort folgt der Einsatz des Chores. "Tutti: Sie stürzt sich in den Strudel, Strudel rein!"
Hier handelt es sich um ein weiteres, diesmal verdecktes Zitat aus dem Offenbach-Aufsatz von Kraus. An diesem Echoeffekt aus dem "Pariser Leben" hebt Kraus hervor, dass die Devise eines Abenteuerlustigen "lauffeuerartig zu einem Bekenntnis der Allgemeinheit wird" - die "Summe von heiterer Unmöglichkeit" verschaffe Erholung "von den trostlosen Möglichkeiten des Lebens". Rincks Parodie setzt voraus, dass der Untergang der Menschheit im Strudel ihrer kontaminierten Abwässer sehr wohl möglich ist. Gleichfalls kein Ding der Unmöglichkeit ist das Bekenntnis der Allgemeinheit, die dieser Gefahr auf den Grund gehen will.
Das Gedicht, das dieses Spiegelverhältnis von globaler Katastrophe und globalem Protest zeigt, garantiert keinen Trost, doch es tut etwas, das Rinck in der Vorlesung einem Gedicht von Elke Erb bescheinigt: "Es erheitert." Die Kollegin zeigt, was sie kann, und ihr Können erscheint "endlich verwandelt in eine große Galoppade, die in Doppelpaaren, zu vieren in einer Reihe den großen Saal durchstürmt".
Diese Vision ist ebenfalls ein Zitat, ein mehrfach geschichtetes, sozusagen der dreifache Rittberger unter den Verweisfiguren. Auch im Gedicht "Am Abhang zelten" in "Alle Türen" zitiert Monika Rinck das Offenbach-Buch von Siegfried Kracauer, der den Musikkritiker Ludwig Rellstab zitiert. Rellstab, als Dichter der Hälfte der Vorlagen für Schuberts "Schwanengesang" in Erinnerung, verdammte den Cancan als Spektakel der Zügellosigkeit, aber Monika Rinck erkannte am Rhythmus seiner Prosa den heimlich Berauschten, so dass sie seine Worte unverändert in ihr Gedicht einbauen konnte.
Wie Offenbach montiert sie Vergessenes und Verworfenes. Was aus diesem poetischen Material entstanden ist, soll Sachbuch heißen, weil die Dichterin es den Lesern zur weiteren Bearbeitung überlässt. Wo Rellstab zurückschreckte vor Offenbachs Mänaden mit "halb entfesselt fliegendem Haar", da reißt Rinck uns mit. Zwanglos, wie sie am Ende der Vorlesung beteuert. "Das Gedicht lässt dem Leser, der Leserin alle Freiheit, es fesselt sie nicht! Das ist mir wichtig. Eher: Es entfesselt die Leserin, und den Leser dazu."
Monika Rinck: "Wirksame Fiktionen". Poetik-Vorlesung.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 102 S., geb., 18,- [Euro].
Monika Rinck: "Alle Türen". Gedichte.
Kookbooks Verlag, Berlin 2019. 120 S., br., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wir sind entfesselt: Monika Rinck erklärt ihre Poetik und dichtet in Jacques Offenbachs Manier.
Von Patrick Bahners
Einen bescheidenen Vorschlag unterbreitete Monika Rinck in ihrer Poetikvorlesung an der Universität Göttingen: Der Buchhandel möge Gedichtbände doch bitte nicht mehr hinter den Romanen einsortieren, sondern ins Sachbuchregal stellen, also dorthin, wo zwar kein zeitloser Ruhm winkt, aber der Lohn des Bestsellerautors erworben werden kann. Rinck kann vermelden, dass es diese Ordnung in der Los Angeles Public Library schon gibt. Dass Obdachlose dort ausdrücklich willkommen sind, illustriert in der Vorlesung Rincks kommunitaristische Idee des Lesens, die gerade nicht utopisch ist. Leser mögen einsam sein, aber nicht allein, kommen an Orten zusammen. "Die Anwesenheit vieler obdachloser Menschen verändert freilich die Atmosphäre in der Bibliothek, man könnte sagen: sie wird realistischer." Rinck sieht die Welthaltigkeit des Gedichts dadurch verbürgt, dass es sich nicht von selbst versteht, sondern der Deutung bedarf. Sie belegt die These mit einigen Interpretationen. Auch ein eigenes Gedicht traktiert sie, aus dem jüngsten Band "Alle Türen".
Wie wirbt sie in dieser Sammlung für ihr gattungspolitisches Postulat, die Dichter mit einem Begriff von Robert Gernhardt unter die Ernstmacher aufzunehmen? Indem sie ihr Metier schon in der Ouvertüre, dem Gedicht "Die reine Affirmation", und dann durchgängig mit dem schlechthin albernen und halbseidenen Genre der darstellenden Künste vergleicht, mit der Operette. "Auf die Bühne öffnen sich mit Kawatz acht Doppeltüren, / durch die ein Wirbel hereinstürmt, es ist das Ensemble." Das Bild des Bandtitels wird illustriert mit dem kurzfristigen Effekt technischer Meisterschaft: Gleichklang ist Überwältigung und Routine.
"Dass Operettenverschwörer singen, ist plausibel." Dieser Vers, kursiv gesetzt, ist ein Zitat, und anders als bei den meisten weiteren Stellen, die Rinck irgendwo herauskopiert und in ihre Gedichte eingeklebt hat, wird der Urheber im Text genannt: Karl Kraus. Die Zitate sind selbst wie Türen, die den Blick in literarische Parallelwelten freigeben. Der Witz des Satzes von Kraus liegt in der Erkenntnis, dass die Absurdität der Konvention ihre eigene Glaubwürdigkeit produziert. Alles, was in Operettenhandlungen passiert, ist unplausibel, und deshalb ist es plausibel, dass Operettenverschwörer etwas für das Gelingen ihrer konspirativen Pläne Unpraktisches tun, nämlich singen.
In der Vorlesung bemerkt Rinck über Wendy Treviso, von der sie ein Sonett mit dem Titelvers "A border, like race, is a cruel fiction" vorstellt, dass in den Gedichten ihrer aus Texas gebürtigen Kollegin für sie gerade die Lücken informativ gewesen seien. Namen, die sie nicht kannte, Stichworte, die ihr dunkel blieben - "ich schlug alles nach oder gab es ein ins Netz". Auch der Leser von "Alle Türen" wird sich dem Reiz des Nachschlagens hingeben. Im Aufsatz "Grimassen über Kultur und Bühne" von Karl Kraus findet man im Anschluss an die Beschwörung der singenden Verschwörer die Sentenz: "Der Gedanke der Operette ist Rausch, aus dem Gedanken geboren werden; die Nüchternheit geht leer aus."
Das taugt als Devise der Poetik Monika Rincks. Ihre Phantasie ist halluzinatorisch. Die Gedanken zu den philosophischen oder politischen Sachen sind Produkte von Assoziationen, die sich typischerweise aus dem Wortklang ergeben. Auch Wörter, die sich als Homonyme darstellen, wenn man sie lallend ausspricht oder ein paar Buchstaben verdreht, funktionieren wie Türen. Die schönsten Pointen stammen aus dem Wortspielhimmel. Das über das Kraus-Zitat versteckt eingeführte Thema des Rauschs wird explizit im vierten Gedicht, wo Rinck aus "der ersten Haschisch-Interpretation" Walter Benjamins die "große Empfindlichkeit gegen offene Türen" zitiert.
Der längste Abschnitt des Bandes trägt den Titel "Das Prinzip der Operette und seine Grenzen" und bietet im ersten Gedicht das urkomische Resümee einer idealtypischen Opéra bouffe von Jacques Offenbach, ein Pastiche des Gesamtwerks des Kölner Meisters, pünktlich zu seinem zweihundertsten Geburtstag. In der ersten Szene des zweiten Aktes "versammeln sich" die Mitwirkenden, "die Lyriklobby mit Broschüren" eingeschlossen, "am Strand vor Santa Monica Pier und kreisen Drogen". Die Autorin hat in Kalifornien an diesem Buch gearbeitet. Selbstheiligsprechung ist ein klassischer Effekt des Drogenkonsums, aber die berauschende Wirkung von Lyrikbroschüren kann der Leser von "Alle Türen" bestätigen.
Doch wie ist es um die Sachhaltigkeit der Lesefrüchte aus dem künstlichen Paradies bestellt? Gegen Käte Hamburger besteht Rinck in der Vorlesung darauf, dass "die verifizierende Prüfung des Gedichts zu seiner ästhetischen Qualität" gehöre. "Der große Plastikstrudel" behandelt ein Thema von weltumspannender Dringlichkeit, die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts der Meere. Hier bewährt sich eine Lehre, die Rinck in der Vorlesung anhand eines Gedichts des syrisch-palästinensischen Lyrikers Ramy Al-Asheq entwickelt, der seit 2015 in Deutschland lebt. "Was das Material angeht: Weg mit der falschen Anschaulichkeit, der gut gebauten Struktur, der Erwartbarkeit, der Indienstnahme von symbolischen nature-mortalen Details zur verschwiegenen Bestätigung des Vorgewussten."
Beim Thema der Vermüllung der Ozeane hätte das Motiv der toten Natur unwiderstehlich sein müssen, der Horror der Monstren, die sich den Plastikschrott einverleibt haben. Die Dichterin aber setzt sich selbst in Szene, als kritische Medienkonsumentin, die "erstmal sehen" will, was los ist. "Verwegen wie ich bin - stürz ich mich in den Strudel, / Strudel rein! Ich stürz mich, ruf ich, in den Strudel, Strudel rein!, / der wie eine Krankheit zwei Welten miteinander verbindet." Und schon haben wir uns in das Publikum einer Operette verwandelt, denn sofort folgt der Einsatz des Chores. "Tutti: Sie stürzt sich in den Strudel, Strudel rein!"
Hier handelt es sich um ein weiteres, diesmal verdecktes Zitat aus dem Offenbach-Aufsatz von Kraus. An diesem Echoeffekt aus dem "Pariser Leben" hebt Kraus hervor, dass die Devise eines Abenteuerlustigen "lauffeuerartig zu einem Bekenntnis der Allgemeinheit wird" - die "Summe von heiterer Unmöglichkeit" verschaffe Erholung "von den trostlosen Möglichkeiten des Lebens". Rincks Parodie setzt voraus, dass der Untergang der Menschheit im Strudel ihrer kontaminierten Abwässer sehr wohl möglich ist. Gleichfalls kein Ding der Unmöglichkeit ist das Bekenntnis der Allgemeinheit, die dieser Gefahr auf den Grund gehen will.
Das Gedicht, das dieses Spiegelverhältnis von globaler Katastrophe und globalem Protest zeigt, garantiert keinen Trost, doch es tut etwas, das Rinck in der Vorlesung einem Gedicht von Elke Erb bescheinigt: "Es erheitert." Die Kollegin zeigt, was sie kann, und ihr Können erscheint "endlich verwandelt in eine große Galoppade, die in Doppelpaaren, zu vieren in einer Reihe den großen Saal durchstürmt".
Diese Vision ist ebenfalls ein Zitat, ein mehrfach geschichtetes, sozusagen der dreifache Rittberger unter den Verweisfiguren. Auch im Gedicht "Am Abhang zelten" in "Alle Türen" zitiert Monika Rinck das Offenbach-Buch von Siegfried Kracauer, der den Musikkritiker Ludwig Rellstab zitiert. Rellstab, als Dichter der Hälfte der Vorlagen für Schuberts "Schwanengesang" in Erinnerung, verdammte den Cancan als Spektakel der Zügellosigkeit, aber Monika Rinck erkannte am Rhythmus seiner Prosa den heimlich Berauschten, so dass sie seine Worte unverändert in ihr Gedicht einbauen konnte.
Wie Offenbach montiert sie Vergessenes und Verworfenes. Was aus diesem poetischen Material entstanden ist, soll Sachbuch heißen, weil die Dichterin es den Lesern zur weiteren Bearbeitung überlässt. Wo Rellstab zurückschreckte vor Offenbachs Mänaden mit "halb entfesselt fliegendem Haar", da reißt Rinck uns mit. Zwanglos, wie sie am Ende der Vorlesung beteuert. "Das Gedicht lässt dem Leser, der Leserin alle Freiheit, es fesselt sie nicht! Das ist mir wichtig. Eher: Es entfesselt die Leserin, und den Leser dazu."
Monika Rinck: "Wirksame Fiktionen". Poetik-Vorlesung.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 102 S., geb., 18,- [Euro].
Monika Rinck: "Alle Türen". Gedichte.
Kookbooks Verlag, Berlin 2019. 120 S., br., 19,90 [Euro].
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