Produktdetails
- Verlag: Lenos
- ISBN-13: 9783857876738
- Artikelnr.: 11339936
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2001Wo Deutschland ganz fern ist
Annemarie Schwarzenbachs Flucht nach Afghanistan
"Zu Tische die liebe und schöne A. M. Schwarzenbach", heißt es im Februar 1936 im unverkennbaren Ton seiner Tagebücher. Wer andere Einträge über Tischgäste im Hause Mann kennt, weiß dieses Lob zu würdigen. Thomas Mann hatte ein Faible für die junge, knabenhafte Frau, und das nicht bloß, weil Annemarie Schwarzenbach mit Klaus und Erika befreundet war. Andere Notizen verraten, daß er auch um ihre persönlichen Probleme wußte. "Lieb und morphinistisch", heißt es einmal lapidar.
Annemarie Schwarzenbach, Tochter aus einer Züricher Industriellenfamilie, stand damals in ihren Zwanzigern. Sie war promovierte Historikerin und arbeitete als freie Autorin und Journalistin. Eines Beitrags in Klaus Manns "Sammlung" wegen konnte sie Deutschland nicht mehr betreten. Zwischen 1936 und 1938 schrieb sie intensiv an ihren Reisereportagen und geriet in einen Kreislauf von nervöser Erschöpfung und Drogenabhängigkeit. Häufig mußte sie Kliniken zu Entziehungskuren aufsuchen, allein viermal zwischen März 1938 und Februar 1939. Die Enttäuschung über die politische Entwicklung Europas dürfte ihr Drogenproblem verschärft haben.
Als Ausweg bot sich eine neue Reise an, die Flucht als Chance zu einem neuen Lebensanfang. Der Zufall bescherte Annemarie die passende Partnerin, die fünf Jahre ältere Genfer Reiseschriftstellerin Ella Maillart. Als Ziel wählten sie Afghanistan, das Ella Maillart bereits 1937 mit dem Bus bereist hatte. Daß Annemaries Vater einen Ford stiftete, der für die kommenden Strapazen präpariert wurde, gab den Ausschlag zugunsten des Unternehmens. Schreibmaschinen, Fotoapparate und eine Filmkamera wurden eingepackt, ein Diplomatenpaß sollte sich als hilfreich erweisen.
In Genf brachen sie am 6. Juni 1939 auf. Ende Juli überschritten sie die persisch-afghanische Grenze und gelangten über die beschwerliche Nordroute Ende August nach Kabul. Der Kriegsausbruch brachte organisatorische Probleme, er muß Annemarie aber auch psychisch getroffen haben. Mit den Depressionen kam der Rückfall in die Droge. Die Gefährtin empfand ihn als Bruch eines Paktes, im Oktober 1939 trennten sie sich. Annemarie Schwarzenbach bestieg im Januar 1940 in Bombay ein Schiff, das sie nach Europa zurückbrachte. An Bord setzte sie die publizistische Auswertung der abgebrochenen Reise fort.
"Alle Wege sind offen" ist der Titel einer Auswahl aus den etwa achtzig Artikeln und Fotoreportagen, die im Zusammenhang mit der Afghanistanreise entstanden. Der Band ist Teil einer Werkausgabe: Voraus gingen zwei Bände Reportagen aus Europa und den Vereinigten Staaten, einer davon unter dem Titel "Auf der Schattenseite". Die Feuilletons aus Afghanistan tragen zu Recht ihren optimistischen Obertitel. Sie atmen das Gefühl von abenteuerlicher Freiheit und halten eine schöne Mitte zwischen Stimmungsmalerei und Sachlichkeit.
Poetisch sind einige Landschaftsschilderungen, etwa die des Berges Ararat, die auf Schwarzenbachs Prosagedichte vorausweisen. Detailgenau sind die Schilderungen der Gesellschaft und der familiären Verhältnisse. Die überwältigende Gastfreundschaft, die die beiden Frauen erfuhren, war die Chance, aber auch die Grenze ihrer Erfahrungen. Annemarie Schwarzenbach entging nicht die trostlose Existenz der Frauen unter dem Tschador. "Sie wissen gar nicht, daß man anders leben kann", resümiert sie und plädiert für Aufklärung und Emanzipation: "Es genügt, die dumpfe Knechtschaft von nahem gesehen zu haben, die aus Gottes Geschöpfen freudlose, angsterfüllte Wesen macht - und man wird die Entmutigung abschütteln wie einen bösen Traum und wieder der Vernunft das Wort reden, die uns auffordert, an die schlichten Ziele eines menschenwürdigen Daseins zu glauben und sich dafür einzusetzen."
Man meint, den geborgten Mut herauszuhören, aber die emanzipierte Journalistin zeigt durchaus ein Gespür für die Dialektik des Fortschritts: "Wohin man sich wendet, der Fortschritt ist unterwegs, Organisation ist notwendig, der Staat wird allgewaltig, man lernt lesen und schreiben, erhält Bürgerrechte, zahlt Steuern, tut Militärdienst, baut Straßen und stellt Kanonen auf." Als Annemarie Schwarzenbach dies schrieb, sprachen die Kanonen in Europa ihre Sprache. Daß alle Wege offen sein könnten, erwies sich als Illusion. Zum Glück gab es für die "unheilbare Reisende", als die sie sich bezeichnete, den Rückweg in die Schweiz und das Schreiben als Passion. Der hochbegabten und früh verstorbenen Autorin - Annemarie Schwarzenbach starb 1942, erst vierunddreißigjährig - verdanken wir diese lebensvollen Aufzeichnungen aus einem längst versunkenen Orient.
HARALD HARTUNG
Annemarie Schwarzenbach: "Alle Wege sind offen. Die Reise nach Afghanistan 1939/40". Ausgewählte Texte. Mit einem Essay von Roger Perret. Lenos Verlag, Basel 2000. 172 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Annemarie Schwarzenbachs Flucht nach Afghanistan
"Zu Tische die liebe und schöne A. M. Schwarzenbach", heißt es im Februar 1936 im unverkennbaren Ton seiner Tagebücher. Wer andere Einträge über Tischgäste im Hause Mann kennt, weiß dieses Lob zu würdigen. Thomas Mann hatte ein Faible für die junge, knabenhafte Frau, und das nicht bloß, weil Annemarie Schwarzenbach mit Klaus und Erika befreundet war. Andere Notizen verraten, daß er auch um ihre persönlichen Probleme wußte. "Lieb und morphinistisch", heißt es einmal lapidar.
Annemarie Schwarzenbach, Tochter aus einer Züricher Industriellenfamilie, stand damals in ihren Zwanzigern. Sie war promovierte Historikerin und arbeitete als freie Autorin und Journalistin. Eines Beitrags in Klaus Manns "Sammlung" wegen konnte sie Deutschland nicht mehr betreten. Zwischen 1936 und 1938 schrieb sie intensiv an ihren Reisereportagen und geriet in einen Kreislauf von nervöser Erschöpfung und Drogenabhängigkeit. Häufig mußte sie Kliniken zu Entziehungskuren aufsuchen, allein viermal zwischen März 1938 und Februar 1939. Die Enttäuschung über die politische Entwicklung Europas dürfte ihr Drogenproblem verschärft haben.
Als Ausweg bot sich eine neue Reise an, die Flucht als Chance zu einem neuen Lebensanfang. Der Zufall bescherte Annemarie die passende Partnerin, die fünf Jahre ältere Genfer Reiseschriftstellerin Ella Maillart. Als Ziel wählten sie Afghanistan, das Ella Maillart bereits 1937 mit dem Bus bereist hatte. Daß Annemaries Vater einen Ford stiftete, der für die kommenden Strapazen präpariert wurde, gab den Ausschlag zugunsten des Unternehmens. Schreibmaschinen, Fotoapparate und eine Filmkamera wurden eingepackt, ein Diplomatenpaß sollte sich als hilfreich erweisen.
In Genf brachen sie am 6. Juni 1939 auf. Ende Juli überschritten sie die persisch-afghanische Grenze und gelangten über die beschwerliche Nordroute Ende August nach Kabul. Der Kriegsausbruch brachte organisatorische Probleme, er muß Annemarie aber auch psychisch getroffen haben. Mit den Depressionen kam der Rückfall in die Droge. Die Gefährtin empfand ihn als Bruch eines Paktes, im Oktober 1939 trennten sie sich. Annemarie Schwarzenbach bestieg im Januar 1940 in Bombay ein Schiff, das sie nach Europa zurückbrachte. An Bord setzte sie die publizistische Auswertung der abgebrochenen Reise fort.
"Alle Wege sind offen" ist der Titel einer Auswahl aus den etwa achtzig Artikeln und Fotoreportagen, die im Zusammenhang mit der Afghanistanreise entstanden. Der Band ist Teil einer Werkausgabe: Voraus gingen zwei Bände Reportagen aus Europa und den Vereinigten Staaten, einer davon unter dem Titel "Auf der Schattenseite". Die Feuilletons aus Afghanistan tragen zu Recht ihren optimistischen Obertitel. Sie atmen das Gefühl von abenteuerlicher Freiheit und halten eine schöne Mitte zwischen Stimmungsmalerei und Sachlichkeit.
Poetisch sind einige Landschaftsschilderungen, etwa die des Berges Ararat, die auf Schwarzenbachs Prosagedichte vorausweisen. Detailgenau sind die Schilderungen der Gesellschaft und der familiären Verhältnisse. Die überwältigende Gastfreundschaft, die die beiden Frauen erfuhren, war die Chance, aber auch die Grenze ihrer Erfahrungen. Annemarie Schwarzenbach entging nicht die trostlose Existenz der Frauen unter dem Tschador. "Sie wissen gar nicht, daß man anders leben kann", resümiert sie und plädiert für Aufklärung und Emanzipation: "Es genügt, die dumpfe Knechtschaft von nahem gesehen zu haben, die aus Gottes Geschöpfen freudlose, angsterfüllte Wesen macht - und man wird die Entmutigung abschütteln wie einen bösen Traum und wieder der Vernunft das Wort reden, die uns auffordert, an die schlichten Ziele eines menschenwürdigen Daseins zu glauben und sich dafür einzusetzen."
Man meint, den geborgten Mut herauszuhören, aber die emanzipierte Journalistin zeigt durchaus ein Gespür für die Dialektik des Fortschritts: "Wohin man sich wendet, der Fortschritt ist unterwegs, Organisation ist notwendig, der Staat wird allgewaltig, man lernt lesen und schreiben, erhält Bürgerrechte, zahlt Steuern, tut Militärdienst, baut Straßen und stellt Kanonen auf." Als Annemarie Schwarzenbach dies schrieb, sprachen die Kanonen in Europa ihre Sprache. Daß alle Wege offen sein könnten, erwies sich als Illusion. Zum Glück gab es für die "unheilbare Reisende", als die sie sich bezeichnete, den Rückweg in die Schweiz und das Schreiben als Passion. Der hochbegabten und früh verstorbenen Autorin - Annemarie Schwarzenbach starb 1942, erst vierunddreißigjährig - verdanken wir diese lebensvollen Aufzeichnungen aus einem längst versunkenen Orient.
HARALD HARTUNG
Annemarie Schwarzenbach: "Alle Wege sind offen. Die Reise nach Afghanistan 1939/40". Ausgewählte Texte. Mit einem Essay von Roger Perret. Lenos Verlag, Basel 2000. 172 S., geb., 36,- DM.
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