Botho Strauß ist einer der eigensinnigsten und deshalb prägendsten Schriftsteller der deutschen Literatur. Er hat sich dem Gängigen stets widersetzt und ist dabei der genaueste Beobachter unserer Gesellschaft geworden. Sebastian Kleinschmidt, langjähriger Leiter der Literaturzeitschrift "Sinn und Form", hat ein überraschendes Buch zusammengestellt, das den Geist des Autors, die Art seines Denkens und Fühlens, seine Weltgestimmtheit, ja die Logik seines Herzens umfassend repräsentiert: Freiheit und Geschichte, Mann und Frau, die Menge, das Haus und die Stille. Und besonders die Zuwendung zu Natur und Landschaft eröffnet einen ganz anderen Weg zu einem Werk, das einzig dasteht in der Gegenwart Deutschlands.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2014Ich war zum Vorwärtsblicken unterwegs
Erst im Rückgriff auf die eigenen frühen Jahre zeigt sich die Konsequenz, mit der Botho Strauß seinen Weg ging und seine Bücher geschrieben hat. In "Herkunft" legt er Rechenschaft darüber ab, sein Gedankenbuch "Allein mit allen" zeichnet das geistige Antlitz dieses einzigartigen Autors.
Von Hubert Spiegel
Der Mann, von dem die literarische Welt eine autobiographische Erzählung, ein Selbstporträt im edlen Sepiaton seiner Prosa erwartet hätte, ist Botho Strauß gewiss nicht. Ein Einzelgänger, der seit zwanzig Jahren das Eremitendasein in der Uckermark dem Berliner Kulturflohzirkus vorzieht, der kaum Interviews gibt und nur alle paar Jahre in einem Essay oder Artikel erkennen lässt, dass auch ihm durchaus Profanes widerfährt, etwa eine Meinung zu haben. Als unnahbar gilt er, geradezu als geheimnisvoll, das "Orakel aus der Uckermark", wie kürzlich ein Kritiker schrieb.
Aber stimmt das überhaupt? Hat nicht Botho Strauß seit vielen Jahren in seinen Büchern immer wieder kleine Porträtsplitter seiner selbst geliefert? Es geht uns mit ihm wie mit manchem Schriftsteller aus einem früheren Jahrhundert: Wir mögen ein Dutzend Porträtgemälde von ihm haben, aber nicht ein einziges davon darf als authentisch gelten. Auf jedem Bild schaut der Dargestellte anders aus, und die Anzahl der auf allen Bildern übereinstimmenden Merkmale ist verblüffend gering.
Wie sehen sie aus, die Strauß'schen Porträtsplitter oder Splitterporträts? Wir kennen ihn als den Mann mit dem "Sternschnuppenfangkorb": "Gedanken sind Sternschnuppen, das Hirn nichts als ein Sternschnuppenfangkorb." Wir kennen ihn als Autor, der die eigene Tätigkeit mit der eines "Handzettelverteilers in der Antarktis" vergleicht, und - mit noch größerer Demut - als nachgeborenen Putzerfisch und Lückenspringer, der geduldig auf seine Stunde wartet: "Ich fülle nur die kleinen Lücken, die meine Lieblingsautoren in ihren Büchern ließen. Was ich schreibe, hätten auch sie noch schreiben können. Dann und wann haben sie einen verspäteten Einfall - dafür gibt es mich."
Botho Strauß ist der mönchsgleiche "Schriftfortsetzer" und der "Endlos-Ermittler in der Sprache", er ist der "Untenstehende auf Zehenspitzen", der alles und jeden abweisende Bewohner der "Festung der Feinheiten" und zugleich die omnipermeable Membran unserer Gegenwart. Er ist "ein fleißiger Adnoten-Schreiber" und ein mäusekleiner Vertreter der Spezies der "Randläufer". Das ist "jenes schillernde Autor-Insekt, das links und rechts der Buchseiten auf dem Weißen krabbelt und dort, was es von den Texten verzehrt und verdaut hat, prompt in schriftlichen Absonderungen hinterlässt. Sein Organismus ist kommentatorischer Art, und er kann sich nur auf diesen schmalen Rändern der Welt erhalten".
Dieser Schriftsteller ist ein Flüchtender aus den "Provinzen der Dummheit", als deren größte ihm die Fühllosigkeit erscheint, und er ist ein Hypoleptiker, ein Anknüpfer: "Als Autor von Sätzen bleibt mir keine Wahl - ich muss hypoleptisch, d. i. anknüpfend sein. Episch wäre ich ein Experimentierer gewesen. Anknüpfen aber war mein Handwerk." Aber ist das wirklich ein Beruf, Anknüpfer?
Als im Jahr 2004 "Der Untenstehende auf Zehenspitzen" erschien, wurde die Frage nach der Profession ganz anders beantwortet: "Dein Beruf? Kaum mehr, als deine Kindheit gegen ein würdeloses Erwachsenenleben zu verteidigen." Kaum jemand dürfte damals hinter diesen Zeilen ein echtes Bekenntnis vermutet haben. Was wusste man schon über die Kindheit von Botho Strauß? Was musste da verteidigt werden? Geboren am 2. Dezember 1944 in Naumburg an der Saale, also im Süden von Sachsen-Anhalt, Schulbesuch in Remscheid und Bad Ems, danach einige Semester Germanistik, Soziologie und Theatergeschichte in Köln und München. Nach dem Abbruch des Studiums war er drei Jahre lang Redakteur der Zeitschrift "Theater heute", im Anschluss fünf Jahre Dramaturg an der Berliner Schaubühne. Was danach folgte, ist Theatergeschichte, Literaturgeschichte.
Jetzt hat Botho Strauß ein Buch über seine Kindheit und Jugend geschrieben, das alle bisherigen Porträtsplitter, die wir von diesem Dichter kennen, in sich birgt und sie alle überstrahlt. Es zeigt den Dichter als Kind, als Heranwachsenden, als Suchenden, gegen den Vater Aufbegehrenden, als jungen Stutzer im Glencheckanzug, als Bildungshungrigen, als Leser von "Bravo" und "Sigurd", als Operngänger und Fernsehgucker. Vor allem aber zeigt "Herkunft" Botho Strauß als zarten Schatzgräber seiner Erinnerungen. Es ist ein kleines, ein schmales Buch, und es ist ein großes Buch, weil Botho Strauß darin nicht nur von seiner eigenen Kindheit erzählt, sondern das Erinnern schlechthin behandelt, indem er zeigt, dass es uns Menschen so nötig und unentbehrlich ist wie Nahrung, Liebe, Schlaf. Erinnern, so wie Botho Strauß es versteht, ist Anknüpfen an sich selbst. Wer sich nicht zu erinnern vermag, ist dem Stand-by-Modus schierer Gegenwart schutzlos ausgeliefert.
Es beginnt mit dem Vater. Der sitzt am Schreibtisch. Schon über sechzig damals, einer, der sich als gescheitert empfinden muss, keiner, den das Leben verwöhnt hätte. Vor dem Krieg war er Mitinhaber eines kleinen pharmazeutischen Unternehmens, Apotheker und promovierter Chemiker. Dann Enteignung, Gefängnishaft, Flucht in den Westen, erst nach Remscheid, dann der Neubeginn in Bad Ems. Hier schreibt der Vater Gutachten am häuslichen Schreibtisch und entwickelt eigene Rezepturen und Präparate, die er an Arzneimittelfirmen verkauft. Viel kommt dabei nicht heraus. Im Krieg hatte er als Soldat ein Auge verloren. Das Projektil, das damals in den Schädel drang, stand in den letzten Lebensjahren vor dem Vater auf der Schreibtischplatte, eingelassen in einen Achat, ein Geschenk der Mutter.
Welche Folgen hat ein Makel, ein Gebrechen, eine Verwundung des Vaters für den Sohn? "Manchmal erwache ich nachts mit der Fingerspitze an seinem Augenloch und berühre die Wunde des Ersten Weltkriegs in seinem Gesicht. Wieviel Zeit von ihm zu mir! Was war, Geschichte, strömt durch die Fingerspitze im Traum. Geboren wurde ich unter einem lachenden und einem leblosen, zerschossenen Auge. Woher sollte mir je Symmetrie und Gleichgewicht zu Hilfe kommen?"
Wie Goethe zu Beginn von "Dichtung und Wahrheit" die "glückliche" Konstellation der Planeten in der Stunde seiner Geburt beschreibt, so setzt Botho Strauß hier die Augen des Vaters, das lachende und das leblose, als dominierende Gestirne ans Firmament. Als prägend wird auch der Habitus des Vaters beschrieben. Kein Tag, den er ohne Anzug, Strumpfhalter und Krawattennadel am Schreibtisch verbracht hätte: "Die Morgentoilette war das unverzichtbare Zeremoniell einer häuslich-heroischen Selbstbehauptung." Der Sohn hätte es gern schlichter gehabt, normaler. Dass der Vater sich abheben will von seinem wenig großbürgerlichen Umfeld, ist ihm peinlich.
Sein einziges Buch, Titel: "Nicht so früh sterben", erschien 1941 im Leipziger Pan-Verlag und ist noch heute unter den Suchbegriffen Medizin, Esoterik oder Psychologie in Online-Antiquariaten zu finden. Außerdem war Eduard Strauß Herausgeber und einziger Autor einer kritisch-satirischen Monatsschrift, die erst "Der Kompass", später "Enthüllungen" hieß und von der Mutter eingetütet, frankiert und an eine schwindende Leserzahl verschickt wurde. "Er las mir hin und wieder etwas daraus vor und musste ertragen, dass ich mich von seinen reaktionären Bosheiten abgestoßen fühlte."
Der Vater, der den Sohn "zum Leser erzogen" hatte, wird nie zum Gesprächspartner in literarischen Dingen. Vielleicht ist der Altersunterschied zu groß: Eduard Strauß war 54 Jahre alt, als sein einziger Sohn geboren wurde. Als der Vater 1971 mit 81 Jahren starb, war der Sohn 31 und gerade auf wichtiger Mission: "Ich war zum Vorwärtsblicken unterwegs, und die Trauer beugte mich nicht." Wie stark der Vater in der Vergangenheit verwurzelt ist, ahnt der Sohn nicht. Er weiß überhaupt noch nichts von Wurzeln und den gewaltigen Kräften, mit denen sie ihn später in seine Vergangenheitshöhlen zurückziehen werden wie ein Tier in seinen Bau.
Die Gegenwart des Textes ist im Jahr 1990 angesiedelt, sein äußerer Anlass ist einerseits der hundertste Geburtstag des Vaters, andererseits zieht die Mutter in ein Pflegeheim, und die Auflösung des Haushaltes Strauß, Römerstraße 18 in Bad Ems an der Lahn, steht bevor. Was nun geschieht, ist pure Erinnerungsmagie, sentimentale Verklärung, der Blick in die blaue Magierkugel der eigenen Frühe, aber auch unbarmherziges Wiederaufspüren prägender Momente. Der Vater wird dabei angerufen, als wäre er ein Mnemosynos, ein einäugiger Titan des Gedächtnisses: "Du einzige Quelle meiner Erinnerung! Nie hätte ich mich irgendeines Geschehens erinnert ohne deine Schule der Erinnerung. Alles, was war, wurde überhaupt Gewesenes durch dich." Der hohe Ton wird indes gern und oft gebrochen: "Es gab keine selige Kindheit", heißt es dann lapidar, und wenig später stellt sich heraus, dass die Griechischkenntnisse des Botho Strauß Folge einer simplen Bestechung sind: Für den Besuch des freiwilligen Griechischunterrichts erhielt der Gymnasiast vom Vater "pro Doppelstunde zehn D-Mark".
Bildungserlebnisse unterschiedlichster Art. Zwei Seiten mit Erinnerungen an Theater- und Fernseherlebnisse, von Rudolf Prack und Elisabeth Flickenschildt bis Vico Torriani. Erste Küsse, wenig später schon die "Geliebte in Sartre". Mit siebzehn Celan-Lektüre: ",Sprachgitter', dahinter gefangen seither und nie wieder in Freiheit gelangt." Und drei Jahre zuvor: die ersten eigenen literarischen Anfänge, festgehalten in einer Kladde aus dem Sommer 1959. Der Roman des Vierzehnjährigen sollte von einem geheimnisvollen Fährmann handeln, von Weltflucht und Entlegenheit: "Verständlich, dass er schließlich auf unzähligen Umwegen zum lebensbestimmenden Fergen aufstieg und seinen Fähr-Gast über Tausende von Seiten, diesen dunklen nordischen See einer unvollendbaren Schrift, übersetzt bis zum heutigen Tag." Botho Strauß, der Dichter der Brüche, Splitter, Digressionen, hüllt sich in den wärmenden Mantel der Kontinuität. Aber was sollte daran falsch sein? "Nichts aus einem Guß dort, woher ich komme", heißt es einmal, als die Legierungen der Jugend beschrieben werden: "Neben Zorros schwarzer Peitsche liegt die Kritik der Urteilskraft".
Ein Jahr nach dem Tod des Vaters erscheint das erste Theaterstück des Sohnes: "Die Hypochonder". Fünf Jahre später, 1977, folgt die Erzählung "Die Widmung". Marcel Reich-Ranicki schrieb damals in dieser Zeitung: "Dieser Mann ist eine große Hoffnung unserer Literatur. Vielleicht wird von ihm der Roman seiner Generation kommen."
Sieben Jahre später, 1984, erscheint "Der junge Mann", der erste Roman von Botho Strauß, und wird von Reich-Ranicki unbarmherzig verrissen. Von einem "Scherbenhaufen" ist die Rede, und zuletzt heißt es: "Er kann mitteilen, aber nicht darstellen, formulieren, aber nicht evozieren. Mit anderen Worten: Er kann schreiben, aber nicht erzählen."
Ein Erzähler im Roman ist Botho Strauß nie geworden und hat es vielleicht auch nicht werden wollen. Wohl aber wurde er zu einem Erzähler vom Schlage Hebels und Kleists. In den letzten Jahren dominierte in seinem Werk die Miniatur als poetisch verdichtete Mitschrift imaginierter Wirklichkeit. Damit ist Strauß einem Ideal auf der Spur, das er selbst beschrieben hat: als Vordringen des Autors "zur reinen Gegenstandslosigkeit, zur freien themenlosen Szenerie, zur entgrenzten Impression, wie sie ihm als letzte und höchste künstlerische Ungezwungenheit vielleicht vorschwebt".
Diese Sätze stammen aus keinem der bekannten Werke von Botho Strauß. Sie gehören zu den 87 bislang unveröffentlichten Einträgen, nachzulesen in dem soeben erschienenen Band "Allein unter allen". In diesem "Gedankenbuch", das Texte, Miniaturen, Splitter und Aphorismen aus dem Strauß'schen Gesamtwerk enthält, gelingt dem Herausgeber Sebastian Kleinschmidt in wahrer Titanenarbeit der Versuch, das "geistige Antlitz" dieses Autors nicht aus dem Werk herauszumeißeln, sondern es aus dessen Splittern zusammenzufügen: Prosa-Pointillismus, thematisch geordnet in siebzehn Kapiteln von Formen, Figuren, Gesten, Verstehen, Kommunikation, Religion, Liebe und Politik bis Autorschaft, Sprache, Alter und Tod. Was auf diese Weise entstanden ist, gleicht einem Paradiesgarten der Reflexion - nach dem Sündenfall.
Kleinschmidt spricht von Strauß als dem "Meister des Gedankenfragments", dessen Tiefe nicht den Scharfsinn suche, sondern das Leben. Vielleicht ist das so, weil die Form, die wir mit diesem in der deutschen Literatur einzigartigen Dichter wie mit keinem anderen verbinden, aus dem Leben kommt. Was ihm seit jeher vorgeschwebt habe, schreibt Botho Strauß in "Herkunft", das schwebe auch heute noch: "Es sind die Prosascherben, die dem Flaschen-Bruch gleichen, den zerbrochenen Hälsen und Bäuchen auf dem Sims der Gefängnismauer in Naumburg, hinter der ich als Kind meinen Vater besuchte."
Botho Strauß: "Allein mit allen". Gedankenbuch.
Hrsg. von Sebastian Kleinschmidt. Verlag Carl Hanser, München 2014.
352 S., geb., 21,90 [Euro].
Botho Strauß: "Herkunft".
Verlag Carl Hanser, München 2014. 96 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erst im Rückgriff auf die eigenen frühen Jahre zeigt sich die Konsequenz, mit der Botho Strauß seinen Weg ging und seine Bücher geschrieben hat. In "Herkunft" legt er Rechenschaft darüber ab, sein Gedankenbuch "Allein mit allen" zeichnet das geistige Antlitz dieses einzigartigen Autors.
Von Hubert Spiegel
Der Mann, von dem die literarische Welt eine autobiographische Erzählung, ein Selbstporträt im edlen Sepiaton seiner Prosa erwartet hätte, ist Botho Strauß gewiss nicht. Ein Einzelgänger, der seit zwanzig Jahren das Eremitendasein in der Uckermark dem Berliner Kulturflohzirkus vorzieht, der kaum Interviews gibt und nur alle paar Jahre in einem Essay oder Artikel erkennen lässt, dass auch ihm durchaus Profanes widerfährt, etwa eine Meinung zu haben. Als unnahbar gilt er, geradezu als geheimnisvoll, das "Orakel aus der Uckermark", wie kürzlich ein Kritiker schrieb.
Aber stimmt das überhaupt? Hat nicht Botho Strauß seit vielen Jahren in seinen Büchern immer wieder kleine Porträtsplitter seiner selbst geliefert? Es geht uns mit ihm wie mit manchem Schriftsteller aus einem früheren Jahrhundert: Wir mögen ein Dutzend Porträtgemälde von ihm haben, aber nicht ein einziges davon darf als authentisch gelten. Auf jedem Bild schaut der Dargestellte anders aus, und die Anzahl der auf allen Bildern übereinstimmenden Merkmale ist verblüffend gering.
Wie sehen sie aus, die Strauß'schen Porträtsplitter oder Splitterporträts? Wir kennen ihn als den Mann mit dem "Sternschnuppenfangkorb": "Gedanken sind Sternschnuppen, das Hirn nichts als ein Sternschnuppenfangkorb." Wir kennen ihn als Autor, der die eigene Tätigkeit mit der eines "Handzettelverteilers in der Antarktis" vergleicht, und - mit noch größerer Demut - als nachgeborenen Putzerfisch und Lückenspringer, der geduldig auf seine Stunde wartet: "Ich fülle nur die kleinen Lücken, die meine Lieblingsautoren in ihren Büchern ließen. Was ich schreibe, hätten auch sie noch schreiben können. Dann und wann haben sie einen verspäteten Einfall - dafür gibt es mich."
Botho Strauß ist der mönchsgleiche "Schriftfortsetzer" und der "Endlos-Ermittler in der Sprache", er ist der "Untenstehende auf Zehenspitzen", der alles und jeden abweisende Bewohner der "Festung der Feinheiten" und zugleich die omnipermeable Membran unserer Gegenwart. Er ist "ein fleißiger Adnoten-Schreiber" und ein mäusekleiner Vertreter der Spezies der "Randläufer". Das ist "jenes schillernde Autor-Insekt, das links und rechts der Buchseiten auf dem Weißen krabbelt und dort, was es von den Texten verzehrt und verdaut hat, prompt in schriftlichen Absonderungen hinterlässt. Sein Organismus ist kommentatorischer Art, und er kann sich nur auf diesen schmalen Rändern der Welt erhalten".
Dieser Schriftsteller ist ein Flüchtender aus den "Provinzen der Dummheit", als deren größte ihm die Fühllosigkeit erscheint, und er ist ein Hypoleptiker, ein Anknüpfer: "Als Autor von Sätzen bleibt mir keine Wahl - ich muss hypoleptisch, d. i. anknüpfend sein. Episch wäre ich ein Experimentierer gewesen. Anknüpfen aber war mein Handwerk." Aber ist das wirklich ein Beruf, Anknüpfer?
Als im Jahr 2004 "Der Untenstehende auf Zehenspitzen" erschien, wurde die Frage nach der Profession ganz anders beantwortet: "Dein Beruf? Kaum mehr, als deine Kindheit gegen ein würdeloses Erwachsenenleben zu verteidigen." Kaum jemand dürfte damals hinter diesen Zeilen ein echtes Bekenntnis vermutet haben. Was wusste man schon über die Kindheit von Botho Strauß? Was musste da verteidigt werden? Geboren am 2. Dezember 1944 in Naumburg an der Saale, also im Süden von Sachsen-Anhalt, Schulbesuch in Remscheid und Bad Ems, danach einige Semester Germanistik, Soziologie und Theatergeschichte in Köln und München. Nach dem Abbruch des Studiums war er drei Jahre lang Redakteur der Zeitschrift "Theater heute", im Anschluss fünf Jahre Dramaturg an der Berliner Schaubühne. Was danach folgte, ist Theatergeschichte, Literaturgeschichte.
Jetzt hat Botho Strauß ein Buch über seine Kindheit und Jugend geschrieben, das alle bisherigen Porträtsplitter, die wir von diesem Dichter kennen, in sich birgt und sie alle überstrahlt. Es zeigt den Dichter als Kind, als Heranwachsenden, als Suchenden, gegen den Vater Aufbegehrenden, als jungen Stutzer im Glencheckanzug, als Bildungshungrigen, als Leser von "Bravo" und "Sigurd", als Operngänger und Fernsehgucker. Vor allem aber zeigt "Herkunft" Botho Strauß als zarten Schatzgräber seiner Erinnerungen. Es ist ein kleines, ein schmales Buch, und es ist ein großes Buch, weil Botho Strauß darin nicht nur von seiner eigenen Kindheit erzählt, sondern das Erinnern schlechthin behandelt, indem er zeigt, dass es uns Menschen so nötig und unentbehrlich ist wie Nahrung, Liebe, Schlaf. Erinnern, so wie Botho Strauß es versteht, ist Anknüpfen an sich selbst. Wer sich nicht zu erinnern vermag, ist dem Stand-by-Modus schierer Gegenwart schutzlos ausgeliefert.
Es beginnt mit dem Vater. Der sitzt am Schreibtisch. Schon über sechzig damals, einer, der sich als gescheitert empfinden muss, keiner, den das Leben verwöhnt hätte. Vor dem Krieg war er Mitinhaber eines kleinen pharmazeutischen Unternehmens, Apotheker und promovierter Chemiker. Dann Enteignung, Gefängnishaft, Flucht in den Westen, erst nach Remscheid, dann der Neubeginn in Bad Ems. Hier schreibt der Vater Gutachten am häuslichen Schreibtisch und entwickelt eigene Rezepturen und Präparate, die er an Arzneimittelfirmen verkauft. Viel kommt dabei nicht heraus. Im Krieg hatte er als Soldat ein Auge verloren. Das Projektil, das damals in den Schädel drang, stand in den letzten Lebensjahren vor dem Vater auf der Schreibtischplatte, eingelassen in einen Achat, ein Geschenk der Mutter.
Welche Folgen hat ein Makel, ein Gebrechen, eine Verwundung des Vaters für den Sohn? "Manchmal erwache ich nachts mit der Fingerspitze an seinem Augenloch und berühre die Wunde des Ersten Weltkriegs in seinem Gesicht. Wieviel Zeit von ihm zu mir! Was war, Geschichte, strömt durch die Fingerspitze im Traum. Geboren wurde ich unter einem lachenden und einem leblosen, zerschossenen Auge. Woher sollte mir je Symmetrie und Gleichgewicht zu Hilfe kommen?"
Wie Goethe zu Beginn von "Dichtung und Wahrheit" die "glückliche" Konstellation der Planeten in der Stunde seiner Geburt beschreibt, so setzt Botho Strauß hier die Augen des Vaters, das lachende und das leblose, als dominierende Gestirne ans Firmament. Als prägend wird auch der Habitus des Vaters beschrieben. Kein Tag, den er ohne Anzug, Strumpfhalter und Krawattennadel am Schreibtisch verbracht hätte: "Die Morgentoilette war das unverzichtbare Zeremoniell einer häuslich-heroischen Selbstbehauptung." Der Sohn hätte es gern schlichter gehabt, normaler. Dass der Vater sich abheben will von seinem wenig großbürgerlichen Umfeld, ist ihm peinlich.
Sein einziges Buch, Titel: "Nicht so früh sterben", erschien 1941 im Leipziger Pan-Verlag und ist noch heute unter den Suchbegriffen Medizin, Esoterik oder Psychologie in Online-Antiquariaten zu finden. Außerdem war Eduard Strauß Herausgeber und einziger Autor einer kritisch-satirischen Monatsschrift, die erst "Der Kompass", später "Enthüllungen" hieß und von der Mutter eingetütet, frankiert und an eine schwindende Leserzahl verschickt wurde. "Er las mir hin und wieder etwas daraus vor und musste ertragen, dass ich mich von seinen reaktionären Bosheiten abgestoßen fühlte."
Der Vater, der den Sohn "zum Leser erzogen" hatte, wird nie zum Gesprächspartner in literarischen Dingen. Vielleicht ist der Altersunterschied zu groß: Eduard Strauß war 54 Jahre alt, als sein einziger Sohn geboren wurde. Als der Vater 1971 mit 81 Jahren starb, war der Sohn 31 und gerade auf wichtiger Mission: "Ich war zum Vorwärtsblicken unterwegs, und die Trauer beugte mich nicht." Wie stark der Vater in der Vergangenheit verwurzelt ist, ahnt der Sohn nicht. Er weiß überhaupt noch nichts von Wurzeln und den gewaltigen Kräften, mit denen sie ihn später in seine Vergangenheitshöhlen zurückziehen werden wie ein Tier in seinen Bau.
Die Gegenwart des Textes ist im Jahr 1990 angesiedelt, sein äußerer Anlass ist einerseits der hundertste Geburtstag des Vaters, andererseits zieht die Mutter in ein Pflegeheim, und die Auflösung des Haushaltes Strauß, Römerstraße 18 in Bad Ems an der Lahn, steht bevor. Was nun geschieht, ist pure Erinnerungsmagie, sentimentale Verklärung, der Blick in die blaue Magierkugel der eigenen Frühe, aber auch unbarmherziges Wiederaufspüren prägender Momente. Der Vater wird dabei angerufen, als wäre er ein Mnemosynos, ein einäugiger Titan des Gedächtnisses: "Du einzige Quelle meiner Erinnerung! Nie hätte ich mich irgendeines Geschehens erinnert ohne deine Schule der Erinnerung. Alles, was war, wurde überhaupt Gewesenes durch dich." Der hohe Ton wird indes gern und oft gebrochen: "Es gab keine selige Kindheit", heißt es dann lapidar, und wenig später stellt sich heraus, dass die Griechischkenntnisse des Botho Strauß Folge einer simplen Bestechung sind: Für den Besuch des freiwilligen Griechischunterrichts erhielt der Gymnasiast vom Vater "pro Doppelstunde zehn D-Mark".
Bildungserlebnisse unterschiedlichster Art. Zwei Seiten mit Erinnerungen an Theater- und Fernseherlebnisse, von Rudolf Prack und Elisabeth Flickenschildt bis Vico Torriani. Erste Küsse, wenig später schon die "Geliebte in Sartre". Mit siebzehn Celan-Lektüre: ",Sprachgitter', dahinter gefangen seither und nie wieder in Freiheit gelangt." Und drei Jahre zuvor: die ersten eigenen literarischen Anfänge, festgehalten in einer Kladde aus dem Sommer 1959. Der Roman des Vierzehnjährigen sollte von einem geheimnisvollen Fährmann handeln, von Weltflucht und Entlegenheit: "Verständlich, dass er schließlich auf unzähligen Umwegen zum lebensbestimmenden Fergen aufstieg und seinen Fähr-Gast über Tausende von Seiten, diesen dunklen nordischen See einer unvollendbaren Schrift, übersetzt bis zum heutigen Tag." Botho Strauß, der Dichter der Brüche, Splitter, Digressionen, hüllt sich in den wärmenden Mantel der Kontinuität. Aber was sollte daran falsch sein? "Nichts aus einem Guß dort, woher ich komme", heißt es einmal, als die Legierungen der Jugend beschrieben werden: "Neben Zorros schwarzer Peitsche liegt die Kritik der Urteilskraft".
Ein Jahr nach dem Tod des Vaters erscheint das erste Theaterstück des Sohnes: "Die Hypochonder". Fünf Jahre später, 1977, folgt die Erzählung "Die Widmung". Marcel Reich-Ranicki schrieb damals in dieser Zeitung: "Dieser Mann ist eine große Hoffnung unserer Literatur. Vielleicht wird von ihm der Roman seiner Generation kommen."
Sieben Jahre später, 1984, erscheint "Der junge Mann", der erste Roman von Botho Strauß, und wird von Reich-Ranicki unbarmherzig verrissen. Von einem "Scherbenhaufen" ist die Rede, und zuletzt heißt es: "Er kann mitteilen, aber nicht darstellen, formulieren, aber nicht evozieren. Mit anderen Worten: Er kann schreiben, aber nicht erzählen."
Ein Erzähler im Roman ist Botho Strauß nie geworden und hat es vielleicht auch nicht werden wollen. Wohl aber wurde er zu einem Erzähler vom Schlage Hebels und Kleists. In den letzten Jahren dominierte in seinem Werk die Miniatur als poetisch verdichtete Mitschrift imaginierter Wirklichkeit. Damit ist Strauß einem Ideal auf der Spur, das er selbst beschrieben hat: als Vordringen des Autors "zur reinen Gegenstandslosigkeit, zur freien themenlosen Szenerie, zur entgrenzten Impression, wie sie ihm als letzte und höchste künstlerische Ungezwungenheit vielleicht vorschwebt".
Diese Sätze stammen aus keinem der bekannten Werke von Botho Strauß. Sie gehören zu den 87 bislang unveröffentlichten Einträgen, nachzulesen in dem soeben erschienenen Band "Allein unter allen". In diesem "Gedankenbuch", das Texte, Miniaturen, Splitter und Aphorismen aus dem Strauß'schen Gesamtwerk enthält, gelingt dem Herausgeber Sebastian Kleinschmidt in wahrer Titanenarbeit der Versuch, das "geistige Antlitz" dieses Autors nicht aus dem Werk herauszumeißeln, sondern es aus dessen Splittern zusammenzufügen: Prosa-Pointillismus, thematisch geordnet in siebzehn Kapiteln von Formen, Figuren, Gesten, Verstehen, Kommunikation, Religion, Liebe und Politik bis Autorschaft, Sprache, Alter und Tod. Was auf diese Weise entstanden ist, gleicht einem Paradiesgarten der Reflexion - nach dem Sündenfall.
Kleinschmidt spricht von Strauß als dem "Meister des Gedankenfragments", dessen Tiefe nicht den Scharfsinn suche, sondern das Leben. Vielleicht ist das so, weil die Form, die wir mit diesem in der deutschen Literatur einzigartigen Dichter wie mit keinem anderen verbinden, aus dem Leben kommt. Was ihm seit jeher vorgeschwebt habe, schreibt Botho Strauß in "Herkunft", das schwebe auch heute noch: "Es sind die Prosascherben, die dem Flaschen-Bruch gleichen, den zerbrochenen Hälsen und Bäuchen auf dem Sims der Gefängnismauer in Naumburg, hinter der ich als Kind meinen Vater besuchte."
Botho Strauß: "Allein mit allen". Gedankenbuch.
Hrsg. von Sebastian Kleinschmidt. Verlag Carl Hanser, München 2014.
352 S., geb., 21,90 [Euro].
Botho Strauß: "Herkunft".
Verlag Carl Hanser, München 2014. 96 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Der Band gehört zu den anregendsten, tiefsinnigsten, sperrigsten, stilistisch vollkommensten Büchern der letzten Jahre. Jedes weniger enthusiastische Urteil wäre ein unverschämtes Fehlurteil." Alexander Cammann, Die Zeit, 11.12.14
"Man blättert darin, bleibt hängen, gerät in Sinnieren - und liest weiter in den Gedankensplittern, ohne dass man zu sagen wüsste, ob die sprachliche Musikalität oder die gedankliche Eleganz hinreissender sei. Gleichgültig: selten haben Melancholie und sanfte Misanthropie ein so heiteres und freundliches Gesicht gezeigt." Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 29.11.14
"Eine große Leseerfahrung." Wolfgang Schneider, Der Tagesspiegel, 21.10.14
"Der Büchner-Preisträger hat die gesellschaftliche Gegenwart und ihre Widersprüche nach wie vor im Blick." Alexander Altmann, Nürnberger Nachrichten, 29.11.14
"Man blättert darin, bleibt hängen, gerät in Sinnieren - und liest weiter in den Gedankensplittern, ohne dass man zu sagen wüsste, ob die sprachliche Musikalität oder die gedankliche Eleganz hinreissender sei. Gleichgültig: selten haben Melancholie und sanfte Misanthropie ein so heiteres und freundliches Gesicht gezeigt." Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 29.11.14
"Eine große Leseerfahrung." Wolfgang Schneider, Der Tagesspiegel, 21.10.14
"Der Büchner-Preisträger hat die gesellschaftliche Gegenwart und ihre Widersprüche nach wie vor im Blick." Alexander Altmann, Nürnberger Nachrichten, 29.11.14