Halb wahr, halb erfunden: Isabel Allende besichtigt ihre Heimat
Nach vielen in zahlreichen Ländern gut verkauften Romanen, von denen allerdings nur der erste, "Das Geisterhaus", ein literarisches Meisterwerk ist, veröffentlicht Isabel Allende jetzt ein Buch über ihr Land Chile. Ob Chile nun ihre Heimat ist, fragt sich die als Tochter eines Diplomaten im peruanischen Lima geborene und jetzt in Kalifornien lebende Autorin gleich zu Beginn mehrmals. Gefragt, woher sie komme, sagt sie heute meistens, sie sei Amerikanerin, weil dieses Wort ja eigentlich den Süden wie den Norden des Kontinents umfaßt, ihr Geburtsland Chile ebenso wie das Land ihres derzeitigen Ehemannes und ihrer Kinder, die Vereinigten Staaten, einschließt.
Als Schriftstellerin wurde Isabel Allende bekannt, als sie sich auf Arbeitssuche im spanischen Exil befand und 1983 als eine verschüchtert wirkende junge Frau im Internationalen Presseklub in Madrid ihren ersten Roman "Das Geisterhaus" vorstellte. Der Roman wurde schnell zu einem Welterfolg, doch Arbeit als Journalistin fand Isabel Allende in Spanien damals nicht. In Chile war sie bis zu dem Putsch des Generals Pinochet, der ihren Onkel, den Präsidenten Salvador Allende, in den Tod schickte und dem Land eine lange Diktatur bescherte, eine erfolgreiche Journalistin, vor allem als Autorin von Fernsehdokumentationen und politisch-sozialen Reportagen für Zeitschriften.
Von Madrid aus ging Isabel Allende nach Venezuela und recherchierte von dort aus für ihren zweiten Roman, "Von Liebe und Schatten", der in seinen besten Teilen eine zeitgeschichtliche Reportage ist; er handelt von der Aufdeckung der Massengräber der von Pinochets Putschisten ermordeten Demokraten, den damals wieder verfolgten Emigranten aus dem Spanischen Bürgerkrieg, von sehr bösen und überaus guten Menschen. Die Schwarzweißmalerei in den Charakteren und eine oft übersteigerte Sentimentalität hat die Kritik den späteren, ebenfalls sehr erfolgreichen Romanen immer vorgehalten.
"Mein erfundenes Land" nennt Isabel Allende ihr Buch über Chile - erfunden, weil sie lange Zeit hindurch die Ereignisse ihres Lebens in Chile verdrängt hatte und sich jetzt in ihrem Gedächtnis das Land neu erfinden muß. Das terroristische Attentat auf die Zwillingstürme am 11. September 2001 ließ sie sich dem Land ihres Mannes, den Vereinigten Staaten, näher fühlen. Doch erinnert sie wie auch andere chilenische Schriftsteller, so Ariel Dorfman, dieser Tag an einen anderen Dienstag, den 11. September: den im Jahre 1973, als in Chile die Militärs mit Unterstützung des nordamerikanischen Geheimdienstes CIA putschten und "in einem ebenfalls terroristischen Akt" der chilenischen Demokratie ein Ende setzten. Eine "grausige Koinzidenz" sieht sie in diesen beiden Dienstagen und 11.-September-Tagen, die beide in ihrem Leben zu Wendepunkten wurden. Isabel Allende schreibt in dem Buch über ihre Familie; einige der teilweise recht extravaganten Mitglieder dieser ihrer mütterlichen Familie sind zu Figuren ihrer Romane geworden. Sie schreibt aber auch über ihr langgestrecktes Land, in dem sich auf viertausend Kilometer Länge und nur hundertvierzig Kilometer Breite fast alle Klimazonen der Erde finden. Sie versucht, viele der in ihrem Land verbreiteten Verhaltensweisen aus der Herkunft der Bewohner zu erklären: Das sind vorwiegend Spanier, die "kastilisch-baskische Oberschicht" etwa, die wenigen Indianer im Süden, aber auch Deutsche, die einst nach der gescheiterten Revolution von 1848 aus Süddeutschland nach Chile kamen und sich dort um Valdivia und Osorno herum niederließen, dabei viele ihrer Lebensgewohnheiten und Bräuche bewahrten. Die Nachkommen der ehemaligen schwäbischen und badischen Revolutionäre sind heute extrem konservativ. Die von ihnen bewohnte Region war die einzige, welche bei dem Referendum 1988 mehrheitlich für Pinochet stimmte. Die frühere Colonia Dignidad, von der Isabel Allende auf Seite 51 sagt, sie bestehe noch, gibt es inzwischen nicht mehr. Das hätte man bei der im übrigen sehr korrekten, drei Jahre nach dem spanischen Original erschienenen deutschen Übersetzung berücksichtigen können. Die ehemaligen Verantwortlichen des deutschen Mustergutes, das von Pinochets politischer Polizei als Folterzentrum genutzt wurde, sind inzwischen gefangen oder geflohen.
Der zweite Teil handelt auch von der jüngsten Geschichte Chiles. Da ist nichts mehr erfunden. Isabel Allende gibt eine um Objektivität bemühte Darstellung der Regierungszeit ihres Onkels, des Putsches und der Diktatur Pinochets. Neben den idealistischen Zielsetzungen der Volksfrontregierung (1969 bis 1973) werden deren Irrtümer, vor allem in der Organisation des Landes, erwähnt, aber auch die von Washington unterstützten Sabotageakte und Boykottversuche der reichen Oberschicht. Über Chiles fast undurchlässiges Klassensystem schreibt Allende das, was viele Kenner des Landes wissen, was sich aber viele Chilenen - auch fast alle der aus der Oberschicht kommenden Politiker - nicht eingestehen wollen. In Chile sind die Klassenunterschiede größer als in fast allen anderen Ländern Lateinamerikas; nicht, weil es in Chile mehr Arme gäbe, vielmehr, weil die Reichen dort reicher als anderswo sind.
Im letzten Kapitel erzählt Isabel Allende wieder vorwiegend von sich selbst: von ihrer schwierigen Eingewöhnung in das Leben im venezolanischen Exil, dem Zerbrechen ihrer ersten Ehe, dem Tod der Tochter Paula, der sie in eine schwere Depression stürzt, und ihrer Heilung durch das Schreiben neuer Bücher und das Auffinden ihres zweiten Ehemannes, den ihr einst ihre Großmutter als "Mann ihres Lebens" prophezeit hatte.
Man kann das locker geschriebene Buch als eine Einführung in die Kenntnis des Landes Chile und seiner Menschen lesen; die vielen Freunde der Romane Isabel Allendes werden sich freuen, in "Mein erfundenes Land" viel über die Autorin selber zu erfahren.
Isabel Allende, die sich zur Zeit in Deutschland aufhält, hat sich danach weiterhin mit Chile beschäftigt. Ihr gerade erschienenes Buch "Inés del alma mía" handelt von einer historischen Frauengestalt, der aus der spanischen Extremadura kommenden Näherin Inés Suárez, die dann die Geliebte des Entdeckers Chiles, Pedro de Valdivia, wurde und Santiago de la Nueva Extremadura, das heutige Santiago de Chile, gründete.
WALTER HAUBRICH
Isabel Allende: "Mein erfundenes Land". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 205 S., geb., 16,80 .
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