Arthur Daane, ein Niederländer in Berlin, streift mit der Filmkamera durch die verschneite Großstadt, auf der Suche nach Bildern für seinen Film. Aber dann lernt er die junge Elik kennen, eine Frau mit Geheimnissen, der er folgt - bis nach Madrid, bis zum Ende.
»Ein großer und ausgeruhter, ein europäischer und kosmopolitischer Roman.« Ulrich Greiner, Die Zeit
»Ein großer und ausgeruhter, ein europäischer und kosmopolitischer Roman.« Ulrich Greiner, Die Zeit
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.1999Und wir? Ach, wir
Cees Nootebooms Berlin-Dämmerung / Von Thomas Poiss
Der niederländische Dokumentarfilmer Arthur Daane durchstreift in Cees Nootebooms Roman "Allerseelen" die Stadt Berlin, wo er auf Aufträge wartet und mit seiner Kamera Notizen macht. Daane hat reichlich Zeit, die Baugruben am Potsdamer Platz und U-Bahn-Aufgänge zu filmen. An die Welt binden ihn ein Anrufbeantworter und eine Telefonfreundin in Amsterdam, dazu eine kleine Tafelrunde in Berlins "Pfälzischer Weinstube" und eine Fotografie auf seinem Schreibtisch. Von dieser blicken Roelfje und Thomas in Daanes Leben: seine Frau und sein vierjähriger Sohn, die vor zehn Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sind. Sie sind der Grund für Daanes "ständige Abwesenheit", für die beinahe gedächtnislose "Durchsichtigkeit", die die Welt durch ihn hindurchstürzen läßt wie durch seine Kamera. An diese "Freiheit, die ihn so von den anderen isolierte", rührt plötzlich eine Frauenhand. Beim Griff nach der Zeitung "El País" in einem Café kommt sie eine Sekunde zu spät; als Daane den Blick hebt und die Zeitung anbietet, blickt er auf die wütende Maske eines drahthaarigen "Berberkopfes" und eine Narbe auf der Wange, ehe die Unbekannte trotzig mit "Le Monde" abzieht. Doch von da an entgleitet Daane den Riten seiner Berliner Welt. Er erkennt die junge Frau beim Filmen einer U-Bahn-Station wieder, folgt ihr in die Staatsbibliothek und lädt sie zu einem Ausflug zur Pfaueninsel, zur Glienicker Brücke und ins Dorf Lübars ein.
Dort, im Norden Berlins, läßt sie ihn sitzen, was zu einer durchzechten Nacht und einem durchsuchten Tag führt, an dessen Ende Elik Oranje, so heißt die Fremde, Daane an der Schwelle zu seiner Wohnung erwartet. Ihre Hand, die sie ihm wenig später gegen die Brust drückt, bestimmt alles weitere Geschehen. Die sinnlichen Begegnungen der beiden dauern nur kurz, die Tage und Wochen dazwischen werden ausgefüllt durch Filmaufträge, Geschichtsreflexionen bei deutscher Hausmannskost und Gespräche mit Elik, die ihr Leben andeutet. Geboren als Tochter einer Niederländerin und eines Unbekannten, wird sie von einem der Freunde ihrer Mutter als Kind im Gesicht verletzt und schließlich von ihrer holländischen Großmutter aufgezogen. Geblieben ist der Wille, allein zu sein. Sie widmet sich ganz einer Dissertation über Urraca, eine Königin von León-Kastilien im zwölften Jahrhundert. Sie, die gegen ihren eigenen Mann, Alonso von Aragón, Krieg führte, wird zum mythischen Muster im Hintergrund der Geschichte mit dem Kameramann, zu dem sie geht, wann sie will. Immer ist sie es, die zu seiner Wohnung kommt, nur einmal holt sie ihn in der Weinstube aus der Runde der Freunde ab und nimmt ihn mit zu sich, in ein Souterrain-Zimmer irgendwo am Prenzlauer Berg, knapp hinter dem ehemaligen Todesstreifen.
In dieser verstörenden Nacht berührt Daane die Narbe und zerbricht, was in diesem Buch Liebe heißt. Er erwacht allein in dem fremden Zimmer und fährt ohne Abschied für einen Film nach Japan; sie kann sich nicht verzeihen, was sie altmodisch "Hingabe" nennt, und verschwindet nach Spanien zu Archivstudien, nicht ohne vorher eine Spur gelegt zu haben. Daane reist ihr nach, und so kommt es zu einer Aussprache in Madrid: "Während du in Japan warst, war ich schwanger." Das Imperfekt dieses Satzes löscht nicht nur ein Leben. Elik stößt Daane mit solcher Wut und Wucht aus ihrer autonomen Existenz, daß er benommen und bald auch betrunken durch die Madrider Nacht stolpert. Idiotischerweise hat er seine Kamera mitgeschleppt und wird bei einem Raubüberfall fast totgeschlagen. Nach der Genesung zögert Daane, ob er seine "Todesbotin" suchen soll, um sich in der letzten Sequenz des Buches doch für die Heimfahrt unter den "hohen Himmel des Nordens" zu entscheiden.
Hält man auf dieser Stufe inne, so drängen sich die Mängel von selbst auf. Zwar inszeniert Nooteboom präzise und ökonomisch die Erfahrungen seines Berlin-Aufenthaltes im Jahr der Wende, dem die "Berliner Notizen" (1990/1991) entsprangen, doch Figuren wie die Teilnehmer der Tafelrunde bleiben flach. Vom Intellektuellen Arno erfährt man, daß er struppige Haare und eine dicke Brille hat, Zenobia als typische Russin trinkt und heult ("cheult") gern, der Bildhauer Victor ist ein "einfacher pessimistischer Bildhauer". Es sind Masken, deren Gesprächsbeiträge durch Lebensgeschichten kaum individualisiert werden, so daß die Dialoge des Quartetts einem gehobenen Stammtisch ähneln: Von prähistorischen Funden und Hildegard von Bingen über Hegel und Nietzsche zum Handkäse, zur Voyager-Raumsonde und deutscher Geschichte erstreckt sich das Meinen und Bescheidwissen. Auch Elik bleibt eine Frau ohne Duft, reduziert auf die Narbe und ihren Willen.
Hat Nooteboom die Risiken der Mimesis unterschätzt, die die Darstellung moderner Zusammenhanglosigkeit an das Dargestellte fesselt? Oder beruht der Eindruck des Mangels auf einer mißverständlichen ästhetischen Entscheidung, die auch eine andere Lesart zulassen könnte? Der Respekt vor Nooteboom als Meister reflexiver Erzählstrukturen und körperhafter Beschreibungen mahnt zu einer zweiten Lektüre. Der Effekt, daß die Welt dieses Romans hinter Glas zu liegen scheint, resultiert aus der beschränkten Bewußtseinslage Daanes: "Der Filmer befindet sich in absentia", spotten seine Freunde. Daß der in der dritten Person erzählte Roman mit Daanes Augen zu sehen ist, beweist das Madrider Nachtstück, das durch Synkopen und Sprünge zwischen den Sätzen den Zustand des in sein Verderben Taumelnden abbildet. Daane steht nicht nur im Dialog mit der Fotografie seiner toten Familie, sondern bewegt sich in der Grauzone zwischen Leben und Tod.
Alle Stufen führen für ihn nach unten: die in Eliks Zimmer, die in die U-Bahn, die in die Kathedrale von Sigüenza auf dem Weg nach Madrid. Auch seine Filmnotizen verfolgen einen düsteren Traum: "Irgendwann würde er in der Lage sein, Dämmerlicht zu filmen wie kein zweiter", denn was sich da am Übergang zum Dunkel zeigte, wäre der Vorschein des Jenseits. Ihr, der "Ungerührtheit der Welt", hat sich Daane verschrieben wie Elik der Suche nach der Königin Urraca, die sie durch eine "Liebestat" dem Vergessen entreißen möchte. Die geschlossenen, obsessiven Einzelwelten, an deren Kontakt die Liebenden beinahe zugrunde gehen, haben dieselbe Tendenz: den Strom des Verschwindens für Bruchteile von Zeit anzuhalten.
Machtlosen Einspruch dagegen erhebt ein "Chor", der in der ersten Person Plural das Geschehen kommentiert, die perspektivischen "Beschränkungen" der Figuren ausgleicht und die Fäden der Handlung ordnet. Der Chor, dieses unheimliche "Wir", das sind in diesem Buch die Toten. Während die Figuren des Romans sich lieber die Zunge abbissen, als das Wort Seele zu gebrauchen, erheben sich die Gestorbenen bei Nooteboom zu einer Präsenz, wie sie im katholischen Fest Allerseelen angelegt ist, das Arthur Daane gegen Ende des Romans erklären muß: Ein Bild, das Menschen und Lichter auf einem Friedhof zeigt, wäre seiner Telefonfreundin alleine nicht mehr lesbar.
Der Kunstgriff, die Welt zugleich aus der Sicht der Toten zu betrachten, ist erfreulich unmodern, offenbart aber auch technische Defizite des Romans. Ein Buch, das Funktionen des auktorialen Erzählers dem Jenseits überträgt, vermag seinen Stoff im Diesseits nicht hinreichend zu organisieren. Das spurlose Verschwinden des Künstlers in seinem Werk, das Nooteboom aus der japanischen Tradition als Ideal übernommen hat, gelingt so jedenfalls nicht. Oder sollte dies in der Schlußwendung angedeutet sein? Der Chor beschließt den Roman mit den Worten: "Und wir? Ach wir . . ." Mit diesem Seufzer wird das Konstrukt eines bloß zuschauenden Chores aufgegeben und die Grenze zwischen Lebenden und Toten, zwischen Autor, Figur und Leser aufgehoben: Erst für denjenigen, der die Gemeinschaft der Lebenden und Toten akzeptiert, erhält das Leben Tiefe und Glanz - und sei es der Zelluloid-Glanz der Filmnotizen, für die Arthur Daane beinahe sein Leben verloren hätte.
Wem das aber zu metaphysisch oder zu kitschig ist, der lese das Buch als die Geschichte einer Liebe in Berlin, die nichts erklärt und nicht erklärt zu werden braucht. Nooteboom hat dazu selbst vor Jahren im "Selbstporträt eines Anderen" den Schlüssel bereitgelegt: "Von allen Formen der Liebe ist die zwischen Unbekannten die rätselhafteste und die überzeugendste. Sie geben einander die Stadt zurück, in der sie verschwinden müssen."
Cees Nooteboom: "Allerseelen". Roman. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 440 S., geb., 48,- DM.
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Cees Nootebooms Berlin-Dämmerung / Von Thomas Poiss
Der niederländische Dokumentarfilmer Arthur Daane durchstreift in Cees Nootebooms Roman "Allerseelen" die Stadt Berlin, wo er auf Aufträge wartet und mit seiner Kamera Notizen macht. Daane hat reichlich Zeit, die Baugruben am Potsdamer Platz und U-Bahn-Aufgänge zu filmen. An die Welt binden ihn ein Anrufbeantworter und eine Telefonfreundin in Amsterdam, dazu eine kleine Tafelrunde in Berlins "Pfälzischer Weinstube" und eine Fotografie auf seinem Schreibtisch. Von dieser blicken Roelfje und Thomas in Daanes Leben: seine Frau und sein vierjähriger Sohn, die vor zehn Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sind. Sie sind der Grund für Daanes "ständige Abwesenheit", für die beinahe gedächtnislose "Durchsichtigkeit", die die Welt durch ihn hindurchstürzen läßt wie durch seine Kamera. An diese "Freiheit, die ihn so von den anderen isolierte", rührt plötzlich eine Frauenhand. Beim Griff nach der Zeitung "El País" in einem Café kommt sie eine Sekunde zu spät; als Daane den Blick hebt und die Zeitung anbietet, blickt er auf die wütende Maske eines drahthaarigen "Berberkopfes" und eine Narbe auf der Wange, ehe die Unbekannte trotzig mit "Le Monde" abzieht. Doch von da an entgleitet Daane den Riten seiner Berliner Welt. Er erkennt die junge Frau beim Filmen einer U-Bahn-Station wieder, folgt ihr in die Staatsbibliothek und lädt sie zu einem Ausflug zur Pfaueninsel, zur Glienicker Brücke und ins Dorf Lübars ein.
Dort, im Norden Berlins, läßt sie ihn sitzen, was zu einer durchzechten Nacht und einem durchsuchten Tag führt, an dessen Ende Elik Oranje, so heißt die Fremde, Daane an der Schwelle zu seiner Wohnung erwartet. Ihre Hand, die sie ihm wenig später gegen die Brust drückt, bestimmt alles weitere Geschehen. Die sinnlichen Begegnungen der beiden dauern nur kurz, die Tage und Wochen dazwischen werden ausgefüllt durch Filmaufträge, Geschichtsreflexionen bei deutscher Hausmannskost und Gespräche mit Elik, die ihr Leben andeutet. Geboren als Tochter einer Niederländerin und eines Unbekannten, wird sie von einem der Freunde ihrer Mutter als Kind im Gesicht verletzt und schließlich von ihrer holländischen Großmutter aufgezogen. Geblieben ist der Wille, allein zu sein. Sie widmet sich ganz einer Dissertation über Urraca, eine Königin von León-Kastilien im zwölften Jahrhundert. Sie, die gegen ihren eigenen Mann, Alonso von Aragón, Krieg führte, wird zum mythischen Muster im Hintergrund der Geschichte mit dem Kameramann, zu dem sie geht, wann sie will. Immer ist sie es, die zu seiner Wohnung kommt, nur einmal holt sie ihn in der Weinstube aus der Runde der Freunde ab und nimmt ihn mit zu sich, in ein Souterrain-Zimmer irgendwo am Prenzlauer Berg, knapp hinter dem ehemaligen Todesstreifen.
In dieser verstörenden Nacht berührt Daane die Narbe und zerbricht, was in diesem Buch Liebe heißt. Er erwacht allein in dem fremden Zimmer und fährt ohne Abschied für einen Film nach Japan; sie kann sich nicht verzeihen, was sie altmodisch "Hingabe" nennt, und verschwindet nach Spanien zu Archivstudien, nicht ohne vorher eine Spur gelegt zu haben. Daane reist ihr nach, und so kommt es zu einer Aussprache in Madrid: "Während du in Japan warst, war ich schwanger." Das Imperfekt dieses Satzes löscht nicht nur ein Leben. Elik stößt Daane mit solcher Wut und Wucht aus ihrer autonomen Existenz, daß er benommen und bald auch betrunken durch die Madrider Nacht stolpert. Idiotischerweise hat er seine Kamera mitgeschleppt und wird bei einem Raubüberfall fast totgeschlagen. Nach der Genesung zögert Daane, ob er seine "Todesbotin" suchen soll, um sich in der letzten Sequenz des Buches doch für die Heimfahrt unter den "hohen Himmel des Nordens" zu entscheiden.
Hält man auf dieser Stufe inne, so drängen sich die Mängel von selbst auf. Zwar inszeniert Nooteboom präzise und ökonomisch die Erfahrungen seines Berlin-Aufenthaltes im Jahr der Wende, dem die "Berliner Notizen" (1990/1991) entsprangen, doch Figuren wie die Teilnehmer der Tafelrunde bleiben flach. Vom Intellektuellen Arno erfährt man, daß er struppige Haare und eine dicke Brille hat, Zenobia als typische Russin trinkt und heult ("cheult") gern, der Bildhauer Victor ist ein "einfacher pessimistischer Bildhauer". Es sind Masken, deren Gesprächsbeiträge durch Lebensgeschichten kaum individualisiert werden, so daß die Dialoge des Quartetts einem gehobenen Stammtisch ähneln: Von prähistorischen Funden und Hildegard von Bingen über Hegel und Nietzsche zum Handkäse, zur Voyager-Raumsonde und deutscher Geschichte erstreckt sich das Meinen und Bescheidwissen. Auch Elik bleibt eine Frau ohne Duft, reduziert auf die Narbe und ihren Willen.
Hat Nooteboom die Risiken der Mimesis unterschätzt, die die Darstellung moderner Zusammenhanglosigkeit an das Dargestellte fesselt? Oder beruht der Eindruck des Mangels auf einer mißverständlichen ästhetischen Entscheidung, die auch eine andere Lesart zulassen könnte? Der Respekt vor Nooteboom als Meister reflexiver Erzählstrukturen und körperhafter Beschreibungen mahnt zu einer zweiten Lektüre. Der Effekt, daß die Welt dieses Romans hinter Glas zu liegen scheint, resultiert aus der beschränkten Bewußtseinslage Daanes: "Der Filmer befindet sich in absentia", spotten seine Freunde. Daß der in der dritten Person erzählte Roman mit Daanes Augen zu sehen ist, beweist das Madrider Nachtstück, das durch Synkopen und Sprünge zwischen den Sätzen den Zustand des in sein Verderben Taumelnden abbildet. Daane steht nicht nur im Dialog mit der Fotografie seiner toten Familie, sondern bewegt sich in der Grauzone zwischen Leben und Tod.
Alle Stufen führen für ihn nach unten: die in Eliks Zimmer, die in die U-Bahn, die in die Kathedrale von Sigüenza auf dem Weg nach Madrid. Auch seine Filmnotizen verfolgen einen düsteren Traum: "Irgendwann würde er in der Lage sein, Dämmerlicht zu filmen wie kein zweiter", denn was sich da am Übergang zum Dunkel zeigte, wäre der Vorschein des Jenseits. Ihr, der "Ungerührtheit der Welt", hat sich Daane verschrieben wie Elik der Suche nach der Königin Urraca, die sie durch eine "Liebestat" dem Vergessen entreißen möchte. Die geschlossenen, obsessiven Einzelwelten, an deren Kontakt die Liebenden beinahe zugrunde gehen, haben dieselbe Tendenz: den Strom des Verschwindens für Bruchteile von Zeit anzuhalten.
Machtlosen Einspruch dagegen erhebt ein "Chor", der in der ersten Person Plural das Geschehen kommentiert, die perspektivischen "Beschränkungen" der Figuren ausgleicht und die Fäden der Handlung ordnet. Der Chor, dieses unheimliche "Wir", das sind in diesem Buch die Toten. Während die Figuren des Romans sich lieber die Zunge abbissen, als das Wort Seele zu gebrauchen, erheben sich die Gestorbenen bei Nooteboom zu einer Präsenz, wie sie im katholischen Fest Allerseelen angelegt ist, das Arthur Daane gegen Ende des Romans erklären muß: Ein Bild, das Menschen und Lichter auf einem Friedhof zeigt, wäre seiner Telefonfreundin alleine nicht mehr lesbar.
Der Kunstgriff, die Welt zugleich aus der Sicht der Toten zu betrachten, ist erfreulich unmodern, offenbart aber auch technische Defizite des Romans. Ein Buch, das Funktionen des auktorialen Erzählers dem Jenseits überträgt, vermag seinen Stoff im Diesseits nicht hinreichend zu organisieren. Das spurlose Verschwinden des Künstlers in seinem Werk, das Nooteboom aus der japanischen Tradition als Ideal übernommen hat, gelingt so jedenfalls nicht. Oder sollte dies in der Schlußwendung angedeutet sein? Der Chor beschließt den Roman mit den Worten: "Und wir? Ach wir . . ." Mit diesem Seufzer wird das Konstrukt eines bloß zuschauenden Chores aufgegeben und die Grenze zwischen Lebenden und Toten, zwischen Autor, Figur und Leser aufgehoben: Erst für denjenigen, der die Gemeinschaft der Lebenden und Toten akzeptiert, erhält das Leben Tiefe und Glanz - und sei es der Zelluloid-Glanz der Filmnotizen, für die Arthur Daane beinahe sein Leben verloren hätte.
Wem das aber zu metaphysisch oder zu kitschig ist, der lese das Buch als die Geschichte einer Liebe in Berlin, die nichts erklärt und nicht erklärt zu werden braucht. Nooteboom hat dazu selbst vor Jahren im "Selbstporträt eines Anderen" den Schlüssel bereitgelegt: "Von allen Formen der Liebe ist die zwischen Unbekannten die rätselhafteste und die überzeugendste. Sie geben einander die Stadt zurück, in der sie verschwinden müssen."
Cees Nooteboom: "Allerseelen". Roman. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 440 S., geb., 48,- DM.
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